10.

Die peitschenden Schwingen der Daktylen trugen sie nach Norden, weiter auf ihrem unterbrochenen Weg ins Land der Quorrl und der Toten. Sie blieben nicht zusammen; nach nur wenigen Augenblicken löste sich einer der Drachenvögel aus ihrer kleinen Formation und kippte nach Westen und gleichzeitig in die Tiefe ab, und ohne daß Skar sich nach der Errish umdrehte, wußte er, wohin sie flog: ihr Ziel war ein schmaler, tief eingeschnittener Felsspalt unweit des Turmes, vor dem es nun keine unsichtbare Barriere mehr gab. Er wußte nicht, ob es den Drachen gelingen würde, den Turm zu zerstören. Er wußte nur, daß er das Mädchen wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde, und er sollte recht behalten.

Die Festung blieb rasch hinter ihnen zurück, aber Skar nahm kaum Notiz von dem riesigen Turm, obwohl er ihn jetzt das erste Mal von außen und in voller Größe sah, und vielleicht zum letzten Mal. Dichte Rauchschwaden umgaben den schwarzen Würfel aus Stahl, und als sie sich weiter entfernt hatten, sah er, daß seine Flanken von kleinen und großen roten Pusteln übersät waren, wie von feurigem Ausschlag. Der Anblick erinnerte ihn auf entsetzliche Weise an den Flammenleib des Dämons, dem sie in seinen Kellern begegnet waren. Aber auch an Anschi. Der Tod der Errish ging ihm nahe; viel näher, als er erwartet hatte. Nach allem hätte Anschi vielleicht nicht sein Feind, aber doch alles andere als jemand für ihn sein müssen, der ihm nahe stand. Trotzdem fühlte er sich wie gelähmt, auf eine Art betäubt, die tief ging und sehr schmerzhaft war. Vielleicht war es die Tatsache, daß sie sich geopfert hatte, um sein Leben zu retten, vielleicht waren es auch ihre letzten Worte gewesen: Ich habe meine Schulden bezahlt.

Und wann und vor allem: womit würde er seine Schulden bezahlen? Mit seinem Leben? Lächerlich. Ein Menschenleben reichte längst nicht mehr, um wettzumachen, was er so vielen schuldete.

Der Flug in die Berge, die das Tal der Drachen wie eine allseits geschlossene Mauer umgaben, dauerte den ganzen Tag. Sie rasteten einmal, um den Daktylen eine Pause zu gönnen und sich selbst ein wenig zu stärken. Skar wechselte in dieser Zeit kein Wort mit der Errish, die die zweite Daktyle flog. Sie saßen dicht nebeneinander, enger, als nötig gewesen wäre, und nach einer Weile lehnte sich das Mädchen an seine Schulter. Er spürte, wie es lautlos zu weinen begann, aber er sagte auch dann noch nichts, sondern legte einfach nur den Arm um ihre Schulter und wartete, bis sie sich beruhigt hatte und ihm mit Gesten zu verstehen gab, daß es Zeit war, wieder aufzubrechen. Er war nicht sicher, ob es nur die Trauer um Anschi und ihre Schwester war, die das Mädchen hatte weinen lassen. Vielleicht war Anschi nicht die einzige gewesen, die begriffen hatte, daß auch die Geschichte der Ehrwürdigen Frauen Enwors nichts als eine einzige, große Lüge war.

Als sie wieder auf die Rücken der beiden gewaltigen Flugechsen kletterten, begann Skars linker Arm zu schmerzen.

Mit dem letzten Licht des Tages erreichten sie den Treffpunkt, der nicht aus einer Höhle bestand, wie Anschi gesagt hatte, sondern aus den zerfallenen Resten einer uralten Festung, deren abbröckelnde Mauern selbst am hellen Tag zwischen den millenienalten Kraterwänden so gut wie unsichtbar sein mußten. Skar bemerkte keinerlei Anzeichen von Leben oder gar einer Falle; kein Feuer, keinen Laut, keine Bewegung; aber plötzlich wurden sie von zwei weiteren Daktylen flankiert, die wie aus dem Nichts rechts und links ihrer Reittiere auftauchten, und ein dritter Drachenvogel kam ihnen entgegen, als sich ihre Daktylen mit schwerfälligen Bewegungen auf den Turm der alten Festung herabzuschrauben begannen.

Skar sprang aus dem Sattel, kaum daß das Tier aufgesetzt hatte und ein paar ungeschickte Schritte gehoppelt war. Automatisch sah er sich nach Titch um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Die Gestalten von vier, fünf Errish hoben sich als flache Schatten auf der zerborstenen Turmplattform ab, das war alles.

Er brauchte nichts zu sagen. Eines der Mädchen hob den Arm und winkte ihm, ihr zu folgen, während sich die anderen um ihre Tiere kümmerten oder mit seiner Begleiterin sprachen. Skar ging schneller los als nötig. Mochte die Errish ihren Schwestern erzählen, was in Ennarts Turm geschehen war. Er wollte nicht reden. Er hatte zu viele schlechte Nachrichten überbracht, als daß er noch Gefallen daran fand.

Eine halb zerfallene, geländerlose Treppe führte im Innern des Turmes in die Tiefe. Das Mädchen geleitete ihn durch ein halbes Dutzend leerer, mit nichts als Steinen und dem Staub von Jahrtausenden gefüllter Räume und Korridore, bedeutete ihm, den Kopf einzuziehen und vorsichtig zu sein, und bückte sich unter einem niedrigen Türsturz hindurch. Erst als sie den Arm hob, bemerkte Skar den schwarzen Vorhang, der die Öffnung verschloß. Der Raum dahinter war groß und so verfallen und staubig wie der Rest der Ruine. Aber in einer Ecke brannte ein Feuer, vor dem Skar die beiden ungleichen Silhouetten Kiinas und Titchs erkannte. Ein Stück daneben, weiter von ihnen und der Wärme des Feuers weggerückt, als notwendig erschien, kauerten die Schatten zweier Errish. Bis auf das Mädchen, dessen Leichnam er im Raum der Daktylen gesehen hatte, schien fast allen die Flucht aus dem Turm gelungen zu sein.

Skar bedankte sich mit einem stummen Kopfnicken bei seiner Führerin, ging zum Feuer und ließ sich Titch und Kiina gegenüber zu Boden sinken. Fröstelnd streckte er die Hände über den prasselnden Flammen aus. Er spürte erst jetzt, wie kalt es auf dem Rücken der Daktyle gewesen war. In seinen Fingern war kaum noch Gefühl.

Kiina sah ihn mit einer Mischung aus Freude und Überraschung an, sagte aber kein Wort, während der Quorrl nur weiter blicklos in die Flammen starrte. Skar sah ein halbes Dutzend hastig angelegter, aber frischer Verbände auf seinen Armen und Beinen. Der Gedanke, daß er die Hilfe der Errish angenommen hatte, überraschte ihn ein wenig.

»Wie lange seid ihr schon hier?« fragte er, als weder Kiina noch der Quorrl Anstalten machten, von sich aus zu sprechen. Titch reagierte überhaupt nicht, während Kiina nur in einer sonderbar matten Bewegung die Schultern hob. »Nicht lange. Eine Stunde. Eher weniger.« Sie seufzte. Im flackernden Schein der Flammen sah ihr Gesicht plötzlich wieder so krank und eingefallen aus wie das letzte Mal, als sie zusammen an einem Feuer gesessen hatten. »Wo ist Anschi?«

»Tot«, murmelte Skar. Es fiel ihm überraschend leicht, das Wort auszusprechen. Aber eigentlich bedeutete es auch nichts. Es drückte nicht annähernd das aus, was er dabei empfand. Auch Kiina reagierte nicht darauf, und das wiederum war etwas, was Skar sehr erleichterte. Er wußte, daß sie Anschi gehaßt hatte - sie mußte es einfach, nach dem, was sie erlebt und erfahren hatte. Aber sie wirkte weder zufrieden noch erleichtert, sondern nur teilnahmslos, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört.

»Was ist passiert?« fragte Titch plötzlich. Er sah nicht einmal auf. Sein Blick blieb weiter starr in die Flammen gerichtet. Seine rechte Hand zupfte in einer unbewußten Bewegung an einem der frischen Verbände um sein Bein.

Ich wollte, ich wüßte es, dachte Skar. Bei Gott, Titch, ich wollte, ich wüßte es. Laut sagte er: »Der Turm brennt. Ich weiß nicht, ob sie ihn löschen können.« Er zuckte mit den Achseln, um seine Worte zu bekräftigen, und betrachtete nachdenklich seinen linken Arm. Er tat immer noch weh. Während des Rittes war er so angespannt gewesen, daß er den Schmerz kaum bemerkt hatte, aber jetzt war es, als stächen Millionen winziger feiner Nadeln in seine Haut. Der Schmerz war nicht sehr schlimm, aber von jener penetranten Art, die es einem unmöglich machte, ihn zu ignorieren.

»Aber selbst wenn es ihnen gelingt«, fuhr er nach einer Pause fort, »haben sie nichts mehr als eine Ruine. Es war Ennart, dessen Macht wir gespürt haben. Nicht die des Turmes.« Was nur die halbe Wahrheit war. Aber Skar hatte sich längst entschieden, weder Kiina noch dem Quorrl etwas von dem zu erzählen, was in den Katakomben unterhalb des Turmes geschehen war, und wie es ihm gelungen war, die Kreatur zu besiegen, die Ennart in seinem Wohnsitz heraufbeschworen hatte. Er wußte auf beide Fragen keine Antwort.

»Anschi ist tot, sagst du?« fragte Titch, als hätte er Skars Worte erst jetzt richtig verstanden. »Was ist geschehen?«

»Ian hat sie erschlagen«, antwortete Skar knapp. Sein rüder Ton überraschte ihn selbst, und wenn auch Titch nicht darauf reagierte, so sah doch Kiina verwundert auf.

»Ian?«

»Er muß sich irgendwie befreit haben«, sagte Skar. »Ich will nicht darüber reden.«

Kiina schien das zu akzeptieren, während er bei Titch nicht einmal sicher war, ob er seine Antwort verstanden hatte. Skar beugte sich vor, warf einen Holzscheit in die Flammen und betrachtete abwechselnd seinen prickelnden linken Arm und den Quorrl. Keines von beiden gefiel ihm. Um seinen Arm würde er sich später kümmern - da war etwas, im Hintergrund seiner Gedanken, aber nicht sehr weit, was damit zu tun hatte, damit und mit Anschi. Der Anblick des Quorrl bereitete ihm Sorge. Ihre Flucht aus dem Turm und der stundenlange Flug hierher mußte auch Titch bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erschöpft haben, aber das war nicht alles. Titch wirkte... leer. Nicht einfach nur erschöpft, sondern ausgebrannt, eine Hülle aus Fleisch und Blut und Knochen, der die Seele abhanden gekommen war.

Was hast du erwartet? flüsterten seine Gedanken. Er hat seinen Gott getötet.

»Ist mit dir... alles in Ordnung?« fragte er zögernd.

Zum ersten Mal, seit Skar hereingekommen war, sah der Quorrl auf. Seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren, harten Lächeln. »Natürlich«, antwortete er. »Sollte es nicht?«

»Ennart war -«

»Ich weiß, wer Ennart war«, unterbrach ihn Titch, so laut und herrisch - fast drohend, daß die beiden Errish auf der anderen Seite des Feuers überrascht aufsahen. Skar verstand. Der Quorrl wollte nicht darüber reden. Und er akzeptierte es ebenso, wie Titch die Tatsache respektierte, daß er nicht über Anschis Tod sprechen wollte. Fast nur, um überhaupt etwas zu sagen und das Schweigen nicht quälend werden zu lassen, wechselte er abrupt das Thema.

»Was geschieht jetzt?«

»Was sollte deiner Meinung nach geschehen?«

Skar spürte, daß es besser gewesen wäre, zu schweigen. Sie waren alle erschöpft und auf die eine oder andere Weise der Verzweiflung nahe. Es war nicht der Zeitpunkt, Pläne machen zu wollen, die über ihr bloßes Überleben hinausgingen. Alles, was dabei herauskommen konnte, war ein Streit zwischen Titch und ihm. Aber er konnte auch nicht einfach schweigen und den Quorrl seinem Schmerz überlassen.

Er machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in der er hinter den zerfallenen Mauern des Turmes das Tal vermutete. »Was dort passiert ist, ändert nichts. Ich will noch immer in den Norden.«

»So?« sagte Titch böse. »Wozu? Noch ein paar Götter erschlagen?«

»Nein. Nur Betrüger, die sich dafür ausgeben.«

Zu seinem Erstaunen reagierte Titch ganz anders auf seine Worte, als er erwartet hatte. Statt zornig zu werden, lächelte der Quorrl plötzlich. »Du täuschst dich, Satai. Sie sind keine Betrüger. Er war ein Gott.«

»Ein sonderbarer Gott, der verblutet, wenn man ihn durchbohrt«, mischte sich Kiina ein. Skar warf ihr einen gleichermaßen erschrockenen wie warnenden Blick zu, aber Titch reagierte auch diesmal nicht zornig, sondern nur mit einem milden, fast mitleidigen Lächeln.

»Sie sind Wesen aus Fleisch und Blut, das ist richtig, Menschenkind«, sagte er. »Und? Glaubst du, er wäre deshalb weniger Gott?«

»Götter sterben nicht«, beharrte Kiina.

»Eure Götter vielleicht«, erwiderte Titch. »Weil sie niemals gelebt haben. Weil es sie nicht gibt.«

»Dann geh doch zu ihnen, du... du Fischgesicht!« fauchte Kiina. Zornig stand sie auf, fuhr herum und stürmte aus dem Raum. Ihr plötzlicher Wutausbruch überraschte Skar nicht einmal. Sie waren alle zu erschöpft und müde, um noch die Kraft für andere als extreme Gefühle zu haben.

Titch sah dem Mädchen kopfschüttelnd nach, aber er lächelte noch immer, als er sich wieder zu Skar herumdrehte. »Manchmal beneide ich sie«, flüsterte er.

»Kiina?«

»Die Menschen. Euch. Eure Welt ist so... so einfach. So klar.«

»Ich kenne eine Menge Männer und Frauen, die anderer Meinung sind«, wandte Skar vorsichtig ein. Aber er verstand, was der Quorrl meinte, und Titch schien das ebenfalls zu spüren und sparte sich die Mühe, seine Worte zu erklären.

Skar drehte den Kopf und sah zum Eingang. Der Vorhang bewegte sich, aber es war nur ein Windzug. Wie er Kiina kannte, würde sie mindestens zehn Minuten lang durch die Ruine toben und Steine und Mauerwerk mit Fußtritten traktieren, ehe ihr Stolz es ihr gestattete, wieder zurückzukommen. Mehr Zeit, als er brauchte.

Trotzdem senkte er die Stimme fast zu einem Flüstern, als er weitersprach. »Es gibt noch einen Grund, aus dem ich in euer Land muß, Titch.«

Der Quorrl starrte ihn an, schwieg.

»Kiina«, sagte Skar. »Ian und seine ... Maschinen haben sich um sie gekümmert, aber sie ist noch immer krank.«

»So wie du.«

Skar tat so, als hätte er den Einwurf gar nicht gehört. »Das Gift«, fuhr er fort, »das sie in Elay eingeatmet hat, ist noch immer in ihrem Körper.« Und in seinem. Sein linker Arm tat jetzt weh; er mußte sich beherrschen, um die Hand still zu halten, damit Titch nichts davon merkte. »Sie wird sterben, vielleicht nicht mehr innerhalb weniger Tage, aber in ein paar Monaten.«

»Ich weiß«, antwortete Titch ungerührt. »Hast du schon vergessen, wer dir die Legende vom Sternenfeuer erzählt hat, Satai?«

»Und das Wasser des Lebens«, fügte Skar hinzu. »Verdammt, Titch, ich bitte nicht für mich. Ich bin ein alter Mann. Es spielt keine Rolle, ob ich heute sterbe oder in fünf Jahren. Aber Kiina ist jung.«

»Du bittest nicht für dich«, wiederholte Titch seine Worte. »Wie edel. Was bringt euch Menschen eigentlich dazu, zu glauben, eine Bitte wäre weniger als eine Bitte, wenn ihr sie für andere stellt?« Er schnitt Skar mit einer fast zornigen Bewegung das Wort ab, als er antworten wollte. »Was bringt dich dazu, Satai, zu glauben, ich würde dein Leben opfern, um ihres zu retten?«

»Nichts«, gestand Skar. »Du hast recht. Entschuldige. Es war dumm. Wirst du uns helfen?«

»Vielleicht«, knurrte Titch. »Wenn ich es kann. Wenn es dich nicht umbringt. Wenn wir jemals so weit kommen. Der Weg zum Sturz von Ninga ist weit. Sehr weit, vor allem für einen Menschen.« Er drehte sich mit einer abrupten Bewegung zur Seite und machte auf diese Weise deutlich, daß er nicht weitersprechen wollte; schon gar nicht über dieses Thema.

»Wir sollten schlafen«, sagte Skar. »Vielleicht können wir alle morgen früh ein wenig klarer denken.« Er stand auf, reckte sich ausgiebig über dem Feuer und massierte dabei seinen schmerzenden Arm, ohne daß der Quorrl es bemerkte. Es wird dich töten, wenn du, versuchst, es zu entfernen. Aber es wird dich auch töten, wenn du es nicht tust. Er hatte Anschi nicht gefragt, wieviel Zeit ihm blieb, aber er hatte plötzlich das Gefühl, daß es weniger sein mochte, als er bisher angenommen hatte. Sehr viel weniger. »Ich gehe und hole Kiina zurück, ehe sie sich eine Lungenentzündung einhandelt«, sagte er in bewußt lockerem Ton. »Wir reden morgen früh weiter.«

Titch antwortete nicht, sondern rollte sich da, wo er lag, zu einem schuppigen Ball zusammen und schloß demonstrativ die Augen. Skar hatte es plötzlich sehr eilig, den Raum zu verlassen. Er fand Kiina auf der alten Wehrmauer, mit fröstelnd um den Oberkörper geschlungenen Armen gegen die Brüstung gelehnt und den Blick starr nach Süden gerichtet, in den schwarzen Schlund, in den die Nacht das Tal der Drachen verwandelt hatte. Er gab sich keine Mühe, leise zu sein, und Kiina mußte ihn hören, aber sie drehte sich weder zu ihm um, noch reagierte sie, als er sich neben ihr gegen das zerborstene Gemäuer lehnte. Im ersten Moment glaubte er, weit im Süden einen hellen Funken zu sehen, aber der Feuerschein war nicht wirklich; sie waren viel zu weit vom Turm entfernt, um die Flammen erkennen zu können.

Was er jedoch spürte, war etwas anderes: Das unheimliche Flüstern und Drängen in seinen Gedanken war erloschen. Der Turm hatte aufgehört, die Seelen der Menschen zu vergiften. Und nicht nur hier.

»Sie werden uns verfolgen«, sagte Kiina plötzlich.

»Ich weiß.« Skar lächelte aufmunternd, obwohl sie es nicht sah. »Hast du Angst?«

»Nein.«

»Ich schon«, sagte er. »Aber wir werden ihnen entkommen, keine Sorge.« Er dachte an die riesigen Echsen, auf denen Ian und seine Brüder geritten waren, als sie ihnen das erste Mal begegneten, aber der Gedanke beunruhigte ihn nur einen Augenblick. Hier in den Bergen waren sie vor diesen Titanen sicher. »Titch hat mir alles erzählt«, sagte Kiina plötzlich. Skar sah sie an und bemerkte, daß sie nicht mehr ins Tal hinabstarrte, sondern den Blick in den Himmel gehoben hatte.

»Ob sie noch da sind?«

»Sie?«

»Die Sternengeborenen«, sagte Kiina. »Unsere Vorfahren. Sie sind von dort gekommen, nicht? Von dort oben.«

»Ja«, antwortete Skar.

»Aber es sind nur Lichtpunkte.« Sie hob den Arm, spreizte die Finger und bewegte die Hand, als versuche sie nach den Myriaden von Sternen zu greifen, die über ihnen am Himmel funkelten. »Sie müssen unendlich weit entfernt sein, wenn wirklich jede eine Welt ist, so groß wie Enwor. Ich frage mich manchmal, ob sie noch da sind.«

»Kaum«, murmelte Skar. »Es ist...« Er machte eine hilflose Bewegung. »Es ist zu lange her. Selbst für sie.«

»Woher willst du das wissen?« Die Schärfe in Kiinas Stimme überraschte ihn. »Was ist eine Million Jahre für sie? Vielleicht haben sie so lange gebraucht, um hierher zu kommen. Es gibt sie bestimmt noch, irgendwo dort oben.«

»Selbst wenn - sie werden nicht wiederkommen«, antwortete Skar sanft. »Götter kommen selten dann, wenn man sie ruft, weißt du?« Und vielleicht sollten wir beten, daß sie es auch diesmal nicht tun, fügte er in Gedanken hinzu.

»Das spielt keine Rolle«, widersprach Kiina. »Ich weiß, daß sie noch da sind.«

Skar widersprach ihr nicht mehr. Warum sollte er ihr nicht das gleiche Recht zubilligen wie Titch? Er hoffte nur, daß sie nicht eines Tages die gleiche Enttäuschung erleben und feststellen würde, daß ihre Götter keine Götter, sondern das Gegenteil waren.

Für gut zehn Minuten schwiegen sie beide, dann fragte Kiina plötzlich: »Habt ihr euch entschieden?«

»Was meinst du?«

»Das weißt du ganz genau«, antwortete Kiina, in einem Ton, der ihn verwirrt aufblicken ließ. Sie starrte weiter ins Leere, aber auf ihrem Gesicht kämpften jetzt Wut und Hilflosigkeit miteinander. »Der Quorrl und du! Was habt ihr jetzt vor? Mich auf eine Daktyle zu binden und zu Del zu schicken, jetzt, wo alles vorbei ist? Oder willst du mich immer noch bei irgendeiner freundlichen Familie in Pflege geben wie eine Katze?«

Skar war so überrascht, daß er im ersten Moment nicht einmal antworten konnte. Plötzlich begriff er Kiinas sonderbare Gereiztheit. Er hatte vorgehabt, sie zurückzulassen, in Elay, und später, als sie die Stadt zerstört vorfanden, irgendwo, vielleicht bei den Errish. Von alledem, was passiert war, hatte Kiina ja kaum etwas gemerkt. Die vergangene Woche existierte für sie praktisch nicht, denn sie hatte sie schlafend verbracht.

»Keineswegs«, antwortete er.

»So?« Kiinas Augen funkelten zornig. »Was plant Ihr dann mit mir, großer Satai?« fragte sie spitz.

»Zuerst einmal, dir Respekt beizubringen«, antwortete Skar spöttisch. »Und danach wirst du mich begleiten.« Er deutete nach Norden.

Kiina schwieg erstaunt. Sie glaubte ihm nicht völlig, das sah er ihr an. Aber er hatte sie auch noch nie belogen.

»Du meinst, ich... ich komme mit?«

»Ins Land der Quorrl«, bestätigte Skar. »Und mit sehr viel Glück auch wieder zurück. Falls wir es überleben, heißt das.« Er seufzte tief und bemühte sich, ein möglichst resigniertes Gesicht zu machen.

»Nicht, daß mir die Vorstellung gefällt«, fuhr er fort, als Kiina nicht antwortete, sondern ihn nur weiter fassungslos anstarrte. »Aber wir brauchen dich.«

»Wozu?« fragte Kiina mißtrauisch.

»Es ist ein weiter Weg bis ins Land der Quorrl«, antwortete Skar. Er brachte es nicht fertig, Kiina die Wahrheit zu sagen, und diese Lüge war so gut wie jede andere. »Es sind mehr als zweitausend Meilen, allein bis zu seinen Grenzen. Und die Götter und ein paar Quorrl allein wissen, wo dieser Sturz von Ninga ist, und was er ist.«

Kiina sah ihn verständnislos an, und Skar fiel erst jetzt wieder ein, daß sie nicht mehr dabeigewesen war, als Titch diesen Namen erwähnte. »Der Ort, an dem das heilige Wasser der Quorrl ist«, fügte er erklärend hinzu. Er kam der Wahrheit damit viel näher, als ihm recht war, aber Kiina erriet nicht, worauf er wirklich hinauswollte.

»Wir werden fliegen müssen«, fuhr er hastig fort, ehe sie Gelegenheit fand, etwa über seine Worte nachzudenken. »Und leider sind weder Titch noch ich in der Lage, mit diesen Ungeheuern umzugehen. Du kannst es.«

»Das können die Errish auch«, antwortete Kiina mißtrauisch. »Aber sicher«, fügte Skar hinzu. »Das Beste wird überhaupt sein, wir marschieren mit einer ganzen Armee auf das Allerheiligste der Quorrl zu, nicht wahr? Sie werden nicht besonders begeistert darüber sein, aber diese zehn oder zwölf Mädchen hier werden sie schon in die Flucht schlagen.« Er lachte, um den verletzenden Spott seiner Worte nachträglich in einen Scherz zu verwandeln, und streckte die Hand nach Kiina aus.

Sie versuchte nicht, sich seiner Umarmung zu entziehen, sondern lehnte sich im Gegenteil eng an seine Schulter. Sie standen noch lange da, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Skar war entsetzlich müde, aber er bewegte sich nicht, bis Kiina nach einer halben Stunde oder mehr seinen Arm von ihrer Schulter löste und in die Ruine zurückging.

Sie schliefen in der gleichen Haltung ein, in der sie draußen an der Mauer gestanden hatten: eng aneinandergekuschelt und den Arm über den anderen gelegt, und zum ersten Mal seit Monaten, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, seit er erwacht war und sein zweites Leben begonnen hatte, hatte Skar das Gefühl, glücklich zu sein. Vielleicht, dachte er, war es nur diese eine Nacht, die ihnen noch blieb, vielleicht das allerletzte Mal, daß er in den Armen eines Menschen einschlief, der ihn nicht fürchtete, und der nichts von ihm fordern würde, was er nicht freiwillig und gerne zu geben bereit war.

Mit diesen trotz allem sonderbar beruhigenden Gedanken schlief er ein.

Aber nicht einmal diese eine, einzige Nacht wurde ihm geschenkt.

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