18.

Es wurde Mittag, Nachmittag und schließlich Abend. Eine Stunde vor Sonnenuntergang kamen zwei Quorrl und brachten einen hölzernen Bottich voller übelriechender Abfälle, auf die sich die Gefangenen voller Gier stürzten, kaum daß die Quorrl ihn abgesetzt hatten. Es kam zu Kämpfen unter den Männern und Frauen, und längst nicht alle bekamen zu essen. Einige wurden verletzt, und einer so schwer, daß er wahrscheinlich sterben würde.

Auch Skar hatte Hunger, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Allein der Gestank, der dem Bottich entströmte, drehte ihm schier den Magen herum, und schon die bloße Vorstellung, sich wie ein wütendes Tier auf das Essen zu stürzen und darum zu kämpfen, erfüllte ihn mit Grauen. Er betrachtete die schreckliche Szene in einem Zustand zwischen Entsetzen und Lähmung. Sein Vorsatz, Cron zu töten, für das, was hier geschah, war fester denn je. Und gleichzeitig fiel es ihm immer schwerer, diese verdreckten, hechelnden, wimmernden Kreaturen als Menschen zu akzeptieren. Er hatte Titch ein Tier genannt, aber diese zwei Dutzend Gestalten hier waren weniger als Tiere.

Die Sonne ging unter. Durch die beiden winzigen Fenster unter der Decke fiel jetzt der flackernde Schein zahlreicher Feuer, die auf dem Hof entzündet worden waren. Sie hörten Lärm: Gelächter, Stimmen, schrille, atonale Laute, die vielleicht Musik sein mochten, das Wiehern zahlreicher Pferde, und einmal das Klirren von Waffen, das aber nicht von Kampflärm, sondern von Gelächter und anfeuernden Rufen untermalt wurde. Und eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang kam Titch zurück.

Er war nicht allein. In seiner Begleitung befanden sich zwei weitere Quorrl aus Crons Gesinde und ein Krieger. Wie immer, wenn Quorrl das Verlies betraten, wichen die Gefangenen angstvoll vom Gitter zurück und preßten sich gegen die Wand. Aber etwas war anders, diesmal. Titch öffnete die Gittertür und betrat den Käfig zusammen mit den drei anderen Quorrl, blieb aber fast sofort wieder stehen und sah nachdenklich in die Runde. Schließlich deutete er auf einen hochgewachsenen, knochigen Mann, der sich in die entfernteste Ecke des Raumes gedrückt hatte. Die beiden Bediensteten neben ihm setzten sich in Bewegung. Der Mann schrie auf, begann zu wimmern und versuchte verzweifelt, an der Wand hinaufzuklettern. Die Angst gab ihm genug Kraft, daß er sogar einen, anderthalb Meter an Höhe gewann, ehe die Quorrl ihn erreichten und grob herunterzerrten. Er versuchte sich zu wehren, aber die Quorrl brachen seinen Widerstand mit brutalen Schlägen, die ihn halb bewußtlos in ihren Armen zusammensacken ließen.

»Was bedeutet das?« murmelte Kiina entsetzt. Sie hatte geflüstert, aber anscheinend trotzdem zu laut gesprochen, denn der Quorrl-Krieger wandte mit einem Ruck den Kopf und sah stirnrunzelnd in ihre und Skars Richtung. Skar machte eine hastige, verstohlene Geste mit der Hand, still zu sein. Menschliche Gefangene, die sprachen, waren sicher nicht dazu angetan, das Mißtrauen des Kriegers zu zerstreuen.

Außerdem wußte Kiina so gut wie er, was geschah. Titch war gekommen, um das Abendessen auszuwählen.

Erstaunlicherweise brach nicht einmal Panik unter den Gefangenen aus. Titch suchte drei weitere Opfer heraus, die seine Begleiter aus der Menge holten und mit kurzen Stricken zusammenbanden, aber niemand versuchte, etwas zu tun, zu fliehen, oder sich - wie Skar es getan hätte - auf die Quorrl zu stürzen, um lieber im Kampf zu sterben als gegessen zu werden. Diese Menschen hatten keinen Widerstandswillen mehr.

Schließlich wandte sich Titch mit einem zufriedenen Grunzen um, machte ein paar Schritte auf die Tür zu und blieb wieder stehen. Er drehte sich herum, sah stirnrunzelnd und mit schon fast übertrieben geschauspielerter Unschlüssigkeit zu Skar und Kiina hinüber und hob die Hand.

Kiina fuhr zusammen, war aber diesmal geistesgegenwärtig genug, keinen verräterischen Laut von sich zu geben. Die beiden Quorrl kamen auf sie zu, packten Kiina und Skar grob bei den Armen und zerrten sie in die Höhe. Skar wehrte sich, schon um nicht aufzufallen, aber nicht so sehr, daß die Quorrl einen Anlaß fanden, ihn niederzuschlagen. Wie die anderen Gefangenen wurden sie gebunden und mit groben Stößen aus dem Käfig bugsiert. Das Gehen fiel Skar überraschend schwer. Er hatte Mühe, mit den anderen Gefangenen mitzuhalten und handelte sich mehr als einen derben Rippenstoß - einen davon von Titch höchstpersönlich - ein, als sie die Treppe hinaufgingen und das Gebäude durchquerten. Er hatte fast den ganzen Tag zusammengekauert neben Kiina gesessen, so daß seine Muskeln verkrampft und hart waren, aber die Bewegung half nicht; das Ziehen in seinen Gliedern wurde eher schlimmer, als sie das Gebäude verließen und den Hof in Richtung auf Crons Wohnhaus hin zu überqueren begannen. Er mußte all seine Kraft aufwenden, um überhaupt mit den anderen Schritt zu halten und nicht einfach auf der Stelle zusammenzubrechen. Die Zeit, die ihm noch blieb, war kürzer, als er geglaubt hatte.

Der Hof hatte sich seit dem Morgen völlig verändert. In der Koppel neben dem Tor befanden sich jetzt an die fünfzig Pferde, die großen, kräftigen Schlachtrosse, die die Quorrl zu reiten pflegten, ein Gutteil von ihnen noch aufgezäumt. Ein halbes Dutzend spitzer, runder Zelte von weißer Farbe war in scheinbarer Unordnung auf dem Innenhof des Gutes aufgeschlagen worden, und zwischen ihnen brannten Feuer, an denen Skar die Silhouetten einer erschreckend großen Anzahl schuppiger Krieger erkannte. Niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen, aber als sie das Haus fast erreicht hatten, flog ein Stein aus der Dunkelheit heran und traf einen der Gefangenen an der Schulter. Der Mann stieß einen gellenden Schrei aus und fiel auf die Knie herab, und Skar fing im letzten Moment einen warnenden Blick Titchs auf, ehe er herumfahren und etwas Unüberlegtes tun konnte. Selbst ein wütender Blick mochte schon zu viel sein, in ihrer Lage.

Sie betraten das Haus nicht durch den Haupteingang, wie vor zwei Tagen, sondern durch eine Tür auf der rückwärtigen Seite, die so niedrig war, daß sich selbst Skar hindurchbücken mußte. Dumpfes Stimmengemurmel und das flackernde gelbe Licht brennender Pechfackeln schlug ihnen entgegen, und als sie an einer offenstehenden Tür vorbeikamen, gewahrte Skar eine große Anzahl bewaffneter Krieger, die an einer langen, überreich gedeckten Tafel saßen und speisten. Dem Gelächter, Schreien und Lärm nach zu urteilen, den sie verursachten, schienen sie auch dem Wein schon reichlich zugesprochen zu haben.

Schließlich erreichten sie einen kleinen, vollkommen leeren Raum auf der Rückseite des Hauses. Titch versetzte Skar - der am Ende der kleinen Gruppe ging - einen rüden Stoß in den Rücken, der ihn haltlos gegen die Wand taumeln ließ, wandte sich an den Krieger, der ihn und die beiden anderen Quorrl begleitete, und machte eine komplizierte, unterwürfig wirkende Geste. Der Krieger antwortete nicht, drehte sich aber nach ein paar Sekunden plötzlich herum und verließ das Zimmer.

»Schnell jetzt«, sagte Titch, kaum daß sich die Tür hinter dem Quorrl geschlossen hatte. »Wir müssen weg, ehe er zurück ist.« Er gab Skar gar keine Gelegenheit, irgendwelche Einwände oder Fragen vorzubringen, sondern packte ihn und Kiina grob an den Armen und schob sie auf eine zweite Tür auf der anderen Seite der Kammer zu. Einer der anderen Gefangenen versuchte ihnen zu folgen, aber Titch stieß ihn einfach beiseite. Sie durchquerten einen langen, fast völlig dunklen Korridor, einen weiteren Raum und eine kurze, aus Balken roh zusammengezimmerte Treppe, ehe es Skar endlich gelang, sich aus Titchs Griff zu befreien und stehenzubleiben.

»Verdammt, wohin bringst du uns?« fragte er. »Was geht hier überhaupt vor? Die Männer dort unten -«

»Werden getötet«, unterbrach ihn Titch grob. »Du kannst sie nicht retten. Das einzige, was du kannst, ist mit ihnen zu sterben. Willst du das?« Er wartete Skars Antwort nicht ab, sondern stieß eine weitere Tür auf, trat rasch in den dahinterliegenden Raum und kehrte nach kaum einer Sekunde zurück.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Kommt herein, schnell.«

Der Raum, den sie betraten, war fast so dunkel wie der Korridor draußen, aber überraschend behaglich eingerichtet. Ein Bett, das selbst für Quorrl-Verhältnisse groß war, nahm den Großteil des vorhandenen Raumes ein, dazu gab es einen gewaltigen Schrank mit geschnitzten Türen und eine Anzahl allesamt etwas zu groß geratener Sitzmöbel. An den Wänden hingen Bilder, die aber in dem schlechten Licht nur als verwaschene Farbflecke zu erkennen waren.

»Crons Schlafgemach«, sagte Titch, als er Skars fragenden Blick bemerkte. »Ihr seid völlig sicher. Niemand wird hier nach einem Menschen suchen.«

»Dann suchen sie uns also doch«, sagte Kiina.

Titch schwieg eine Sekunde, dann nickte er. »Ja. Aber keine Sorge. Sie wissen, daß wir auf dem Weg nach Ninga sind, aber das ist auch alles. Cant ist groß. Und niemand weiß, wie ihr ausseht.«

»Und du?« fragte Skar.

Titch lächelte flüchtig. »Cron hat viele Bedienstete«, antwortete er. Er machte eine hastige Geste auf das Bett und wandte sich zur Tür. »Ruht euch aus. Ich werde dafür sorgen, daß ihr nicht gestört werdet. Versucht zu schlafen, das tut euch gut. Wir brechen auf, sobald die Krieger betrunken genug sind, um unaufmerksam zu werden.«

Er wollte gehen, aber Skar vertrat ihm mit einer raschen Bewegung den Weg. »Was soll das?« fragte er mißtrauisch. »Wieso brechen wir auf, und wohin? Gestern warst du noch der Meinung, daß wir hier in Sicherheit sind.«

»Das stimmte auch«, sagte Titch ungeduldig. Er versuchte an Skar vorbei zu gehen, aber es gelang ihm nicht. Und aus irgendeinem Grund verzichtete er darauf, ihn einfach aus dem Weg zu schieben, wie er es gekonnt hätte.

»Und jetzt stimmt es nicht mehr?« beharrte Skar. »Was ist passiert?«

»Nichts«, sagte Titch. »Nichts, was dich beunruhigen müßte.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Skar zornig. »So, wie eure geheimen Eßgewohnheiten, wie? Sie haben mich auch nicht beunruhigt, so lange ich sie nicht kannte.«

Titch seufzte. »Bitte, Skar«, sagte er. »Mach es nicht schlimmer, als es ist. Es war schwer genug, Cron dazu zu überreden, uns zu verbergen. Wenn sie euch morgen früh noch hier finden, dann stirbt er genau wie wir. Und wir sind nicht so gut befreundet, daß er sein Leben für mich riskieren würde.« Er schnitt Skar mit einer wütenden Bewegung der Faust das Wort ab, als der abermals widersprechen wollte, und schob ihn jetzt doch aus dem Weg. »Ich bin in ein paar Stunden zurück«, sagte er. »Dann erkläre ich euch alles. Versucht zu schlafen oder tut, was ihr wollt, aber macht um Gottes willen keinen Lärm.«

Skar starrte die geschlossene Tür hinter dem Quorrl wütend an. Für einen Moment war er nahe daran, ihm einfach nachzulaufen; ganz gleich, was dann geschah. Und vielleicht hätte er es sogar getan, hätte Kiina ihn nicht in diesem Augenblick sanft an der Schulter berührt und wortlos den Kopf geschüttelt, als würde sie seine Gedanken lesen. So verließ er seinen Platz an der Tür und begann vorsichtig das Zimmer zu inspizieren; soweit dies in der herrschenden Dunkelheit möglich war.

Crons Schlafraum erwies sich als Enttäuschung. Es gab eine zweite Tür, die aber verriegelt war, und ein schmales Fenster, vor dem ein hölzerner Laden hing, den Skar nicht zu öffnen wagte. Er fand weder Essen noch Wasser, noch etwas, das er als Waffe hätte benutzen können. Der Schrank und die beiden eisenbeschlagenen Truhen, die es gab, waren voller Kleider, grober Röcke und Hemden, aber auch überraschend kunstvoll bestickter Roben und Blusen, die Skar eher in einem Königshaus erwartet hätte als in der Kammer eines Quorrl.

Als er seine Inspektion beendet hatte, trat er ans Fenster. Durch die Ritzen in den Läden konnte er gut genug hinaussehen, um einen großen Teil des Hofes zu überblicken. Und diesmal nahm er sich mehr Zeit dazu als vorhin, auf dem Weg hierher. Er sah jetzt, daß längst nicht alle Quorrl, die neu angekommen waren, die Rüstungen der Tempelgarde trugen. Viele von ihnen waren in schwarze, mit dünnen Silberstickereien verzierte Gewänder gehüllt, die ihnen mehr von einem Priester als einem Krieger gaben und ihn auf bedrückende Weise an Anschi und ihre Drachenreiterinnen erinnerten.

Gerade, als er sich wieder umdrehen und zu Kiina zurückgehen wollte, fiel ihm eine Bewegung am Tor auf. Zwei der schwarzgekleideten Quorrl hatten ein Pferd aus der Koppel geholt, auf dessen Rücken sich ein sonderbares Gebilde aus Stangen und großen, goldbeschlagenen Kisten befand; Kopf und Hals des Pferdes waren unter einem dünnen Zierpanzer aus ziseliertem Goldblech verborgen, und an seinen Fesseln befanden sich lange, gebogene Metalldornen. Die Männer führten das Tier quer über den Hof direkt auf das Haupthaus zu, wobei ihnen die Quorrl-Krieger respektvoll Platz machten. Sie gerieten außer Sicht, ehe Skar erkennen konnte, was es wirklich mit diesem Tier auf sich hatte, aber er spürte, daß er etwas ungemein Wichtiges beobachtet hatte.

Kiina hatte Titchs Rat befolgt und sich auf das gewaltige Bett gelegt, als er vom Fenster zurücktrat. Im ersten Moment glaubte er, sie schliefe, denn sie lag völlig ruhig auf der Seite, den Arm angewinkelt und als Kissen unter den Kopf geschoben, und mit geschlossenen Augen. Wie schon ein paarmal überkam Skar ein warmes, sehr tiefes Gefühl von Zärtlichkeit, als er sie betrachtete. Aber es verging rasch. Er war zu müde und zu zornig, um irgend etwas anderes zu fühlen als Unruhe und Haß.

»Glaubst du, daß wir es schaffen?« fragte Kiina plötzlich. Skar fuhr leicht zusammen. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß sie die Augen geöffnet hatte und ihn ansah. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Es sind viele Krieger draußen.«

»Die Männer unten im Haus«, sagte Kiina nach einer Weile. »Die, die mit uns hergebracht worden sind. Sie... sie werden sie töten, nicht?«

»Ich fürchte, das haben sie schon«, murmelte Skar.

»Um sie zu essen.« Kiina richtete sich auf, zögerte einen Moment und stand dann mit einer überraschend energischen Bewegung ganz auf. Aber sie kam nicht auf ihn zu, sondern ging an Skar vorbei zum Fenster, um auf den Hof hinabzusehen. »Das ist entsetzlich«, flüsterte sie. »Sie sind ... Titch ist ein Ungeheuer, aber ich dachte, er wäre trotzdem dein Freund.«

»Das ist er auch.«

Kiina drehte sich um und starrte ihn an. »Aber sie essen Menschen!«.

»Ich weiß«, sagte Skar. »Du selbst hast einen Drachen geritten. Wie viele deiner Schwestern sind von Drachen gefressen worden?«

»Das ist etwas anderes!« behauptete Kiina erregt.

Skar widersprach ihr nicht, aber er stimmte auch nicht zu, sondern trat wortlos neben sie ans Fenster und blickte wieder auf den Hof hinaus. Er fragte sich, warum er die Quorrl plötzlich verteidigte, aber es war, als könne er nicht mehr zurück, jetzt, wo er diese Rolle einmal übernommen hatte.

»Es ist nicht ihre Schuld«, sagte er leise. »Sie sind nicht von selbst so geworden, Kiina. Dieses Volk ist...« Er stockte. Kiina wußte längst nicht alles, was er wußte. Sie hatte den größten Teil der Zeit, die sie im Turm gewesen waren, schlafend verbracht, und es hatte weder für Ennart noch für Anschi irgendeinen Grund gegeben, ihr die Geschichte der Quorrl zu erzählen, so wie ihm oder Titch.

»Was sind sie?« fragte Kiina, als er nicht weitersprach.

»Ich glaube, das wissen sie selbst nicht«, flüsterte Skar. »Ein Heer. Eine Waffe.« Er zitierte Ennarts Worte aus dem Gedächtnis, so gut er konnte: »Die Antwort der Ssirhaa auf die Kreatur der Sternengeborenen.« Er hob die Hand und deutete auf die Ansammlung von Zelten und großen schuppigen Gestalten unten auf dem Hof. »Die Ssirhaa haben sie erschaffen, verstehst du? Sie sind Krieger. Die perfektesten Kämpfer, die du dir vorstellen kannst. Zu nichts anderem erschaffen als zum Töten. Dieses ganze Volk ist nichts als ein gewaltiges, vergessenes Heer.« Das nur darauf wartet, loszuschlagen und ganz Enwor niederzurennen, wisperte eine Stimme hinter seiner Stirn. Er wußte, daß das nicht wahr war, aber die Stimme seines Dunklen Bruders war verlockend, seine Lüge von einer Art, die sie selbst dann noch gefährlich sein ließ, wenn man sie erkannt hatte.

»Titch ist anders«, widersprach Kiina überzeugt.

Skar nickte. »Und nicht nur er. Sie haben sich verändert. Es ist viel Zeit vergangen.«

»Das klingt, als wolltest du sie verteidigen.«

»Vielleicht will ich es.« Er verbesserte sich: »Nein, nicht vielleicht. Es gibt noch immer Quorrl wie Cron oder diese Krieger da unten. Aber die meisten wollen keinen Krieg mehr. Wir werden Frieden mit ihnen schließen.«

»Frieden? Mit den Quorrl?«

»Hast du nicht selbst Titch gerade verteidigt?«

»Titch ist kein normaler Quorrl!« antwortete Kiina. »Er ist...« Sie suchte nach Worten und hob nach ein paar Sekunden hilflos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber er ist nicht wie die anderen Quorrl.«

Skar spürte, daß das Gespräch sich im Kreis drehte. Kiina war einfach nur müde und krank, und er selbst kaum in der Verfassung, mit ihr zu diskutieren. Ganz davon abgesehen, daß er sich nicht einmal über seine eigenen Gefühle im klaren war. Vielleicht hatte Titch recht, und sie sollten die Zeit nutzen, um ein wenig zu schlafen. Wenn sie flohen und - was nicht auszuschließen war - verfolgt würden, würden sie all ihre Kraft brauchen.

»Leg dich wieder hin«, sagte er. »Ruh dich aus. Ich werde Wache halten.«

Eine Stunde vor Morgengrauen. Skar fuhr aus dem Sessel hoch, in dem er eingeschlafen war. Er brauchte ein paar Sekunden, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er erinnerte sich an einen krausen Traum ohne Handlung, in dem er halb wahnsinnig vor Angst gewesen war, ohne sich darauf zu besinnen, was ihm solche Furcht eingejagt hatte. Und der Geschmack von Blut. Automatisch hob er die Hand und betastete seine Lippen. Der Geschmack war immer noch da, und er fühlte klebrige warme Feuchtigkeit an den Fingerspitzen. Skar konnte selbst nicht sagen warum, aber er vermied es krampfhaft, seine Finger anzusehen, als er die Hand wieder senkte.

»Seid ihr soweit?« fragte Titch, als Skar seine Benommenheit endlich überwunden hatte und ihn fragend anblickte.

Skar nickte, trat an das gewaltige Bett heran, auf dem Kiinas schlafende Gestalt sonderbar verloren wirkte, und rüttelte sanft an ihrer Schulter. Sie erwachte sofort, aber wie Skar schien auch sie Mühe zu haben, den Schlaf ganz abzuschütteln.

»Was ist los?« murmelte sie. »Wo sind wir?«

Skar deutete auf Titch. »Wir müssen weg. Komm.«

Das Mädchen stand auf und bückte sich nach seinem Umhang, aber Titch hielt sie mit einem raschen Kopfschütteln zurück. Skar sah erst jetzt, daß er ein eng zusammengerolltes Bündel unter dem linken Arm trug.

»Zieht das hier an«, sagte er, während er es auf dem Boden ausrollte und zwei schwere, aus grobem schwarzem Stoff gewobene Mäntel zutage förderte. Skar nahm eines der Kleidungsstücke auf und streifte es über, ohne viele Fragen zu stellen. Der Stoff scheuerte auf der Haut und war schwer wie Stein, und obwohl der Mantel sichtlich für einen kleingewachsenen Quorrl gefertigt war, kam er sich darin vor wie ein Kind, das in den Mantel eines Erwachsenen geschlüpft war. Als er versuchte, die Kapuze überzustreifen, fiel sie über seine Stirn und nahm ihm jede Sicht. Titch grinste schadenfroh, als Skar sich wieder befreit hatte.

»Damit kommen wir nie durch«, sagte Kiina, die die gleichen Probleme wie Skar hatte; eigentlich sogar mehr, denn sie war ein gutes Stück kleiner als er.

»Das müßt ihr auch nicht«, erwiderte Titch. »Aber einem flüchtigen Blick halten sie stand. Mehr ist nicht nötig. Cron hat Pferde für uns bereitstellen lassen.«

»Und wenn jemand ein wenig aufmerksamer hinsieht?« fragte Skar.

Titch schüttelte entschieden den Kopf. »Es ist dunkel. Die meisten Krieger schlafen. Niemand wird Notiz von euch nehmen. Und sobald wir erst einmal in den Wäldern sind, sieht uns sowieso niemand.« Er öffnete die Tür, lugte vorsichtig hinaus und hob die Hand. »Alles ruhig. Kommt.«

Sie verließen das Haus auf demselben Weg, auf dem sie es betreten hatten.

Das große, festungsähnliche Gebäude war vollkommen ruhig, und auch über dem Hof hatte sich eine fast unheimliche Stille ausgebreitet, in der das dumpfe Dröhnen aus dem Norden wie das Grollen eines näherkommenden Gewitters klang; halblaut, dumpf und ungemein düster, ein Dröhnen, als bebe die Erde. Skar und Kiina blieben im Schatten der Tür stehen, während Titch ein paar Schritte vorausging und sich sichernd nach allen Seiten umsah. Erst als er ihnen ein Zeichen gab, folgten sie ihm.

Skar fühlte sich nicht gut. Er versuchte sich einzureden, daß dies hier ein ganz normaler Kampf war, eine Situation, wie er sie in der einen oder anderen Form schon unzählige Male erlebt hatte, aber es gelang ihm nicht. Etwas war anders. Sie waren auf der Flucht, und es war auch nicht das erste Mal, daß er dies tat, aber etwas daran war... falsch.

Er machte nur ein paar Schritte, ehe er wieder stehenblieb; halb im Schutze eines Zeltes, aber doch so, daß er aus mindestens zwei Richtungen deutlich zu sehen war. Unsicher sah er sich um. Das Gefühl, einen Fehler zu machen, wurde stärker.

»Was ist los?« fragte Titch unwillig. »Wartest du auf eine Ehrengarde?«

Skar ignorierte ihn. Er wußte, daß da noch etwas war; etwas, das er vergessen hatte. Titch. Titch hatte etwas gesagt, gesagt oder getan, was wichtig war. Aber er wußte einfach nicht, was. Er...

Sein Blick streifte den wuchtigen Steinbau, in dessen Keller sich das Verlies befand. »Die Gefangenen«, sagte er. »Was ist mit ihnen?«

Titch runzelte übertrieben die Stirn. »Was soll damit sein?« fragte er. »Willst du sie mitnehmen?«

»Du hast gesagt, es wäre sinnlos, etwas für sie tun zu wollen«, beharrte Skar. »Was hast du damit gemeint?«

»Was, zum Teufel, soll ich damit gemeint haben?« fauchte Titch. »Sie sterben sowieso, ob jetzt oder in ein paar Tagen. Du kannst nichts für sie tun. Sie waren tot, im gleichen Moment, in dem sie die Grenzen dieses Landes überschritten, das weißt du verdammt nochmal so gut wie ich!« Er machte eine zornige Handbewegung, als Skar erneut widersprechen wollte. »Vielleicht diskutieren wir später darüber, wenn es Euer Gnaden genehm ist«, sagt er bissig. »Oder wenigstens an einem anderen Ort. Wenn sie uns hier draußen finden, dann bekommst du schneller heraus, was ich gemeint habe, als dir lieb sein dürfte. Und wir auch!«

»Er hat recht, Skar«, sagte Kiina. »Wir müssen weg!«

Unter allen anderen Umständen hätte Skar ihr zugestimmt und wäre weitergegangen. Aber etwas war anders. Titch verschwieg ihm etwas, das spürte er. Und es war wichtig, daß er es herausbekam.

»Ich gehe keinen Schritt mehr, ehe du nicht geantwortet hast«, sagte er stur; und in einem Ton, der klar machte, daß er diese Worte bitter ernst meinte.

Titch resignierte. »Also gut«, seufzte er. »Der Bestimmer ist nicht nur gekommen, um die Eier abzuholen. Er hat... Befehle aus Ninga mitgebracht.«

»Befehle, die die Gefangenen betreffen?« vermutete Skar. »Ja.« Titch nickte. »Sie sollen... getötet werden. Und nicht nur hier. Der Befehl gilt überall. Alle menschlichen Gefangenen werden hingerichtet.«

Deinetwegen. Titch sprach dieses letzte Wort nicht aus, aber Skar hörte es so deutlich, als hätte er es getan. Es gab keine andere Erklärung.

Plötzlich erinnerte er sich wieder an die Blicke, mit denen der Krieger am Morgen die Gefangenen gemustert hatte. Die Quorrl wußten, daß sie hier waren. Aber sie wußten nicht, wer sie waren. Also töteten sie alle Menschen, deren sie habhaft werden konnten.

»Das ist -«

»Was immer es ist, es ist nun einmal so«, unterbrach ihn Titch. »Du kannst nichts dagegen tun. Sie wären sowieso gestorben. Vielleicht ist es so barmherziger.«

Natürlich sagte Titch dies nur, um ihn zu trösten; vielleicht ein wenig aufzumuntern. Wenn die Worte in Skars Ohren nicht zynisch klangen, so lag dies ganz allein an ihm, nicht an dem, was Titch sagte, oder wie. Und trotzdem mußte er sich plötzlich beherrschen, um nicht die Faust zu ballen und sie dem Quorrl ins Gesicht zu schlagen.

Vielleicht hätte er es sogar getan, aber aus dem Zelt, hinter dem sie standen, drang plötzlich ein unwilliges Knurren, gefolgt von dem Geräusch, mit dem sich ein schwerer Körper auf einem Lager herumdreht. Für Sekunden erstarrten sie alle zur Reglosigkeit und warteten auf Schritte oder einen alarmierenden Schrei. Keines von beiden kam: aber Skar begriff, daß Titch zumindest in einer Hinsicht recht hatte: dies war wirklich nicht der richtige Ort, um zu diskutieren.

Sie warteten, bis in dem Zelt wieder Ruhe eingekehrt war, und gingen weiter. Skar konnte nicht sehr viel sehen. Wie Kiina hatte er die Kapuze des viel zu großen Mantels tief in die Stirn gezogen und hielt den Kopf gesenkt, so daß er nur den einen schmalen Bereich unmittelbar vor seinen Füßen einsehen konnte. Aber Titch führte sie zuverlässig.

Sie durchquerten das improvisierte Lager, in das die Krieger Crons Hof verwandelt hatte, näherten sich dem Tor und durchschritten es. Es gab tatsächlich einen Wächter, aber wie Titch prophezeit hatte, schlief er tief und fest, wobei er so laut schnarchte, daß sich Skar fragte, wieso der Lärm nicht längst das halbe Lager aufgeweckt hatte.

Er wollte stehenbleiben, als sie den Palisadenzaun hinter sich hatten, aber Titch machte eine rasche, warnende Bewegung und deutete auf eine Felsgruppe, die in der Nacht nur als Ansammlung formloser Finsternis zu erkennen war. Als sie näher kamen, hörte Skar das leise Schnauben eines Pferdes, und unmittelbar darauf trat eine große, in eine silberbestickte Toga gehüllte Gestalt aus der Dunkelheit.

»Ihr kommt spät!« begrüßte sie Cron. »Und ihr macht mehr Lärm als eine Herde wilder Banyas. Warum geht ihr nicht gleich zu den Kriegern und verabschiedet euch von ihnen?«

Titch überging die Bemerkung. »Sind die Pferde bereit?« fragte er.

Cron deutete in die Dunkelheit hinter sich. »Meine drei besten Tiere. Und Nahrung und Wasser für eine Woche.«

»Du scheinst ja plötzlich sehr um unser Wohlergehen bemüht zu sein«, sagte Skar spitz.

Titch blickte ihn erschrocken an, und auch Kiina runzelte verwirrt die Stirn. Aber Skar mußte sich beherrschen, um den Cron nicht auf der Stelle anzugreifen. Es war ihm gleich, ob Cron ihnen half oder nicht, und warum er es tat. Er konnte nur an eines denken: daran, daß er vor wenigen Stunden zusammen mit einem halben Dutzend Männern das unterirdische Verlies verlassen hatte; und daß das riesige schuppige Wesen, das vor ihm stand, höchstwahrscheinlich einen oder zwei dieser Männer gegessen hatte.

Cron überwand den Unmut schnell, den Skars Worte in ihm wachgerufen haben mußten. »Keineswegs, Satai«, sagte er. »Ich will nur sichergehen, daß ihr nicht zurückkommt.«

»Keine Sorge«, sagte Titch. »Das werden wir nicht - wenn du die Wahrheit gesagt hast. Wenn nicht, komme ich persönlich wieder und töte dich, das schwöre ich dir.« Er machte eine Handbewegung zu Kiina. »Bring die Pferde.«

Cron funkelte ihn an. Aber der Streit der beiden Quorrl ging nicht weiter, wie Skar erwartet hatte; Cron drehte sich einfach auf dem Absatz herum und verschwand so lautlos in der Nacht, wie er gekommen war, und Titch starrte ihm finster nach. »Was ist das, zwischen euch beiden?« fragte Skar. »Eine alte Rechnung?«

»Nicht ganz«, antwortete Titch. »Oder vielleicht doch, ja. Aber wenn, dann ist es eine, die er mit allen Kriegern hat. Er haßt uns alle, und die Krieger am meisten. Er hat diesen Hof ganz allein aufgebaut, mit seinen bloßen Händen. Ihm wurde nichts geschenkt. Uns...« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir erzählt, wie die Krieger unseres Volkes behandelt werden, ehe sie Cant verlassen.«

»Und deshalb ist er so verbittert?«

»Nicht nur«, antwortete Titch. »Es gibt Stimmen, die behaupten, Cron wäre in Wahrheit ein Bastard. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber je länger ich ihn kenne, desto mehr glaube ich an dieses Gerücht.«

»Ein Bastard?« Es war das zweite Mal, daß Skar diesen Begriff aus Titchs Mund hörte. Und das zweite Mal, daß er ihn auf so sonderbare Art betonte. »Was soll das sein?«

»Du wirst sie kennenlernen«, antwortete Titch ausweichend. »Sie werden uns helfen, in den Tempel zu gelangen - wenn sie uns nicht vorher umbringen, heißt das.«

Skar kam nicht dazu, eine weitere Frage zu stellen, denn in diesem Moment kehrte Kiina mit den Pferden zurück. Es waren drei riesige, ungemein starke Tiere, die durch ihren stämmigen Körperbau kleiner wirkten, als sie waren. Hinter ihren Sätteln waren prall gefüllte Packtaschen festgeschnallt, und am Sattelzeug des größten Tieres entdeckte Skar einen ledernen Waffengurt, aus dem die Griffe von zwei Schwertern ragten. Eines davon gehörte ihm.

Sie stiegen in die Sättel, wobei Skar sich mit nur einer Hand so ungeschickt anstellte, daß Kiina ihm schließlich wortlos half, und wendeten die Tiere. Titch deutete auf einen schmalen Trampelpfad, der nur ein Dutzend Schritte vom Tor entfernt vom Hauptweg abzweigte und im Wald verschwand.

Aber Skar ritt nicht los. Er drehte sein Tier ganz im Gegenteil mit einemmal wieder um und sah noch einmal zu Crons Hof zurück. Die Männer und Frauen dort drüben würden sterben, wahrscheinlich noch bevor die Sonne aufging. Und es war seine Schuld.

»Es gibt nichts, was du für sie tun könntest.« Titchs Hand berührte fast sanft seinen verwundeten Arm. »Sie wären so oder so gestorben, Skar. Du weißt das.«

Skar streifte seinen Arm ab. »Ich weiß.« Er drehte sich im Sattel herum und machte eine Bewegung, als wolle er sein Pferd wenden, verhielt dann aber im letzten Augenblick noch einmal. »Mein Schwert«, verlangte er. »Gib es mir zurück.«

Titch zögerte, und für einen winzigen Moment war Skar fast sicher, daß der Quorrl wußte, was er vorhatte. Aber dann beugte er sich schweigend zur Seite, löste die lederne Scheide mit dem Tschekal von seinem Sattelgurt und reichte ihm die Waffe. Skar befestigte die Hülle ungeschickt an seinem Gürtel, zog das Schwert hervor und drehte die schmale, glitzernde Klinge in der Hand. Das Gefühl von Stärke und Unbesiegbarkeit, das ihn fast jedesmal überkam, wenn er die Klinge aus unzerstörbarem Stahl zog, blieb diesmal aus. Er fühlte sich nur elend.

»Was hast du vor?« fragte Titch. »Willst du ganz allein zurückreiten und sie befreien?« Der Quorrl versuchte zu lachen, aber es mißlang. Die Worte hatten scherzhaft klingen sollen, aber sie taten es nicht.

Skar sah ihn an, ergriff das Schwert fester und nickte. »Ganz genau das.«

Titchs Augen weiteten sich überrascht, aber er kam nicht einmal mehr dazu, etwas zu sagen. Er war ihm einfach zu nahe, als daß er noch irgend etwas tun konnte. Skar schlug ihm den rubinbesetzten Knauf des Tschekal mit solcher Wucht gegen die Stirn, daß er glaubte, den Schädel des Quorrl knirschen zu hören. Titch seufzte, sank im Sattel nach vorne und drohte vom Pferd zu stürzen. Skar ließ blitzschnell seine Waffe fallen, fing den Quorrl auf und stemmte sich mit aller Gewalt gegen sein Gewicht.

Seine Kraft reichte nicht. Er spürte, wie Titch weiter und weiter aus dem Sattel glitt und nun auch noch ihn zu Boden zu reißen drohte, und zu allem Überfluß begannen nun auch ihre Pferde unruhig zu tänzeln.

»Kiina! Hilf mir!« verlangte er.

Das Mädchen hatte fassungslos zugesehen, was er getan hatte, und es begriff offensichtlich auch jetzt noch nicht ganz, warum er es tat. Aber sie reagierte wenigstens. Mit einer Behendigkeit, die Skar ihr in ihrem Zustand kaum noch zugetraut hätte, lenkte sie ihr Pferd neben das des Quorrl und griff mit beiden Händen zu. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, den Quorrl im Sattel zu halten und in eine Lage zu bugsieren, in der er nicht sofort wieder zur Seite kippte.

»Binde ihn fest!« befahl Skar. »Rasch. Wir beide bekommen ihn nie wieder aufs Pferd, wenn er stürzt!«

»Aber was -?«

»Tu, was ich sage!« unterbrach sie Skar zornig.

Kiina fuhr wie unter einem Hieb zusammen. Aus der Verwirrung auf ihrem Gesicht wurden Zorn und Trotz, aber zu Skars Erleichterung nutzte sie den Moment nicht zu einem ihrer berüchtigten Auftritte, sondern löste gehorsam ein Seil vom Sattel ihres Pferdes und band den Quorrl auf dem Rücken seines Tieres fest, so gut sie konnte.

»Und jetzt verschwindet!« befahl Skar. »Nimm ihn mit und reite eine, zwei Meilen in den Wald hinein. Ich komme nach, sobald ich kann.«

»Warum hast du das getan?« murmelte Kiina verstört.

»Weil er mich niemals gehen lassen würde«, antwortete Skar. »Aber ich muß.«

»Du -« Kiinas Augen wurden groß, als sie endlich begriff. »Du willst zurück?!« ächzte sie. »Aber das ist Wahnsinn! Sie werden dich umbringen!«

»Vielleicht«, antwortete Skar ungerührt. »Aber ich bin es ihnen schuldig. Das mußt du verstehen.« Er wollte sich umwenden und einfach losreiten, und wäre Kiina nicht Kiina gewesen, hätte er es auch getan. Aber er wußte, daß er ihr eine Erklärung schuldig war; so, wie er es diesen Männern und Frauen dort drinnen im Lager schuldig war, daß er zurückkam.

»Verstehen?« sagte Kiina. »Was, Skar? Daß du... alles wegwirfst, nur um einer Geste willen?«

»Es ist nicht nur eine Geste«, widersprach er. »Sie sterben unseretwegen. Du weißt, warum dieser Befehl gegeben wurde, alle Menschen zu töten.«

»Aber sie sterben so oder so!« widersprach Kiina verzweifelt. »Kein Mensch ist jemals lebend aus Cant zurückgekehrt!«

»Das ist etwas anderes«, sagte Skar ruhig. »Ich muß es tun, Kiina. Sie sterben, weil wir gekommen sind. Wenn ich jetzt gehe und sie ihrem Schicksal überlasse, was unterscheidet mich dann noch von Ian und seinen Brüdern?«

»Du... du bist wahnsinnig, Skar«, stammelte Kiina.

»Ja«, antwortete er. »Das bin ich wohl.« Und damit riß er sein Pferd herum und sprengt los, direkt auf das offenstehende Tor im Palisadenzaun des Hofes zu.


ENDE des neunten Bandes


Загрузка...