Er verließ den winzigen Raum während der nächsten drei Tage nicht, und er bekam auch Titch und Kiina während dieser Zeit nicht zu Gesicht. Die nächsten achtundvierzig Stunden verbrachte er im Grunde mit nichts anderem als den zwei Tätigkeiten, in denen er in den letzten Wochen eine gewisse Übung erlangt hatte: Schmerzen und Fieber erleiden und gefangensein. Und langen, wenn auch manchmal recht mühsamen Gesprächen mit Scrat.
Die alte Quorrl erwies sich als überraschend redselig, aber auch fast ebenso neugierig. Für jede Frage, die er stellte, mußte er drei beantworten, und Scrats Wissensdurst schien unstillbar. Sie wollte alles über die Welt wissen, aus der er kam, und die Menschen, die in ihr lebten: Was sie taten, wie und warum. Es gab keine Antwort, mit der sie wirklich zufrieden gewesen wäre. Auf der anderen Seite erfuhr Skar eine Menge über Cron und das Leben auf seinem Gut. Nach seinem eigenen ersten Eindruck war er überrascht, welch hohe Meinung Scrat von diesem riesigen Quorrl hatte. Was er nicht erfuhr, war, was in Cant vor sich ging. Nicht, weil Scrat es ihm nicht sagen wollte, sondern weil sie es einfach nicht wußte. Wie es aussah, hatte mit Ausnahme Crons selbst und einer Handvoll seiner engsten Vertrauten niemand auf diesem Gut jemals eine Reise unternommen, die weiter als zehn Meilen gewesen wäre.
Erst am Morgen des dritten Tages sah er Titch wieder. Er schlief noch, und vor dem Schießscharten-Fenster war noch Nacht, als der Quorrl lautstark in sein Zimmer gepoltert kam und ihn wenig sanft an der Schulter rüttelte, bis er müde und widerwillig die Augen öffnete.
»Was...?!«
»Steh auf«, sagte Titch. »Rasch. Und nimm alles mit.«
In seiner Stimme war ein fast panischer Unterton, der Skar schlagartig vollends wach werden ließ. Ohne Zeit mit einer Frage zu verschwenden, stand er auf, sammelte seine Kleider ein und sah sich noch einmal aufmerksam um, ob er nichts vergessen hatte. Titch wartete reglos unter der Tür, aber es fiel ihm schwer, zu verbergen, wie ungeduldig er war. Etwas war passiert, dachte Skar. Der Quorrl hatte Angst.
Sie verließen die Hütte und überquerten den Hof, steuerten jedoch diesmal nicht Crons Wohnhaus an, sondern gingen in die entgegengesetzte Richtung, zu einem großen, würfelförmigen Gebäude, das als einziges hier auf dem Hof ganz aus Stein erbaut war und keine Fenster hatte. Auf halbem Wege begegnete ihnen eine Gruppe Quorrl, mit denen Titch einige hastige Worte in seiner Muttersprache wechselte. Skar verstand sie nicht, aber die Betonung und die raschen, nervösen Gesten, mit denen Titch sprach, verrieten ihm ihren Sinn sehr deutlich. »Krieger?« fragte er einfach, als sie weitergingen.
Titch warf einen hastigen Blick nach Norden, ehe er antwortete. »Ja. Aber sie kommen nicht unsertwegen.«
»Warum verstecken wir uns dann?«
Titch starrte ihn finster an. Seine Antwort bestand nur darin, daß er schneller ging, nicht aus einer Erklärung. Sie erreichten den würfelförmigen Bau. Titch hämmerte mehrmals lautstark mit der Faust gegen die Tür, und Skar konnte hören, wie drinnen ein schwerer Riegel zurückgezogen wurde. Metall klirrte, dann öffnete sich in der Tür ein schmaler Spalt aus gelbem Fackellicht, in dem die Silhouette eines riesenhaften Quorrl erschien. Skar wußte, daß sie Cron gegenüberstanden, obwohl er sein Gesicht nicht erkennen konnte, denn vor dem hellerleuchteten Hintergrund der Tür blieb der Quorrl ein flacher finsterer Schatten. Dicht hinter Titch huschte er ins Haus und blieb wieder stehen, während Cron die Tür schloß und sorgsam den Riegel vorlegte. Neugierig sah er sich um. Der Raum war groß - allerdings nicht so groß, daß er die ganze Breite des Gebäudes eingenommen hätte - und fensterlos. Auf dem Boden lag schmutziges Stroh, und es stank fürchterlich nach Fäulnis und Exkrementen. Aber es war kein Quorrl-Geruch...
Cron sagte ein einzelnes, herrisch klingendes Wort zu Titch und wandte sich um. Skar wollte ihm ganz instinktiv folgen, aber Titch hielt ihn mit einer groben Geste zurück. »Einen Augenblick, Satai.«
Skar sah den Quorrl verwirrt - aber auch ein bißchen alarmiert - an. Es kam selten vor, daß Titch ihn Satai nannte, und noch seltener war es etwas Angenehmes, was ihn zu dieser Wortwahl bewog.
Titchs Hand machte eine wedelnde Geste in die Richtung, in der Cron verschwunden war. »Du wirst etwas sehen, was kein Mensch sehen darf«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum Cron es tut. Vielleicht hat er vor, dich zu töten, hinterher. Vielleicht glaubt er uns auch, aber es spielt keine Rolle.«
»Worauf willst du hinaus?« fragte Skar.
»Es wird dein Geheimnis bleiben«, fuhr Titch unbeirrt fort. »Wenn du von dem, was du hier erlebst, auch nur ein Wort verrätst, werde ich dich töten.«
»Ich werde schweigen«, antwortete Skar. »Egal, was es ist.«
»Dein Wort«, verlangte Titch.
»Mein Wort als Satai - oder dein Freund?«
»Dein Wort«, beharrte Titch. »Ich will dich nicht töten müssen, aber ich werde es tun, wenn du mich dazu zwingst. Du kennst schon zu viele Geheimnisse unseres Volkes.«
Skar antwortete nicht mehr, aber Titch wertete sein Schweigen als das, was es war. Fünf, zehn endlose schwere Herzschläge lang starrte er Skar durchdringend an, dann drehte er sich mit einem Ruck um und ging in die gleiche Richtung, in der Cron verschwunden war.
Erst, als sie den Raum zur Hälfte durchquert hatten, gewahrte Skar die schmale Tür, die sich in seiner Rückwand befand. Sie war so niedrig, daß selbst er sich bücken mußte, um nicht mit dem Kopf gegen den wuchtigen Sturz aus Felsgestein zu stoßen; Titch - oder gar Cron - mußten mehr hindurchkriechen, als sie gingen. Eine schmale, in engen Kehren in die Tiefe führende Treppe schloß sich an, die Titch vorsichtig hinunterbalancierte, wobei er beide Hände ausstreckte, um sich rechts und links an der Wand abzustützen. Der Gestank wurde stärker. Skar glaubte ein dumpfes Stöhnen zu hören, und das Klirren von Metall. »Was ist das hier?« fragte er. Titch schwieg, aber es war auch eigentlich gar nicht nötig, daß er antwortete. Skar war oft genug in Gefängnissen und Kerkern gewesen, mal als Wärter, mal als Gefangener, um zu wissen, was ihn erwartete.
Und trotzdem schrie er überrascht auf, als er hinter Titch das Ende der Treppe erreichte und stehenblieb, denn das hatte er nicht erwartet: Der Raum lag unter der Erde, wie zwei winzige, hoch unter der Decke angebrachte Fenster verrieten, und wurde von einem deckenhohen Gitter in zwei ungleiche Teile zerschnitten, einen, in dem sich Skar, Titch und auch Cron aufhielten, und einen anderen, größeren, in dem sich gut zwei Dutzend zerlumpter, schmutzstarrender Gestalten drängelten.
Menschliche Gestalten.
»Nein«, stammelte Skar. »Das ist -«
»Schweig!« Crons Brüllen ließ die Gefangenen auf der anderen Seite des Gitters abrupt verstummen. Skar schwieg tatsächlich, aber es war nicht die Reaktion auf Crons Befehl - den hörte er eigentlich gar nicht. Es war das Entsetzen, über das, was er sah. Viele der Männer und Frauen waren schwer verletzt, und es war keiner unter ihnen, der nicht über und über mit schwärenden Wunden und Schorf bedeckt wäre. Skar sah die Spuren von Peitschenhieben und anderen Mißhandlungen, und einige der Gefangenen waren mit daumendicken Ketten an den Boden oder das Gitter gefesselt. Der Gestank war unerträglich, und nach einigen Augenblicken setzte das Stöhnen und Wehklagen wieder ein, das er oben auf der Treppe gehört hatte.
»Erschreckt dich, was du siehst?« Cron kicherte böse. »Das sollte es. Vergiß es nie, Satai, denn wenn du auch nur ein Wort davon verlauten läßt, dann teilst du ihr Schicksal.«
Skar ignorierte ihn einfach. Jetzt, als Cron vor ihm stand, sah er erst, wie groß der Quorrl wirklich war, ein Gigant von sicherlich achteinhalb Fuß, größer noch als Ennart, neben dem er sich wie ein Zwerg vorgekommen war. Aber er spürte keine Furcht. Nur Entsetzen über den schrecklichen Anblick, und das, was er bedeutete.
Cron blickte noch einen Moment böse grinsend auf ihn herab, dann klaubte er einen gewaltigen Schlüssel von seinem Gürtel und öffnete das Schloß in der Gittertür. Die Gefangenen begannen zu wimmern. Die, die sich bewegen konnten, wichen so weit von der Tür zurück, wie es der beengte Raum möglich machte, und die anderen begannen an ihren Ketten zu zerren.
Es dauerte einen Moment, bis Skar begriff, was Crons Tun bedeutete. Entsetzt und ungläubig zugleich starrte er Titch an. »Ich soll... dort hinein?« stammelte er.
»Nicht für lange, Skar«, sagte Titch hastig. »Aber es muß sein.«
»Niemals«, sagte Skar.
Cron lachte böse. »Es liegt bei dir, ob du freiwillig zu deinen Brüdern gehst oder nicht«, sagte er. »Gehen wirst du. Aber du solltest daran denken, daß es bei mir liegt, ob ich dich wieder herauslasse oder nicht.«
Die Drohung in seinen Worten war nicht zu überhören. Skar machte einen Schritt, blieb noch einmal stehen und sah zu Titch hoch. Der Quorrl wich seinem Blick aus.
»Bitte, Skar«, sagte er. »Sie werden gleich hier sein. Wenn sie dich irgendwo anders als hier unten finden, dann sterben wir alle.«
»Meint ihr nicht, daß sie hier ganz besonders aufmerksam nachsehen werden?« fragte Skar.
»Sicher«, antwortete Cron. »Aber sie suchen nach einem Satai, der den Göttern den Krieg erklärt hat. Nicht nach einem verkrüppelten Mann, der kaum genug Kraft hat zu stehen. Geh!« Er unterstrich das letzte Wort mit einer herrischen, befehlenden Geste, und Skar trat widerstrebend durch die Gittertür. Cron verriegelte das Schloß hinter ihm wieder und wandte sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen, aber Titch blieb noch einen Moment da. Auch er schwieg, aber in seinem Blick war etwas, was Skar schaudern ließ; ein stummes Flehen um Vergebung, als wäre das, was er hier sah, noch nicht einmal das Schlimmste. Drei, vier Sekunden lang blickten sie einander nur an, dann fuhr der Quorrl herum und rannte aus dem Keller.
Widerstrebend drehte sich Skar wieder herum und blickte in die Reihe ausgezehrter, schmutziger Gesichter, die ihm entgegenstarrte. Der Anblick erfüllte ihn mit Grauen, zugleich aber auch mit Ekel und Abscheu, obwohl es Männer und Frauen seines Volkes waren, denen er gegenüberstand. Der Gestank war ekelerregend. Auf dem Boden lag verfaultes Stroh, dazwischen Kot und Unrat. Ihm wurde übel. Er machte einen Schritt, blieb 221 wieder stehen und sah sich hilflos um.
»Wer... wer seid ihr?« fragte er. »Wie kommt ihr hierher, und wie -«
»Gib dir keine Mühe, Skar«, sagte eine Stimme neben ihm. »Sie können dir nicht antworten.«
Eine eisige Hand schien nach Skars Herzen zu greifen. Er fuhr herum, riß erschrocken die Augen auf und unterdrückte nur noch im letzten Moment einen Schrei, als er erkannte, wer da zu ihm gesprochen hatte.
»Kiina!«
Das Mädchen war so schmutzig und heruntergekommen wie die anderen Gefangenen, und es hockte mit angezogenen Knien in der äußersten Ecke des Verließes, so daß er es bisher nicht einmal gesehen hatte. Kiina blickte ihn an, aber sie machte keine Anstalten, aufzustehen und zu ihm zu kommen. Als er zu ihr ging, sah er, daß sie gefesselt war: ein daumenbreiter Metallring spannte sich um ihr rechtes Fußgelenk, der mit einer Kette an der Wand befestigt war.
Eine Hand griff nach ihm, als er sich auf Kiina zubewegte. Instinktiv schüttelte Skar sie ab und fuhr herum, als andere Finger sich in sein Haar zu krallen versuchten. Ein schmutziges, vom Wahnsinn gezeichnetes Gesicht tauchte vor ihm auf, Finger tasteten nach seinen Augen. Skar schlug sie beiseite und wich einen Schritt zurück, aber der Mann folgte ihm, die Hände wie Krallen nach seinem Gesicht ausgestreckt und kleine, quietschende Töne ausstoßend. Speichel lief über sein Kinn und zeichnete glitzernde Spuren in den eingetrockneten Schmutz darauf. »Verschwinde«, sagte Skar. »Laß mich in Ruhe!«
Der Mann schien seine Worte nicht zu verstehen. Er kam weiter näher und versuchte abermals, Skars Gesicht zu berühren. Skar packte ihn, versetzte ihm einen Stoß, der ihn rückwärts taumeln und zusammen mit drei oder vier weiteren Gefangenen zu Boden fallen ließ, aber sofort waren andere heran, fünf, sechs, sieben Männer und Frauen, die in eindeutig drohender Haltung auf ihn zutraten. Aus dem Chor wimmernder Stimmen war ein drohender Singsang geworden. Und plötzlich bekam Skar Angst. »Verschwindet«, sagte er drohend. »Kommt nicht näher.« Niemand reagierte auf seine Worte. Skar wich einen weiteren Schritt zurück, spürte, daß er fast an der Wand angelangt war und spreizte die Beine. Drohend hob er die Arme und ballte die rechte Hand zur Faust.
Als der erste Mann heranstürmte, empfing ihn Skar mit einem Fußtritt in den Leib, der ihn mit einem gurgelnden Laut zusammenbrechen ließ. Einen zweiten ließ er einfach an sich vorbeistürmen und stellte ihm ein Bein, so daß er wuchtig gegen die Wand fiel und wimmernd liegenblieb. Und noch ehe die anderen Zeit fanden, sich zu so etwas wie einem koordinierten Angriff zu formieren, sprang Skar seinerseits auf sie zu. Er schlug einen Mann mit dem Ellbogen nieder, rammte einem zweiten das Knie in den Leib und ließ einen dritten Angreifer, der sich von hinten auf ihn zu werfen versuchte, wie ein lebendes Geschoß über seinen Rücken fliegen.
Skar war sich darüber im klaren, daß er keine sehr guten Aussichten hatte, diesen Kampf zu gewinnen. Er war stärker als sie, besser in Form und vor allem ein Kämpfer, kein halb verhungerter Mann, den Krankheit und Schmerz halb wahnsinnig gemacht hatte, aber sie waren viele. Zu viele für ihn. Wenn er diesen ungleichen Kampf gewinnen wollte, dann schnell.
Er täuschte einen Schritt zur Seite, wartete eine Zehntelsekunde, bis gleich drei der Angreifer seine Bewegung nachzuvollziehen versuchten, und drehte sich blitzschnell um seine Achse. Sein Fuß kam hoch und landete mit der ganzen furchtbaren Wucht der Drehung im Gesicht eines der Gefangenen. Skar hörte Knochen brechen. Der Mann fiel kreischend auf die Knie, verbarg das Gesicht in beiden Händen und spie Blut und Zähne auf den Boden. Skar sprang vor, stieß ihn mit dem Ellbogen vollends nieder und schlug einen zweiten Mann nieder, der ihn zu umgehen versuchte.
Aus den Augenwinkeln sah er einen Schatten auf sich zurasen. Instinktiv riß er den Arm hoch, blockte den Hieb mit dem Unterarm ab und schlug schnell und hart zurück.
Im nächsten Momemt fiel er auf die Knie und krümmte sich selbst vor Schmerz. Er hatte mit der Linken zugeschlagen, blitzschnell und ganz instinktiv, wie er es seit Jahrzehnten gewöhnt war, aber er hatte keine linke Hand mehr, sondern nur noch einen pochenden, kaum verheilten Stumpf, der auf die grobe Behandlung mit unerträglichen Schmerzen reagierte.
Skar schrie. Es war so schlimm, daß er fast das Bewußtsein verloren hätte und sich nur noch mit Mühe aufrecht hielt. Schatten umgaben ihn. Das Johlen der Menge wurde triumphierend. Finger krallten sich in sein Haar und rissen seinen Kopf zurück, und eine Handkante landete in einer ungeschickten Imitation seines eigenen Hiebes an seiner Kehle; sehr hart, aber schlecht gezielt. Der Schlag zerquetschte seinen Kehlkopf nicht, sondern sandte nur einen neuen Schauer schier unerträglicher Schmerzen durch seinen Hals. Er keuchte, riß sich mit aller Kraft los und taumelte irgendwie auf die Füße.
Er kämpfte wie ein Berserker. Es waren keine Satai-Techniken mehr, die er anwandte: er hieb und drosch und trat einfach wild um sich, halb wahnsinnig vor Schmerz und Angst, in einem Zustand dicht an der Grenze zur Bewußtlosigkeit, der ihn die Hiebe, die unentwegt auf ihn herunterprasselten, kaum mehr spüren ließ.
Und plötzlich war es vorbei. So schnell, wie sich die Gefangenen auf ihn gestürzt hatten, wichen sie wieder vor ihm zurück. In den weit aufgerissenen Augen des halben Dutzends Jammergestalten war nur noch Angst. Zwei Männer lagen reglos am Boden, zwei weitere krochen wimmernd und blutend davon. Skar hob die Arme.
»Nicht, Skar«, sagte Kiina. »Sie haben nur Angst. Laß sie.« Und für Bruchteile von Sekunden war die Wut wieder da, der alte, unbezwingbare Wille zu töten, nur daß er diesmal nicht von außen auf ihn einströmte, sondern aus einem Bereich tief im Grunde seiner Seele kam, das Flüstern seines Dunklen Bruders, der nach Blut verlangte. Und er war stark. Stärker als je zuvor. »Skar - nicht!«
Er machte einen weiteren Schritt, blieb stehen und drehte sich schwer atmend zu Kiina um, sah sie aber nur eine Sekunde lang an, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder den Männern zuwandte. Sie waren weiter vor ihm zurückgewichen, und in ihren Augen stand jetzt der gleiche Ausdruck wie vorhin, als sie Cron gesehen hatten. Sie hatten Angst. Aber das bedeutete nicht, daß sie sich nicht sofort wieder auf ihn stürzen würden, wenn er auch nur eine Sekunde unaufmerksam war.
Sehr langsam, und ohne die Gefangenen dabei völlig aus dem Auge zu lassen, ließ er sich neben Kiina in die Hocke sinken und sah sie an.
»Großer Gott, Kind, was ist passiert?« fragte er. Er keuchte. Alles drehte sich um ihn. Sein Herz hämmerte schnell und schmerzhaft, und sein Arm tat unerträglich weh. Der frische Verband, den Scrat am vergangenen Abend angelegt hatte, begann sich rot zu färben. »Wieso bist du hier? Was haben sie dir getan?«
»Getan?« Kiina versuchte zu lächeln, aber unter all dem Schmutz und eingetrockneten Blut auf ihrem Gesicht wurde es eher eine Grimasse. »Sie haben mir nichts getan, Skar.«
»Das sehe ich!« sagte Skar wütend. »Ich bringe Cron um, wenn ich ihn in die Finger bekomme, das schwöre ich. Und Titch gleich dazu!«
»Sie haben mir nichts getan«, beharrte Kiina. »Sie haben mich nur gebunden, um mich zu schützen.« Kiinas Finger wanderten an ihrem Bein herab und glitten über das rostige Eisen des Fußrings. Die Haut darunter war aufgescheuert und blutig, und dem Schorf nach zu schließen, mußten die Wunden - so weit sie nicht unentwegt wieder aufgerissen wurden -, mehrere Tage alt sein.
»Zu schützen?« wiederholte Skar ungläubig.
»Den Gefesselten tun sie nichts«, antwortete Kiina mit einer Geste auf die Gestalten hinter Skar. »Frag mich nicht, warum, aber es ist so. Niemand hat mich angerührt, seit ich hier bin.«
»Du warst... die ganze Zeit über hier unten?«
Kiina nickte. »Vom ersten Moment an.«
»Ich bringe Titch um!« schwor Skar, und in diesem Moment meinte er es ganz genau so, wie er es sagte. »Dieses verdammte Ungeheuer!«
»Du tust ihm Unrecht«, sagte Kiina. »Es war nicht seine Schuld.«
Skar lachte schrill, aber Kiina schüttelte abermals und mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte, den Kopf. »Dieses Monstrum Cron hat mich hier eingesperrt«, sagte sie. »Titch wollte es nicht, aber er hat ihm gar keine Wahl gelassen. Er hätte auch dich hierherbringen lassen, wenn Titch nicht sein Leben für dich verpfändet hätte.«
Skar schwieg verwirrt. Er verstand immer weniger, was hier vorging. Kiina hätte verzweifelt sein müssen, zumindest zornig, aber sie schien im Gegenteil fast dankbar. Einen Moment lang fragte er sich ernsthaft, ob er dabei war, den Verstand zu verlieren. Verstört sah er sich in der winzigen, mit Leibern vollgestopften Zelle um und versuchte vergeblich, die zerlumpten, stinkenden Gestalten als menschliche Wesen zu akzeptieren. Es gelang ihm nicht. Wenn diese Kreaturen jemals Menschen gewesen waren, dann hatte Cron ihnen alle Menschlichkeit schon vor langer Zeit genommen.
»Was ist das hier?« flüsterte er.
»Crons Sklaven«, antwortete Kiina. »Ich weiß nicht, wer sie sind und woher sie kommen.«
Skar zögerte. Sekundenlang hockte er einfach reglos da und starrte in die Reihe stummer Gesichter, die ihm voller Angst entgegenblickten, dann deutete er mit der gesunden Hand auf einen Mann, dessen Blick ihm nicht ganz so trüb und verwirrt erschien wie der der anderen.
»Du«, sagte er. »Wer bist du? Woher kommst du?«
»Er kann dir nicht antworten, Skar«, sagte Kiina noch einmal. »Ich weiß nicht einmal, ob er dich versteht. Aber selbst wenn, kann er nicht sprechen. Sie haben ihnen die Zungen herausgerissen.«
Seltsam - aber Skar erschrak nicht einmal besonders. Nach allem war auch diese weitere Grausamkeit nurmehr ein Tropfen in dem Ozean aus Entsetzen, in dem er zu ertrinken drohte. Er fragte sich, ob Titch wirklich glaubte, daß er sein Wort halten und nicht über das hier erzählen würde. Wenn ja, war er ein Narr. »Warum hat er es mir nicht gesagt?« murmelte er. Die Frage galt viel mehr ihm selbst als Kiina, aber sie antwortete trotzdem. »Titch?« Sie lachte leise. »Hättest du es ihm gesagt, wenn es umgekehrt gewesen wäre?«
»Daß wir Sklaven halten?« Skar zuckte bewußt gleichgültig mit den Achseln. »Und? Ich kenne einige Männer, die sich Quorrl als Arbeitssklaven ...«
Er sprach nicht weiter, als er Kiinas Blick begegnete. Und er ahnte die Wahrheit, noch bevor das Mädchen sie aussprach. Im Innersten hatte er sie vom ersten Moment an geahnt. Keiner dieser Männer und Frauen war in der Verfassung, körperliche Arbeit zu leisten, nicht einmal die leichteste.
»Es sind keine Arbeitssklaven, Skar«, sagte Kiina ruhig. »Das hier ist Crons Vorratskammer.« Sie machte eine weit ausholende, zitternde Handbewegung. »Sie essen sie.«