13.

Der Weg wurde tatsächlich bewacht. Was Titch in einem Anflug von Größenwahn als Straße bezeichnet hatte, war zwar in Wahrheit nichts als ein schlammiger Pfad, der sich in vollkommen willkürlichen Kehren und Windungen den Hang hinaufschlängelte, an dessen Fuß die winzige Ortschaft stand, aber sie konnten selbst im blassen Licht der Morgendämmerung die Anzahl massiger Gestalten erkennen, die beiderseits des Tores lagerte. Sie hatten etwa zweihundert Schritte vor der Palisadenwand Halt gemacht, die das Dorf umgab. Der Wald hörte hier wie abgeschnitten auf, und nicht nur hier: das Dorf der Quorrl erhob sich im Zentrum einer nahezu kreisrunden Lichtung, die zu kahl und zu rund war, um natürlichen Ursprungs zu sein. Und so klein es war - Skar schätzte seine Einwohnerzahl auf weniger als hundert - es war eine Festung. Die Palisadenwand war gut doppelt mannshoch und wurde von vier klobigen, mit spitzen Dächern gedeckten Wachtürmen überragt, und selbst die Häuser, die er von seinem erhöhten Standort aus erkennen konnte, erinnerten an lauter kleine Burgen: gedrungene Würfel aus wuchtigen Balken mit winzigen Fenstern und schweren Türen, die selbst dem Ansturm eines wütenden Quorrl standhalten mußten. »Gibt es ein zweites Tor?« fragte er im Flüsterton.

Titch schüttelte den Kopf. Der Quorrl war neben ihm und Kiina stehengeblieben, wie sie von den letzten Bäumen des Waldes und der Dämmerung getarnt. Aber beides würde sie nicht mehr schützen, wenn sie versuchten, sich dem Dorf zu nähern. Skar fragte sich vergeblich, wie sie die gut dreihundert Schritte vollkommen deckungslosen Geländes überwinden sollten. »Nein«, antwortete Titch mit einiger Verspätung. »Aber auf der anderen Seite der Palisadenwand liegt ein Findling. Als Kinder haben wir ihn benutzt, wenn wir uns aus der Stadt schleichen wollten.«

»Als Kind?«

»Ich wurde hier geboren«, sagte Titch. Er machte eine unwillige Geste, als Skar etwas sagen wollte. »Still jetzt. Ich überlege, wie ich sie ablenken kann.«

»Vielleicht, wenn wir hierbleiben, bis es wieder dunkel ist?« schlug Kiina unsicher vor.

Titch blickte erst sie, dann Skar auf eine sehr bezeichnende Art an und schüttelte den Kopf. »Nein. Es wird gerade erst Tag. Zehn oder elf Stunden ohne Essen und Feuer haltet ihr beide nicht aus.«

Kiina wollte protestieren, aber Skar brachte sie mit einem zornigen Blick zum Verstummen. Im Gegensatz zu Kiina kannte er seine Grenzen. Und die waren eindeutig erreicht.

»Was sind das für Krieger?« fragte er.

Titch zuckte abermals die Schultern. .»Das weiß ich nicht. Noch nicht. Frag mich in einer Stunde noch einmal. Vielleicht kann ich es dir dann sagen.«

»Was hast du vor?«

Titch deutete auf die flachen schwarzen Silhouetten der Quorrl vor dem Tor, dann auf die Stadt. »Ich lenke sie ab. Ihr zwei schleicht euch auf die andere Seite und versucht über die Wand zu steigen; dort, wo der Felsen ist, den ich euch beschrieben habe. Direkt auf der anderen Seite findet ihr einen Vorratsschuppen. An seiner Rückseite sind ein paar lose Bretter. Kriecht hindurch und wartet auf mich.«

Kiina nickte nur, aber Skar war mit Titchs knappen Anweisungen ganz und gar nicht zufrieden. »Wie lange ist es her, daß du dort gespielt hast?« fragte er.

»Lange«, antwortete Titch. »Zwanzig Jahre. Aber keine Sorge. Das Versteck ist noch da. Kinder ändern sich nicht.«

»Aber die Erwachsenen könnten es entdeckt haben«, wandte Kiina ein.

Titch lächelte schwach. »Das brauchen sie nicht. Sie kannten es auch damals schon. Und jetzt geht. Ich warte eine halbe Stunde hier. Zeit genug für euch.« Er machte eine auffordernde Handbewegung und sah Skar prüfend an. »Wirst du es schaffen?«

»Habe ich eine Wahl?« antwortete Skar.

»Nein«, sagte Titch. »Viel Glück.«

Kiina wollte etwas sagen, aber Skar ergriff sie einfach bei der Hand und zog sie ein Stück in den Wald hinein. Kiina machte eine ärgerliche Bewegung und entriß ihm ihre Hand. Er versuchte nicht, sie festzuhalten, aber er spürte, daß er auch nicht die Kraft dazu gehabt hätte.

»Was soll das?« fauchte Kiina. »Hör endlich auf, mich wie ein Kind zu behandeln!«

»Dann hör auf, dich so zu benehmen«, gab Skar ungerührt zurück. Kiina funkelte ihn zornig an, aber er drehte sich einfach um und ging weiter, noch ehe sie Gelegenheit fand, zu widersprechen. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte sie zu Titch zurückgehen oder einfach stehenbleiben, dann murmelte sie etwas, was Skar nicht verstand, ballte die Fäuste und stürmte mit zornig gesenktem Kopf hinter ihm her.

Sie hielten sich dicht am Waldrand; gerade weit genug von ihm entfernt, um vom Dorf aus nicht gesehen zu werden, sollte jemand zufällig in ihre Richtung blicken. Die halbe Stunde, von der Titch gesprochen hatte, erwies sich als gerade ausreichend, denn der Weg war vielleicht nicht übermäßig weit, aber beschwerlich. Die Bäume standen auf dieser Seite viel dichter als auf der anderen, und auch das Unterholz war dichter. Skar blieb mehr als einmal in drahtigem Gestrüpp stecken, dessen nadelspitze Dornen selbst durch seine dicken Hosen stachen, und ein paarmal mußten sie umkehren und große Umwege in Kauf nehmen, um überhaupt weiter zu kommen. Skar schätzte, daß ihre Frist nahezu abgelaufen war, als sie die Stadt zur Hälfte umrundet hatten und der Felsen unter ihnen lag, von dem Titch gesprochen hatte; nicht mehr als ein verwaschener heller Fleck in der Dämmerung, aber er war da.

Kiina wollte sofort weitergehen, aber Skar hielt sie mit einem Kopfschütteln zurück. Dem Impuls, nach ihrer Hand zu greifen und sie festzuhalten, unterdrückte er im letzten Augenblick. »Warte«, flüsterte er. Kiina sah ihn fragend an, und Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf den Weg, der vom Stadttor aus den Hang hinaufführte. Er verschmolz mit dem in der Dunkelheit schwarz aussehendem Gras, ehe er den Wald erreichte, aber Kiina begriff, was er meinte. Sie nickte, zog sich wieder ein Stück in den Wald zurück und ließ sich auf die Knie sinken. Ihr Atem ging schnell. Der Weg hatte sie so sehr erschöpft wie ihn. Aber er widerstand auch diesmal der Versuchung, zu ihr zu gehen und ihr ein paar aufmunternde Worte zu sagen.

Statt dessen blickte er sich aufmerksam um; und eigentlich zum ersten Mal, seit sie ihr provisorisches Lager verlassen hatten. Vorhin, als Titch ihn durch den Wald getragen hatte, hatte er nicht viel erkennen können, aber es wurde allmählich hell, und durch die dürren Baumwipfel fiel genug Helligkeit, ihn jetzt mehr als Schemen erkennen zu lassen. Der Wald war sehr dicht, selbst hier, nahe am Rand, und er wirkte irgendwie... falsch? Skar wußte nicht, ob es das richtige Wort war, aber ihm fiel keine passendere Bezeichnung für das sonderbare Gefühl ein, das ihm beim Betrachten des Quorrl-Waldes einfiel. Die Bäume waren ausnahmslos groß und wuchtig, wütend wirkende, knorrige Gewächse, keiner dünner als drei, vier Fuß und keiner kleiner als fünfzig. Sie hatten keine Rinde, sondern einen Schuppenpanzer, der an den der Quorrl erinnerte, und sehr wenige, dicke Äste, die es ihnen unmöglich machten, selbst in der Blütezeit so etwas wie ein geschlossenes Blätterdach zu bilden. Büsche und Unterholz wirkten wie aus Draht geflochten, und selbst das Moos war hart. Aber es war nicht allein die Feindseligkeit der Vegetation, die ihn beunruhigte. Sie waren weit im Norden, in einem Land, in dem acht oder neun Monate Winter herrschte und in dem er keine Vielfalt oder gar Schönheit von Leben erwarten durfte wie in den fruchtbaren Ebenen von Besh - Ikne oder Malab.

Was er spürte, war vielmehr die Armut dieser sonderbaren Welt. Es dauerte eine Weile, bis er es sah, oder vielmehr nicht sah: Es gab die Bäume mit ihrer glitzernden Schuppenhaut, das drahtige Gebüsch und den blauschwarzen Flickenteppich des Mooses, sonst nichts. Nur diese drei Arten von Leben. Kein Pilz, der seinen Hut vorwitzig aus dem Boden reckte, kein Parasitengewächs, das sich in einem Spalt der Baumschuppen festgekrallt hätte, kein Farn, keine Blumen, keine Schimmelgewächse, kein verwelktes Blatt auf dem Boden, keine Spinnweben, die sich zwischen den Büschen spannten. Dieser ganze Wald wirkte auf ihn, als wäre er gemacht worden, nicht gewachsen, und das von jemandem, der entweder nicht besonders talentiert oder in großer Eile gewesen war. Er fragte sich, ob es überall in Cant so aussah wie hier. Wenn ja, so verstand er Titchs Zorn plötzlich sehr viel besser. Welche anderen denkenden Geschöpfe als Quorrl sollte ein Land hervorbringen, das von der Natur so betrogen worden war wie dieses?

Kiina deutete mit der Hand, und Skar schrak abrupt aus seinen Gedanken hoch und blickte konzentriert nach Süden. Es war noch immer nicht richtig hell - die Dämmerung schien hier sehr viel länger zu dauern, als er es gewöhnt war -, aber nach ein paar Augenblicken erkannte er, worauf ihn Kiina hatte aufmerksam machen wollen: vor dem gegenüberliegenden Waldrand rührte sich etwas. Titch. Der Quorrl hatte seinen goldenen Panzer abgelegt, so daß er nicht viel mehr als ein schwarzer Fleck auf schwarzem Untergrund war, nur an seiner Bewegung zu erkennen, und er schien sich nicht sonderlich zu beeilen.

»Warte noch«, flüsterte er, als Kiina sich erhob. Aufmerksam beobachtete er Titch, der allmählich von einem gestaltlosen Etwas zu einem sich bewegenden Schatten mit Armen und Beinen wurde, dann die Stadt. Sie konnten das Tor von hier aus nicht sehen, aber nach ein paar Sekunden erschienen zwei massige Gestalten auf dem Weg, die Titch entgegeneilten.

»Jetzt«, befahl er, »Beeil dich. Warte nicht auf mich.«

Sie huschten los. Der Weg, dreihundert Schritte über vollkommen leeres Gelände, schien kein Ende zu nehmen, obgleich Skar so schnell rannte, daß selbst Kiina Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Er konnte spüren, wie seine Kräfte mit jeder Sekunde nachließen, und er rechnete jeden Augenblick damit, einen Schatten zu sehen, der auf ihn zustürmte, einen Schrei hören, oder einfach das Surren eines Pfeiles, der ihn einen Sekundenbruchteil später treffen würde.

Aber die Götter - oder vielleicht auch nur die Gleichgültigkeit eines willkürlichen Schicksals - meinten es ausnahmsweise einmal gut mit ihnen. Sie überwanden den Sicherheitsstreifen um die Stadt unbehelligt. Die beiden Quorrl hatten Titch noch nicht einmal erreicht, als sich Skar schweratmend in die Deckung des Felsbrockens sinken ließ, der die Palisadenwand durchbrach. Sie hatten es noch nicht geschafft. Der Findling war wirklich so groß, wie Titch behauptet hatte: seine verwitterte Spitze schob sich bis auf eine halbe Armeslänge an die Krone der Palisadenwand heran, und seine Flanken waren, obgleich von einer Million Quorrl-Hände und -Füße glattpoliert, doch rissig genug, ihn selbst mit einer Hand zu ersteigen. Aber sie würden für jeden deutlich sichtbar sein, während sie es taten. Für die Quorrl dort oben bei Titch, auf halber Höhe des Hanges, ganz besonders gut. »Worauf wartest du?« fragte Kiina, die neben ihm auf ein Knie herabgesunken war. Sie atmete so schwer und schnell wie er, wirkte aber trotzdem eher ungeduldig als erschöpft.

»Daß sie verschwinden«, antwortete Skar mit einer Geste auf die Quorrl. Die beiden Krieger hatten Titch mittlerweile erreicht und waren stehengeblieben. Sie schienen mit Titch zu diskutieren, wenn nicht zu streiten. Skar fragte sich besorgt, was der wirkliche Grund für Titchs Nervosität gewesen war. Es war nicht nur der Umstand, daß sie sich in seiner Begleitung befanden, das hatte er deutlich gespürt.

Er gestikulierte Kiina, weiter in Deckung zu gehen, preßte sich so eng gegen die Felsbrocken, wie er nur konnte, und beobachtete, was weiter geschah. Es war heller geworden, aber noch immer nicht hell genug, um Einzelheiten zu erkennen. Nach einer Weile drehten sich die beiden Quorrl um und nahmen Titch in die Mitte. Ob sie ihn dabei festhielten oder einfach nur begleiteten, konnte er nicht erkennen.

Er wartete, bis die Quorrl aus seinem Blickfeld verschwunden waren, zählte in Gedanken langsam bis fünfzig und richtete sich auf. Wieder fühlte er Schwäche wie eine bleierne Last an seinen Gliedern zerren. Als er den Arm hob und mit den Fingern nach einem Halt im Stein tastete, wurde ihm schwindlig. Wahrscheinlich war es einzig das Wissen, daß dieser Fels das letzte Hindernis auf ihrem Weg war, das ihm die Kraft gab, sich überhaupt noch weiter zu schleppen.

Er mußte feststellen, daß das Überklettern eines auch nur mittelschweren Hindernisses mit einer Hand gar nicht so leicht war; um nicht zu sagen, eine Tortur. Zweimal griff er automatisch mit der linken Hand zu und verlor fast den Halt, ehe ihm einfiel, daß sie nicht mehr da war, und als er endlich oben war und versuchte, über die Palisade zu spähen, stieß er mit seinem Armstumpf so heftig gegen einen Balken, daß er um ein Haar vor Schmerz aufgebrüllt hätte. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, als er es zum zweiten Mal versuchte.

Im ersten Moment erkannte er nichts. Der Himmel über ihm begann sich allmählich hell zu färben, aber die Stadt lag da wie ein Schacht aus Dunkelheit, scheinbar bodenlos. Erst nach Sekunden begannen sich die Umrisse seltsam kubischer, wuchtiger Bauwerke aus der Schwärze zu schälen, das streng geometrische Rechteckmuster der wenigen schmalen Gassen und die knorrigen schwarzen Schatten von Dingen, die er nicht zu identifizieren vermochte. Behutsam schob er sich ein Stück weiter vor und sah an der Wand hinab. Sie war nicht besonders hoch - zehn, zwölf Fuß, eine Distanz, die er normalerweise ohne zu darüber nachdenken übersprungen hätte. Aber seine Kraft reichte nicht mehr für einen Sprung. Es würde ein Sturz werden.

»Willst du hier Wurzeln schlagen?«

Kiina war unbemerkt hinter ihm auf den Felsen geklettert, und für einen Moment verspürte Skar einen absurden Neid auf ihre Jugend und Kraft, als er sah, daß ihr Atem kaum schneller ging. Ärgerlich und mehr vom Trotz als klarer Überlegung getrieben, richtete er sich halb auf, federte kurz in den Knien ein und sprang in die Tiefe.

Die Strafe folgte unverzüglich. Er kam schlecht auf, fiel und versuchte den Sturz in eine Rolle vorwärts zu verwandeln, was ihm aber nur zum Teil gelang. Er stürzte, schrammte sich auf dem rauhen Boden die Haut vom rechten Unterarm und einem Teil der Wange und verbiß sich nur deshalb einen Schmerzlaut, weil Kiina ihm ohne zu zögern folgte; auf die gleiche Weise wie er, nur wesentlich leiser und geschmeidiger. Mit einem Schritt war sie bei ihm, half ihm auf die Füße und sah ihn fragend an. Skar schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß ihm nichts passiert sei, entzog Kiina seine Hand und sah sich seinerseits aufmerksam um. Es war noch dunkler hier, als es vom Felsen aus den Anschein gehabt hatte. Kaum eine Armeslänge vor ihm ragte die Wand eines jener sonderbar würfelförmigen Gebäude in die Höhe, schwarz und konturlos in der Finsternis und scheinbar so gewaltig wie ein Berg. Skar streckte die Hand aus und fühlte rauhen, kaum bearbeiteten Stein. Titch hatte von losen Brettern gesprochen.

»Hier, Skar.«

Kiina war in der Dunkelheit verschwunden, aber es fiel ihm nicht schwer, die Richtung auszumachen, aus der ihre Stimme kam. Vorsichtig bewegte er sich darauf zu, erkannte einen kauernden Schatten und hörte fast im gleichen Moment ein gedämpftes Knarren. In der schwarzen Wand hinter Kiina tat sich ein dreieckiger Spalt in noch tieferem Schwarz auf.

Er hatte kein gutes Gefühl, als er gebückt hinter Kiina in den Schuppen kroch. Sicher, es war alles so, wie Titch vorhergesagt hatte: der Felsen war da, der Schuppen und sogar der geheime Eingang zu dem Kinderversteck, aber es waren zwanzig Jahre vergangen, seit Titch und seine Freunde sie für ihre Spiele benutzt hatten. Die Götter allein mochten wissen, wozu all dies heute diente. Vielleicht kamen sie geradewegs unter dem Bett des quorrlschen Äquivalents eines Bürgermeisters heraus. Oder in seiner Vorratskammer.

Im Moment jedenfalls sah er nichts als eine Schwärze, die so tief war, daß er fast meinte, sie anfassen zu können. Ein unangenehmer, nicht einzuordnender Geruch hing in der Luft und machte ihm das Atmen schwer, und seine tastende Hand stieß fast unmittelbar auf Widerstand: eine zweite, hölzerne Wand, die den winzigen Raum auf weniger als eine Armeslänge einengte. Er hatte niemals unter Platzangst gelitten, aber als Kiina sich nach wenigen Sekunden umständlich in ihrem winzigen Versteck umdrehte und das lose Brett wieder an seinen Platz schob, hatte er plötzlich das Gefühl, überhaupt nicht mehr atmen zu können. Sein Herz jagte. Er spürte Kiinas Nähe, den Stoff ihres Mantels und ihr seidiges Haar, das seine Wange kitzelte, und beides war ihm auf seltsame Art unangenehm. Er mußte sich beherrschen, um nicht trotz der Enge zu versuchen, von ihr fortzurücken. Seine Hand wurde feucht vor Schweiß.

Er hörte Kiina neben sich in der Dunkelheit hantieren, dann klapperte etwas. »Hier ist etwas«, sagte sie. »Ich kann es nicht genau ertasten, aber... ja. Es ist eine Lampe. Hast du Feuersteine?«

»Nein«, antwortete Skar. Seine Stimme klang krächzend. Er versuchte, diesen Eindruck auf die sonderbare Akustik des winzigen Verschlages zu schieben, aber er konnte nicht einmal sich selbst belügen. Er hatte Angst, ganz plötzlich. Er war halb wahnsinnig vor Angst. Und er wußte nicht einmal, warum. Kiina seufzte. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Was für eine dumme Frage. Warte.« Wieder tat sie etwas, was er nur hörte und nicht sehen konnte, aber nach Augenblicken glomm ein winziges rotes Flämmchen zwischen ihren Fingern auf, sprang auf den Docht der groben Öllampe über, die sie gefunden hatte, und wuchs zu einem bleichen, flackernden Licht. Skar erkannte, daß der Verschlag wirklich so winzig war, wie er geglaubt hatte. Jetzt, als er seine Wände sehen konnte, kam er ihm sogar noch kleiner vor.

Das Mädchen schob die Lampe so weit von sich fort, wie es ging, und rutschte gleichzeitig näher an Skar heran, schon, damit die Flamme nicht auf ihren Mantel oder ihr Haar übergriff. Sie sah zu ihm auf, und er versuchte sich wenigstens einzureden, daß der im blassen Licht der Lampe nur zu erahnende Ausdruck auf ihrem Gesicht ein Lächeln sein sollte. Er fragte sie nicht, wie sie das Feuer gemacht hatte, aber Kiina sagte es ihm trotzdem. »Ein alter Trick der Errish«, sagte sie. »Du wärst erstaunt, wenn du wüßtest, wie einfach er ist.«

Sie sagte das nicht einfach nur so dahin. Sie hatte genau die gleichen Worte schon einmal gesagt, vor Monaten, die ihm wie Jahre vorkamen, auf der anderen Seite der Welt und in einem anderen Leben, und sie erfüllten ihn mit einer seltsam melancholischen Traurigkeit. Und genau wie damals waren sie sich nahe, so nahe, wie sich zwei Menschen nur sein können.

Zögernd streckte er die Hand nach ihr aus, berührte ihre Schulter, ihr Haar, ließ seine zitternden Fingerspitzen über ihre Wange gleiten, ihre Augen... Ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit durchströmte ihn, eine Liebe, die vom ersten Tag an zwischen ihnen gewesen war und die nichts glich, was er jemals erlebt hatte. Es war nichts Körperliches. Er würde sie niemals berühren, und er wußte auch, daß sie es nicht zulassen würde, sollte er es versuchen. Und doch war er bereit, sein Leben für sie zu geben, ohne zu zögern. Früher, unendlich viel früher einmal, war es zwischen Del und ihm ähnlich gewesen. Aber das war lange her. Zu lange, als daß er sich noch wirklich daran erinnerte; in einem Leben, in dem er noch Achtung vor sich selbst gehabt hatte, als er noch wußte, warum er überhaupt lebte, in dem er noch Freunde gehabt hatte. Heute war sein einziger Freund ein fischgesichtiger Quorrl, und der einzige Grund, aus dem er noch lebte der, daß der Moment für seinen Tod noch nicht gekommen war. Er hatte noch immer Angst, aber er begriff plötzlich ihren Grund. Es war nicht die Angst vor irgend etwas, sondern Furcht vor dem Leben selbst, dem nächsten Moment und dem Schrecken, den er bringen mochte.

Kiina schien zu spüren, wie es in ihm aussah, denn sie nahm plötzlich seine Hand und schob sie mit sanfter Gewalt von sich fort, ohne ihn wirklich wegzustoßen, und sah sich mit einem übertrieben gekünstelten Räuspern in dem kleinen Verschlag um. Es gab allerdings nicht furchtbar viel, was sie entdecken konnte: der Raum hatte die Form eines schmalen Rechteckes und war fast vollkommen leer, von der Lampe und einem zerbrochenen Spielzeug abgesehen, das sehr alt sein mußte, denn seine ursprüngliche Form war von Schimmel und Moder zerfressen und fast unkenntlich. Der Boden bestand aus Stein, der viel glatter war als der der Straße draußen, aber auch härter.

»Titchs Freunde müssen verdammt klein gewesen sein, wenn sie in diesem Loch gespielt haben«, sagte sie lächelnd. Sie streckte die Hand aus, tastete behutsam über die innere Wand und zog die Finger fast erschrocken wieder zurück, als sich eines der Bretter bewegte.

Skar hielt sie zurück, als sie erneut ansetzte und auch hier als erste unter dem losen Brett hindurchkriechen wollte. »Warte«, sagte er. »Gib einem alten Mann eine Chance, wenigstens ab und zu den Beschützer zu spielen.«

Kiina seufzte. Eingepfercht, wie sie in dem winzigen Verschlag dasaßen, wäre es sehr viel einfacher gewesen, wenn sie vorausgegangen wäre. Aber sie schien zu ahnen, daß Skars Worte nicht ganz so scherzhaft gemeint waren, wie sie sich anhörten, denn sie protestierte nicht, sondern preßte sich noch enger gegen die Wand, als Skar umständlich über sie hinwegkletterte und die Schultern durch die Öffnung zu zwängen begann.

Der Raum, in den er gelangte, war ebenso dunkel wie der winzige Verschlag, aber der bleiche Lichtschein, der ihm durch die Öffnung hindurch folgte, zeigte ihm wenigstens, daß er sehr viel größer war. Skar kroch ein paar Schritte weit, schloß die Augen und blieb reglos lauschend sitzen, bis er sicher war, allein zu sein. Dann richtete er sich auf, legte die rechte Hand auf das Schwert im Gürtel und flüsterte Kiina zu, nachzukommen. Es wurde hell, denn sie brachte die Lampe mit sich. Das winzige Ölflämmchen loderte hell auf, als frischer Sauerstoff an den Docht gelangte, und Skar konnte Schemen ihrer Umgebung erkennen. Sie befanden sich in einem großen, annähernd rechteckigem Raum, der das gesamte Innere des Gebäudes einnehmen mußte. An zwei der drei Wände stapelten sich Säcke und Ballen unbekannten Inhalts, und beiderseits der Tür, die der Rückwand genau gegenüberlag, waren mannslange, dicke Rundhölzer zu gewaltigen Bündeln zusammengebunden und aufeinandergestapelt. Es gab keine Fenster.

»Titch hat die Wahrheit gesagt«, murmelte Kiina, nachdem sie sich einmal im Kreis gedreht und dabei ihre Lampe geschwenkt hatte, um sich umzusehen. »Ein Lager.«

»Und offensichtlich eines, das lange Zeit nicht mehr betreten worden ist«, fügte Skar hinzu. Die Luft war hier etwas besser, aber sie roch noch immer trocken und alt und kratzte beim Atmen im Hals. Überall lag Staub.

Kiina zuckte mit den Schultern, stellte die Lampe auf den Boden und bewegte sich auf Zehenspitzen zur Tür. Ehe Skar Gelegenheit fand, sie zurückzuhalten, hatte sie die Hand nach dem Griff ausgestreckt und zog daran. Die Tür rührte sich nicht. »Und jetzt?« fragte Kiina enttäuscht, als sie sich zu ihm herumdrehte.

»Jetzt«, antwortete Skar, »tun wir genau das, was Titch gesagt hat. Wir warten auf ihn.«

»Oder ein Dutzend Quorrl-Bälger, das hereinkommt, um zu spielen«, sagte Kiina stirnrunzelnd.

Skar schwieg dazu. Auch er hatte sich aufmerksam umgesehen, und da waren ein, zwei Sachen, die doch nicht ganz zu dem paßten, was Titch erzählt hatte. Der Staub auf dem Boden, in dem nicht die geringste Spur war, oder der Umstand, daß es nicht das mindeste bißchen Schmutz in dem kleinen Verschlag jenseits der doppelten Rückwand gab, und nur ein einziges, vor mindestens zehn Jahren zerbrochenes Spielzeug.

Wortlos trat er neben Kiina, schob sie sanft zur Seite und betrachtete die Tür. Sie war noch massiver, als es von weitem den Anschein gehabt hatte, viel zu stark jedenfalls, um sie mit Gewalt zu öffnen, selbst wenn sie Werkzeug gehabt hätten und keine Rücksicht auf Lärm nehmen müßten. Aber sie war nicht sehr gut gearbeitet. Wie alles, was von den Quorrl stammte, war sie zweckmäßig und stark, aber grob; zwischen Blatt und Rahmen war ein fast fingerbreiter Spalt, durch den er bequem nach draußen sehen konnte.

»Mach das Licht aus«, sagte er.

»Warum?«

»Weil es draußen noch immer nicht richtig hell ist«, antwortete Skar ungeduldig. »Sie werden den Lichtschein sehen, wenn jemand zufällig vorbeikommt.«

»Und wer sollte das sein?« fragte Kiina spöttisch, beeilte sich aber trotzdem, seiner Anweisung zu folgen und die Flamme auszublasen. »Dort draußen ist niemand. Und schon gar keiner, der irgend etwas zufällig tut.«

Skar sah sich ärgerlich nach ihr um, ehe er wieder nach draußen blickte. Kiinas Worte kamen der Wahrheit näher, als ihm lieb war. Die schmale Straße, die er durch den Türspalt hindurch zum Teil überblicken konnte, war vollkommen leer. Und obwohl es noch immer nicht hell genug war, um viele Einzelheiten zu erkennen, kam sie ihm auf die gleiche, unheimliche Weise verlassen und leer vor wie dieses Lagerhaus. In keinem der Häuser brannte Licht. Nirgends ein Laut. Er begann sich zu fragen, ob in dieser Stadt überhaupt jemand lebte.

»Auf jeden Fall kommen wir hier heraus«, sagte er nach einer Weile. Kiina sah ihn fragend an, und Skar deutete erklärend auf den wuchtigen Riegel, der von außen vor der Tür lag. Ihn durch den Türspalt hindurch mit einem Messer anzuheben oder nötigenfalls mit seinem Tschekal zu zerschlagen, war kein Problem. »Dann sollten wir es tun«, schlug Kiina vor.

»Und einem Quorrl in die Arme laufen, der gerade seinen Nachttopf ausleert?« Skar schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Wir warten hier, bis Titch kommt.«

»Und wenn er nicht kommt?«

Skar wußte, was Kiina meinte. Sie hatte so deutlich wie er gesehen, wie die beiden Quorrl Titch in die Mitte genommen hatten. Einen Moment lang sah er sie nur an, dann zuckte er mit den Schultern, drehte sich demonstrativ von der Tür weg und ließ sich vor einem der Säckestapel zu Boden sinken. Er war müde, aber nicht sehr; und ein wenig mutlos. Sein Armstumpf tat weh.

Sekundenlang blieb Kiina einfach in der Dunkelheit stehen und starrte ihn an, ehe sie sich mit einer eindeutig verärgerten Bewegung herumdrehte und seinen Platz an der Tür einnahm. Skar schloß die Augen, obgleich er wußte, daß es ein Fehler war. Er würde einschlafen, wenn er nicht sehr, sehr aufpaßte, und allein dieses Achtgeben verlangte schon mehr Willenskraft von ihm, als er im Moment noch aufbringen konnte.

Trotzdem gestattete er sich den Luxus, die betäubende Schwere in seinen Gliedern als angenehm zu empfinden und sich und seine Gedanken einfach treiben zu lassen. Mit Ausnahme jener einen, viel zu kurzen Nacht in der Bergfestung hatte er noch keine Gelegenheit gefunden, wirklich über alles nachzudenken; und da war er noch viel zu betäubt und erschlagen von dem Erlebten gewesen, um seine Tragweite auch nur annähernd zu begreifen.

Er war sich auch nicht sicher, ob er es jetzt tat. Er war sich nicht einmal sicher, ob er alles, woran er sich zu erinnern glaubte, auch wirklich erlebt hatte. Der Dämon unter dem Turm, jenes schreckliche Geschenk der Vergangenheit - war das alles wirklich? Oder nur ein weiterer Schachzug in diesem schier endlosen Spiel aus Lügen und Täuschungen, in dem er selbst mitspielte, ohne zu wissen, auf welcher Seite er stand?

Er wußte es nicht. Er hatte etwas gesehen, aber es kam ihm jetzt, mit dem Abstand einiger Tage und dem Gefühl des wieder-einmal-überlebt-zu-haben, bizarr und irreal vor. Vielleicht war der Dämon nicht das gewesen, was er zu sehen glaubte. Vielleicht hatte er die gehörnte Scheußlichkeit nur erblickt, weil sie genau das war, was er zu sehen erwartete.

Der Gedanke beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil. Er verstärkte auf grundlose, aber jeden Zweifel ausschließende Art nur seine Überzeugung, daß Titch und er irgend etwas geweckt hatten, als sie Ennart töteten. Und es war noch da. Er hatte es nicht besiegt, nicht einmal vertrieben. Es war noch da, und es durchstreifte vielleicht gerade jetzt die Welt dort draußen auf der Suche nach einem neuen Opfer oder vielleicht auch ihm, und es - »Skar!«

Kiinas Ausruf riß ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. Er öffnete die Augen, begriff, daß er eingeschlafen war und Minuten vergangen sein mußten, und sprang auf, ohne kostbare Zeit damit zu verschwenden, zu erschrecken. Mit zwei, drei raschen Schritten war er neben Kiina und spähte durch den Türspalt. Es war mittlerweile vollends hell geworden, aber die Straße lag so ausgestorben und leer da wie zuvor. Fragend und alarmiert zugleich sah er Kiina an.

»Titch«, antwortete das Mädchen. »Sie haben ihn weggeführt. Zwei Quorrl.« Sie deutete eine Kopfbewegung zum Ende der Straße an. Ihr Gesicht war sehr besorgt.

»Und?«

»Er war in Ketten«, sagte Kiina.

»Bist du sicher?«

»Völlig«, antwortete Kiina, und allein der Umstand, daß sie nicht die Gelegenheit zu einer schnippischen Antwort nutzte, überzeugte Skar endgültig davon, daß sie die Wahrheit sprach. »Wohin sind sie gegangen?« fragte er. »Nach rechts oder links?«

»Links.« Kiina trat einen halben Schritt zurück und zog ihr Schwert aus dem Gürtel.

»Was hast du vor?« fragte Skar.

»Ihn befreien«, antwortete Kiina entschlossen. »Was denn sonst?«

Skar unterdrückte ein Lächeln. Noch vor einer Woche hätte Kiinas Antwort zu fliehen gelautet, und zwar mit derselben Selbstverständlichkeit. Aber er hob sich seine Zufriedenheit für später auf und schüttelte den Kopf. »Du bleibst hier«, befahl er. »Ich gehe.«

»Du?« Es kostete Kiina sichtliche Mühe, nicht verächtlich die Lippen zu schürzen oder eine abfällige Bemerkung zu machen, aber irgend etwas mußte in seinem Blick sein, was ihr klar machte, daß Widerspruch in diesem Moment nicht sinnvoll war. Nach einer Sekunde zog sie die Hand zurück und zuckte verärgert mit den Schultern. »Soll ich dir versprechen, hier auf dich zu warten?« fragte sie.

»Dieses Versprechen würdest du sowieso nicht halten, oder?« fragte Skar.

»Kaum.«

»Du bleibst hier«, sagte Skar. »Behalte die Straße im Auge, bis ich verschwunden bin, dann kommst du mir nach. Aber vorsichtig. Ich brauche jemanden, der meinen Rücken deckt, niemanden, der Heldentaten vollbringt. Hast du das verstanden?«

Sie nickte wortlos, aber vielleicht war es gerade die knappe Art ihrer Antwort, die ihn davon überzeugte, daß sie tun würde, was er verlangte. Auch sie hatte sich verändert, begriff er plötzlich. Sie hatte angefangen, ein Gespür für Gefahr zu entwickeln. Er drehte sich zur Tür und spähte noch einmal auf die Straße hinaus. Sie lag noch immer still da. Die drei Türen, die er sehen konnte, waren geschlossen, und in den Häusern rührte sich nichts. Er hörte auch keinen Laut. Die Stadt schien ausgestorben zu sein. Trotzdem erfüllte ihn der Gedanke, dort hinausgehen zu sollen, mit allem anderen als Zuversicht. Es war eine winzige Stadt, aber es war eine Stadt der Quorrl, die ihn in Stücke reißen würden, noch ehe er Gelegenheit fand, irgend etwas zu erklären. Behutsam schob er die Klinge seines Schwertes unter den Riegel und versuchte ihn anzuheben. Er bewegte sich leichter, als er erwartet hatte. Aber nur im ersten Moment. Dann verkantete er sich, mit einem Ruck, der Skar klar machte, daß er sich nie wieder bewegen würde. Mit einem bedauernden Seufzer zog er das Schwert zurück, schob es oberhalb des Riegels erneut durch den Türspalt und ließ die Klinge mit aller Gewalt niedersausen. Der rasiermesserscharfe Stahl seines Satai-Schwertes zerschnitt das morsche Holz fast ohne spürbaren Widerstand. Aber es gab einen peitschenden Knall, der in Skars Ohren wie ein Kanonenschuß klang und endlos zwischen den Häusern der schmalen Gasse widerzuhallen schien.

Trotzdem zögerte er keine Sekunde mehr, sondern sprengte die Tür mit der Schulter vollends auf, sprang mit einem Satz auf die Straße hinaus und sah sich blitzschnell nach beiden Seiten um. Nichts.

Die Häuser lagen verlassen und still wie große steinerne Gräber da, eine monotone Reihe würfelförmiger schwarzer Klötze, hinter deren Türen und Fenstern sich kein Leben regte. Skar war jetzt nahezu davon überzeugt, daß es in dieser Stadt keine Quorrl mehr gab. Und das schon seit langer Zeit.

Er wandte sich nach links, huschte geduckt die Straße hinunter und preßte sich dicht vor der Wegkreuzung gegen die Wand. Er lauschte. Aber er hörte auch jetzt nichts außer dem Heulen des Windes und dem Hämmern seines eigenen Herzens. Unendlich vorsichtig schob er sich weiter, spähte um die Ecke und atmete erleichtert auf, als er auch diese Straße leer sah. Er zögerte noch einen Moment, um sich herumzudrehen und konnte mit einem Winken zu Kiina signalisieren, daß alles in Ordnung war, dann packte er sein Schwert fester und lief mit schnellen Schritten weiter.

Die Straße endete nach einem Dutzend Schritte vor der hölzernen Palisadenwand der Stadt. Der Weg führte auch hier in beide Richtungen. Skar wandte sich wahllos nach links, begriff nach ein paar Schritten, daß er in eine Sackgasse lief, und machte wieder kehrt.

Um ein Haar wäre er in Titch und seine beiden Bewacher hineingelaufen. Die Quorrl waren wieder von der Hauptstraße abgebogen, dann aber aus irgendeinem Grunde stehengeblieben, so daß Skar fast im vollen Lauf gegen einen der Schuppenkrieger prallte und erst im letzten Moment zum Stehen kam.

Was ihn rettete, das waren allein die Überraschung der Quorrl - und Titch. Die beiden Krieger starrten ihn für die Dauer eines halben Atemzugs total überrascht an und rissen dann in einer nahezu synchronen Bewegung ihre Schwerter aus den Gürteln, aber Titch reagierte noch schneller. Mit einem wütenden Knurren warf er sich gegen den Quorrl zu seiner Rechten und riß ihn allein durch die ungestüme Wucht seines Anpralles zu Boden, so daß Skar wenige, kostbare Sekunden gewann, in denen er es nur mit einem der vierhundert Pfund schweren Kolosse zu tun hatte.

Sein Schwert bewegte sich in einer komplizierten, kreiselnden Bewegung auf den Quorrl zu, stach nach seiner freien, linken Hand und durchbohrte sie. Der Quorrl schrie vor Schmerz und Wut auf und taumelte zur Seite. Skar setzte ihm nach, duckte sich blitzschnell, als der Quorrl wütend nach ihm hieb, und stach nach seinen Beinen. Das Tschekal traf die rechte Fessel des Schuppenkriegers und durchtrennte seine Sehne. Der Riese wankte, versuchte vergeblich sein Gleichgewicht zu halten und kippte in einer grotesk langsamen Bewegung nach hinten. Skar setzte ihm nach und schlug ihm die flache Seite seines Schwertes gegen den Schädel. Der Quorrl keuchte vor Schmerz, versuchte sich noch einmal aufzurichten und verlor mitten in der Bewegung das Bewußtsein.

Als Skar herumfuhr, saß er gerade noch, wie sich der zweite Quorrl fluchend unter Titchs Körper hervorarbeitete, wobei er zwei-, dreimal hintereinander wuchtig mit dem Schwertknauf nach Titchs Schläfe hieb.

Skar ließ ihm nicht die geringste Chance. Er verschwendete keine Zeit darauf, fair zu kämpfen; mit nur einer Hand und geschwächt, wie er war, konnte er sich einen Luxus wie Ritterlichkeit nicht leisten. Mit einem Satz war er bei ihm, versetzte dem Koloß einen Tritt gegen die Seite, der ihn abermals zu Boden fallen ließ, und stieß ihm die Klinge in die Brust. Der Quorrl starb ohne einen Laut.

Schweratmend ließ Skar das Schwert fallen, wankte zu Titch hinüber und sank neben ihm auf die Knie. Der Quorrl hatte trotz der furchtbaren Hiebe gegen seinen Schädel das Bewußtsein nicht verloren, wirkte aber benommen und schien ihn im ersten Augenblick nicht einmal zu erkennen, als Skar ihn mühsam auf den Rücken drehte. Sein Gesicht war voller Blut.

»Alles in... in Ordnung?« sagte Skar mühsam. Sein Atem ging schnell und stoßweise, und sein Puls jagte. Der kurze Kampf hatte ihn vollkommen erschöpft.

Titch nickte, verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse und versuchte das Blut wegzublinzeln, das ihm in die Augen lief. Skar nahm einen Zipfel seines Mantels und wischte die Stirn des Quorrl sauber.

»Danke«, grunzte Titch. »Aber es wäre einfacher, wenn du mich losbinden würdest, meinst du nicht?«

Skar blickte ihn einen Moment lang betroffen an, ehe er sich fast hastig bückte und die Ketten löste, die Titchs Handgelenke zusammenhielten. Der Quorrl schleuderte seine Fesseln mit einem wütenden Laut davon, stand wortlos auf und bückte sich nach dem Tschekal, das zwei Schritte neben ihm auf der Straße lag. Noch ehe Skar wirklich begriff, was er vorhatte, hob er die Waffe auf, ging zu dem bewußtlosen Quorrl hinüber - und schnitt ihm mit einem einzigen, wütenden Hieb die Kehle durch. »Was, zum Teufel, -?!«

Titch fuhr mit einem Knurren herum. Sein Gesicht war zu einer Grimasse aus Blut und Haß geworden, und seine Augen schienen zu brennen. Drohend richtete er die Schwertspitze auf Skar. »Sag nichts, Mensch!« grollte er. »Was immer du sagen willst, behalte es für dich!«

Skar schwieg. Was Titch getan hatte, entsetzte ihn, aber er kannte den Quorrl auch gut genug, um zu wissen, daß es nicht grundlos geschehen war. Und wenn Titch nicht über diese Gründe sprechen wollte, so war das seine Sache.

»Sie sind alle tot, Skar.«

Skar drehte sich erschrocken herum. Er hatte Kiinas Annäherung nicht einmal bemerkt, aber sie war ihm bis auf zwei Schritte nahe gekommen. Das Schwert, das sie in der rechten Hand trug, zitterte. Sie war sehr blaß.

»Sie... sie sind alle tot«, sagte sie noch einmal. »Ich war in einem der Häuser. Sie sind von außen verschlossen, aber sie sind voller... voller toter Quorrl.«

»Tot?«

»Sie haben sie umgebracht«, flüsterte Titch. »Alle. Sie haben... die ganze Stadt ausgelöscht.«

Skar war nicht einmal sehr überrascht. Er hatte gewußt, daß es in dieser Stadt kein Leben mehr gab, schon lange vor Titchs Worten. Aber er fühlte sich betroffen; viel stärker, als er erwartet hatte; sogar stärker als zuvor, bei anderen Gelegenheiten, als er durch Städte und Dörfer gekommen war, deren menschliche Bewohner man umgebracht hatte. Er war verwirrt.

Automatisch griff er zu, als Titch sich endlich zu ihm herumdrehte und ihm das Schwert zurückgab. Er schob die Waffe fast überhastet in ihre Scheide zurück und verzichtete sogar darauf, das Blut abzuwischen, das noch an der Klinge klebte. Titchs Gesicht war voller Zorn und Haß, aber er wich seinem Blick aus. »Warum?« fragte Skar.

»Weil sie...« Titch stockte, blickte ihn für einen kurzen Moment nun doch an und sah dann hastig wieder weg. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. Es war eine Lüge. Skar spürte es, und Titch gab sich nicht einmal sonderliche Mühe, überzeugend zu wirken. Erneut fiel Skar ein, wie unsicher und... ja, und fast ängstlich der Quorrl auf ihn gewirkt hatte, vorhin, ehe sie sich der Stadt näherten.

»Es muß einen Grund geben«, sagte Kiina überzeugt. »Nicht einmal Quorrl löschen ein ganzes Dorf ohne Grund aus.« Skar warf ihr einen warnenden Blick zu, aber Titch reagierte ganz anders, als er erwartet hatte: statt zornig zu werden, drehte er sich nur langsam zu dem Mädchen um, sah sie einen Herzschlag lang mit undeutbarem Ausdruck an und nickte schließlich. »Vor dem Tor sind noch drei«, sagte er. »Vielleicht fragen wir sie.«

»Warum nicht?« Kiina zuckte die Schultern. »Wir -«

»Wir«, fiel ihr Skar ins Wort, etwas lauter und mit eindeutig warnender Betonung, »werden gar nichts tun. Titch und ich gehen. Du bleibst hier.«

»Wer sagt das?« fragte Kiina trotzig.

Skar hatte plötzlich Lust, ihr eine schallende Ohrfeige zu versetzen. »Es ist zu gefährlich«, sagte er mit mühsamer Beherrschung. »Es sind Krieger, Kiina. Diese beiden hier haben wir überrascht.«

»Und?« schnappte Kiina. »Warum sollte uns das bei den anderen nicht auch gelingen?«

Wahrscheinlich hätten sie sich noch weiter gestritten; Kiina war viel zu starrköpfig, um nachzugeben, und Skar zu müde; außerdem machte es ihn wütend, daß sie auch diesmal wieder seinen Befehl mißachtete und auf eigene Faust eines der Häuser durchsucht hatte. Aber Titch beendete die sinnlose Diskussion, ganz einfach, indem er sich zu einem der toten Krieger herabbeugte und dessen Waffe an sich nahm. Ohne ein Worte drehte er sich herum und ging mit schnellen Schritten den Weg zurück den sie gekommen waren, so daß sie ihm folgen mußten, ob sie wollten oder nicht.

Skar zog das Schwert, als sie sich dem Tor näherten. Es gab keine Möglichkeit, sich in irgendeinem toten Winkel zu halten; das Tor war so breit wie die Straße, und auf den letzten zwanzig Schritten gab es keinerlei Abzweigungen. Aber sie hatten Glück. Vor dem Tor rührte sich nichts, doch sie sahen den Widerschein des heruntergebrannten Feuers, an dem sich die Quorrl während der Nacht aufgewärmt haben mußten. Skar fragte sich, warum sie unter freiem Himmel übernachtet hatten, statt in einem der leerstehenden Häuser Schutz zu suchen.

Titch zögerte keine Sekunde, sondern ging im Gegenteil plötzlich schneller. Skar hörte einen überraschten Schrei auf der anderen Seite des Palisadenzaunes, dann riß Titch das erbeutete Schwert in die Höhe und wandte sich mit einem Sprung nach links, und aus dem Schrei wurde das entsetzliche Geräusch reißenden Stahls, der durch Fleisch und Knochen schnitt. Es war vorbei, ehe Skar und Kiina hinter Titch durch das Tor stürmten. Zwei der drei Quorrl lagen tot am Boden, der dritte krümmte sich stöhnend und preßte beide Hände auf eine lange, heftig blutende Schnittwunde in seinem Leib.

Titch versetzte ihm einen Tritt, der ihn halb in die Höhe riß und gegen die Palisadenwand schleuderte. Der Quorrl kreischte vor Schmerz und versuchte gleichzeitig sein Gesicht zu decken und die Hand auf die Wunde in seinen Schuppen zu pressen, aber Titch riß ihn abermals in die Höhe und schlug mit aller Kraft auf ihn ein.

»Titch!« schrie Skar. »Hör auf!«

Titch hörte seine Wort gar nicht, sondern fuhr fort, wie besessen auf den Quorrl einzuschlagen. Skar versuchte ihn zurückzureißen, aber es war, als zerre er an einem Felsen; es gelang ihm nicht nur nicht, Titchs Arm zurückzuhalten, sondern er wurde im Gegenteil mitgerissen, als die Faust des Quorrl abermals mit voller Kraft im Gesicht des verwundeten Kriegers landete. Skar verlor ebenfalls das Gleichgewicht, prallte ungeschickt gegen die Palisade und wäre fast gestürzt.

»Titch - hör auf!« rief Kiina beschwörend. »Wir brauchen ihn noch! Bring ihn noch nicht um!«

Diesmal reagierte der Quorrl. Er riß den Verletzten zwar noch einmal in die Höhe, um ihn mit voller Wucht gegen die Palisadenwand zu werfen, aber seine geballte Faust verharrte plötzlich. Jeder einzelne Muskel in seinem gewaltigen Körper war gespannt; es sah aus, als zerre er mit aller Kraft an unsichtbaren Ketten, die ihn gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen zu ziehen versuchten. Aber dann ließ er die Faust wieder sinken und beschränkte sich darauf, den Quorrl festzuhalten, als er zusammenzubrechen drohte.

Skar warf Kiina einen dankbaren Blick zu - den diese mit einem spöttischen Lächeln quittierte - und wich vorsichtshalber ein paar Schritte vor dem tobenden Quorrl zurück. In Titchs Gesicht mischten sich Mordlust und Verzweiflung zu etwas, das Skar sich plötzlich vor dem Quorrl fürchten ließ. Er spürte, daß Titch ihn töten würde, wenn er versuchte, sich zwischen ihn und seinen Gefangenen zu stellen.

»Töte ihn nicht, Titch«, sagte Kiina noch einmal. Sie sprach schnell, hastig und mit schriller, beschwörender Stimme, aber aus irgendeinem Grund hörte Titch mehr auf sie als auf Skar. »Wir brauchen ihn. Frag ihn, was hier passiert ist. Frag ihn, warum sie das getan haben und wer ihnen den Befehl dazu gegeben hat.«

Titch blickte sie einen Moment lang aus brennenden Augen an, ehe er wieder zu dem Quorrl herumfuhr. Er sagte ein einzelnes, scharf klingendes Wort in einem Quorrl-Dialekt, den Skar nicht verstand. Die Antwort des Kriegers bestand nur aus einem störrischen Kopfschütteln.

Titch schlug ihn, nicht mit der geballten Faust, wohl aber mit aller Kraft, so daß der Kopf des Quorrl wuchtig gegen die Wand flog. Der Krieger stöhnte, aber das trotzige Funkeln in seinen Augen blieb. Titch schlug ihn wieder, und mit noch mehr Kraft. Die Wange des Quorrl platzte auf. Blut lief über seine dunkelgrünen Schuppen.

»Bring ihn nicht um, Titch«, sagte Skar warnend.

Titch funkelte ihn an. »O doch, das werde ich«, antwortete er. »Das werde ich sogar ganz bestimmt. Es liegt nur bei ihm, ob ich es schnell oder langsam tue. Sehr langsam«, fügte er mit einem drohenden Blick auf den wimmernden Gefangenen hinzu. Der Quorrl starrte abwechselnd ihn und Skar an, und Skar war sehr sicher, daß er ihre Sprache verstand.

»Wenn du ihn folterst, bist du nicht besser als sie«, sagte er. »Und?« Titch lachte schrill. »Wer hat gesagt, daß ich das will? Er ist ein Quorrl, ich bin ein Quorrl. Wir sind doch nur Tiere. Aber er wird antworten, keine Sorge. Die Frage ist nur, wie lange es dauert.«

»Titch, du -«

»Warum«, fiel ihm der Quorrl zornig ins Wort, »gehst du nicht zurück in die Stadt und suchst nach einem Quartier für die Nacht?«

Skar setzte dazu an, zu widersprechen. Aber dann sah er das warnende Funkeln in Titchs Augen und schwieg. Ohne ein weiteres Wort wandten Kiina und er sich um und ging in die tote Stadt hinein.

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