3.

Kiinas Quartier lag auf dem gleichen Korridor wie das Skars, aber an seinem entgegengesetzten Ende, und zwischen ihm und Skars Zimmer befanden sich nicht weniger als drei massive Wände aus Metall, die zwar lautlos auseinanderglitten, wenn Ennart sich ihnen näherte, in Skar aber jeden Gedanken an einen gewaltsamen Ausbruchsversuch zunichte machten. Sie waren weiter allein. Vorhin, als er aus dem Fenster geblickt hatte, hatte er gesehen, daß der Turm vor Leben schier überquoll; auf dem rechteckigen Hof bewegten sich Hunderte von Menschen und Quorrl und Tieren. Aber hier oben herrschte eine gespenstische Stille. Es verwunderte ihn ein wenig, daß ein Mann wie Ennart keine Leibwache hatte, bis er sich ins Gedächtnis zurückrief, daß der Ssirhaa nicht nur mächtig, sondern auch ungeheuer stark war. Und augenscheinlich so gut wie unverletzlich. Die Wunde, die Skar selbst ihm am vergangenen Abend beigebracht hatte, war nicht nur geheilt, sondern so spurlos verschwunden, als hätte es sie niemals gegeben.

Kiina schlief, als sie das Zimmer betraten, das so groß und hell war wie das Skars, aber nicht so leer. Neben Kiinas Bett stand eine verwirrende Anordnung sonderbarer Gerätschaften und Dinge, deren bloßer Anblick Skar einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ; gefährlich aussehende Dinge, von deren Seiten sich dünne gerippte Schläuche wie Schlangen aus Metall unter Kiinas Decke wanden. Einige endeten in dünnen Nadeln, die tief in ihr Fleisch gestochen worden waren.

Das Mädchen war nicht allein. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann stand halb über sie gebeugt da, als sie eintraten. Die Tür hatte sich lautlos geöffnet, aber er schien ihr Eintreten zu spüren, denn er drehte sich mit einem Ruck um.

Es war Ian. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Ehrfurcht beim Anblick des Ssirhaa, aber auch Schrecken und dann purer Haß, als er Skar erkannte. Trotzdem sagte er kein Wort, sondern trat nur mit einem demütigen Senken des Hauptes zurück und machte Ennart Platz.

»Wie geht es ihr?« fragte der Ssirhaa, während Skar rasch auf die andere Seite der schmalen Liege eilte und neben ihr niederkniete. Er hörte Ians Antwort nicht, sondern starrte nur Kiina an. Ihr Anblick war ein Schock für ihn. Er hatte gewußt, daß sie krank war, aber jetzt sah sie aus wie eine Tote. Ihr Gesicht war grau und von Geschwüren und kleinen nässenden Wunden entstellt, die Lippen gerissen und voller Eiter. Mehr als alles andere erinnerte ihr Anblick ihn an den der sterbenden Margoi. Er streckte die Hand nach ihr aus, wagte es aber nicht, sie zu berühren. Er hatte Angst, sie aufzuwecken.

»Sie wird leben.«

Es dauerte einen Moment, bis Skar registrierte, daß Ians Worte nicht mehr dem Ssirhaa galten, sondern ihm. Mit einem Ruck sah er auf und starrte den Zauberpriester an. Ians Augen flammten noch immer vor Zorn, aber Skar spürte auch, daß er die Wahrheit sagte. Er würde es nicht wagen, ihn im Beisein Ennarts zu belügen.

»So?« fragte er bitter. Er machte eine Handbewegung auf Kiinas zerstörtes Gesicht und das Gewirr aus metallenen Schläuchen und Nadeln.

»Nicht so.« Ian schüttelte den Kopf und machte eine flatternde Handbewegung auf die Ansammlung erschreckender Geräte und Apparaturen neben Kiinas Lager. »Das alles ist nötig, um ihr Leben zu retten. Und es wird auch nötig sein, um dein Leben zu retten.« Er wiederholte seine unwillige Geste, als Skar den linken Arm mit dem blitzenden Silberband hob.

»Das ist nur ein Provisorium«, sagte er. »Es hält das Gift auf, aber es entfernt es nicht aus deinem Körper. Ihr seid spät gekommen. Fast zu spät. Aber wir können euch retten. Das Mädchen wird wieder so gesund, wie es war. Und so schön.« Er versuchte zu lächeln, aber der Haß in seinem Blick machte eine Grimasse daraus. »Wer ist sie?« fragte er. »Deine Geliebte? Oder deine Tochter?«

»Keines von beidem«, antwortete Skar. »Einfach nur ein Mädchen, das mir sein Leben anvertraut hat.«

»Dann gib ihm einen guten Rat, wenn es erwacht«, sagte Ian böse. »Wenn es so etwas das nächste Mal tut, soll es sich den Mann vorher genauer ansehen.«

»Ian!« Ennarts Stimme war scharf, und der Zauberpriester fuhr wie unter einem Hieb zusammen. Unsicher sah er zu dem Ssirhaa auf.

»Verzeiht, Herr.« Er seufzte, biß sich auf die Lippen und wandte sich mit einer fragenden Geste wieder zu Kiina um. »Soll ich sie aufwecken? Wenn du mit ihr sprechen möchtest...« Skar schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, daß Kiina sich so sah. »Dann wird Titch dich jetzt in dein Zimmer zurückbringen«, bestimmte Ennart. »Ich muß dich um etwas Geduld bitten.« Er wandte sich an Ian. »Wie lange wird es dauern, bis die Maschinen frei sind?«

Ian überlegte. »Zwei Tage«, sagte er nach einer Weile. »Vielleicht auch drei.«

Ennart nickte. »Du hast es gehört«, fuhr er fort, wieder an Skar gewandt. Er deutete auf Skars Armband. »Bis dahin wirst du damit Vorlieb nehmen müssen. Aber du brauchst keine Furcht zu haben. Es schützt dich.«

Angst? Skar hätte fast gelacht. Es war leicht, aus Ennarts und Ians Worten zu schließen, daß er der nächste sein würde, der auf diesem Bett lag und an diese entsetzlichen Maschinen angeschlossen sein würde. Wenn er Angst hatte, dann davor, nicht vor dem Gift in seinem Blut. Kiinas Anblick erinnerte ihn an das Opfer einer Spinne, das sich in einem gigantischen silbernen Netz verfangen hatte. Er schauderte.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten«, sagte Ennart. »Ich weiß, daß es dir wie Zauberei vorkommen muß, oder wie Schwarze Magie. Aber es ist nichts von beidem. Ian ist der beste Arzt, den es gibt. Vielleicht auf ganz Enwor.«

»Er haßt mich«, sagte Skar. Er blickte weder Ennart noch Ian an, aber er sah aus den Augenwinkeln, wie der Zauberpriester bei seinen Worten zusammenfuhr und Ennart rasch und besänftigend die Hand hob.

»Du hast seinen Bruder getötet.«

Jetzt sah Skar doch auf. Ians Augen waren wie schwarze Flammen, die ihn verbrennen wollten. Der Gedanke, diesem Mann sein Leben anzuvertrauen, war schlichtweg absurd. »Brol war dein Bruder?«

»Er ist unter meinen Händen verblutet«, sagte Ian.

»Das tut mir leid.«

»So?« Ian machte ein abfälliges Geräusch. »Das braucht es nicht. Und du brauchst auch keine Angst zu haben, daß ich mich an dir räche. Nicht jetzt.«

Ennart unterbrach ihre Unterhaltung, ehe sie vollends zum Streit geraten konnte, indem er Skar abermals mit einer Geste aufforderte, den Raum zu verlassen. Skar gehorchte, wenn auch erst nach kurzem Zögern. Er fürchtete Ian nicht, aber er war sich darüber im klaren, daß seine letzten beiden Worte ein Versprechen gewesen waren, das er irgendwann einmal einlösen würde. Und er war ein Feind, den er nicht unterschätzen durfte. Sie verließen den Raum. Ennart begleitete sie ein Stück weit den Korridor hinab, dann trat er in eine jener sonderbaren beweglichen Kammern, und Skar ging allein mit Titch weiter. Auch der Quorrl wollte sich umwenden und ihn allein lassen, als er sein Quartier erreicht hatte, aber Skar rief ihn noch einmal zurück.

»Hast du alles gehört?« fragte er.

Titch nickte. Sein Gesicht war wie eine Maske ohne Leben. Er sah Skar nicht an. »Ich war dabei.«

Skar machte eine unwillige Handbewegung. »Das meine ich nicht. Ich rede von unserem Gespräch hier. Du hast gehört, was Ennart gesagt hat?«

Skar wußte, daß es so war. Der Quorrl hatte draußen auf dem Gang gewartet, aber die Tür war offen gewesen, und sie hatten nicht leise gesprochen. Er mußte jedes Wort verstanden haben. Trotzdem vergingen Sekunden, ehe er nickte.

»Es hat wohl nicht viel Sinn, wenn ich dich frage, auf welcher Seite du stehst«, vermutete Skar.

Er hatte kaum damit gerechnet, daß Titch überhaupt antworten würde, aber er tat es, mit leiser, bitterer Stimme, in der Qual und unendliche Verzweiflung mitschwangen. »Sie sind unsere Götter, Skar.«

»Götter?« Skar lachte leise. »Wenn du alles verstanden hast, dann hast du doch auch gehört, was er über euch denkt. Tiere. Mehr seid ihr nicht für ihn.«

»Wie für euch?«

»Unsinn«, widersprach Skar. »Du bist -«

»Ich rede nicht davon, was ich bin«, unterbrach ihn Titch. »Vielleicht machst du es dir zu einfach. Du redest von mir, und du redest von den Quorrl, aber du meinst nicht dasselbe.«

»Du bist längst kein Quorrl mehr, Titch«, sagte Skar. »Du ...«

»Doch, das bin ich!« Titch schrie plötzlich. »Ich war es immer, und ich werde es immer sein, Satai! Du machst es dir leicht. Du machst mich zum Menschen, damit du nicht zugeben mußt, daß wir nicht die primitiven Bestien sind, als die ihr uns so gerne bezeichnet. Für dich bin ich kein Quorrl, das stimmt. Aber nur, damit du die Wahrheit nicht eingestehen mußt.«

Skar starrte ihn an. Er war... erschüttert. Er begriff plötzlich, daß Titch mit jedem Wort recht hatte.

»Vielleicht ist es so, wie Ennart gesagt hat«, fuhr Titch fort. »Ja, wir sind Tiere! Dinge, die man benutzen kann, wie man will. Und? Sie haben uns erschaffen, Skar!«

»Aber das gibt ihnen nicht das Recht -«

»Es gibt ihnen jedes Recht«, fauchte Titch. »Sie sind unsere Schöpfer, begreifst du das nicht? Unsere Götter! Habt ihr Götter, Satai?«

»Natürlich«, antwortete Skar automatisch.

»Nein«, widersprach Titch. »Das habt ihr nicht. Ihr glaubt, sie zu haben. Ihr blickt in den Himmel und bevölkert ihn mit Wesen, die eurer Einbildung entspringen. Ihr habt euch eure Götter erdacht, Mensch. Unsere Götter sind wirklich. Ennart ist einer von ihnen.«

»Aber er ist wahnsinnig!« sagte Skar. »Er wird Enwor vernichten!«

»Er wird die Welt vernichten, die ihr erschaffen habt, ja«, antwortete Titch ungerührt. »Er hat das Recht dazu. Sie gehört ihm.«

»Das Recht? Das Recht, unsere beiden Völker auszulöschen?«

»Wenn er will, ja«, sagte Titch hart. »Aber er wird es nicht tun. Warum sollte er? Um über eine Welt der Toten zu herrschen? Über einen leeren Planeten? Du hast mich gefragt, ob ich zugehört habe, und das habe ich. Ich habe gehört, und ich habe verstanden. Jedes Wort, Skar. Die Zukunft gehört uns. Eure Zeit ist abgelaufen, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Vielleicht waren wir Tiere, und vielleicht sind wir es noch. Aber irgendwann einmal werden wir es sein, die das Schicksal dieser Welt bestimmen.«

Skar sagte nichts mehr. Aber er glaubte plötzlich noch einmal Trashs letzte Worte zu hören, so deutlich, als stünde der Quorrl hinter ihm und wiederholte sie. Sie sind wieder da!

Aber das war nicht alles, was er gesagt hatte. Er hatte noch etwas hinzugefügt, etwas, das er auch Titch nicht gesagt hatte, vielleicht nie mehr sagen würde, denn er spürte, daß es bereits zu spät dazu war. Sie sind wieder da, Satai. Und sie werden uns alle töten, erst uns und dann euch.

Загрузка...