4.

Sie hatten sich gefragt, wo die Drachen waren, die diesem Tal seinen Namen und dem ganzen östlichen Teil dieses Kontinents seinen Ruf verliehen hatten. Jetzt sah er sie: nördlich des Turmes, vielleicht hundert Fuß tief, eine Meile breit und sich in schwer zu schätzender Entfernung zu einem unregelmäßigen Oval verbreiternd, erstreckte sich eine offensichtlich künstlich angelegte Felsenschlucht, und da waren sie. Hunderte. Hunderte und Hunderte und Hunderte der riesigen geschuppten Bestien, eingepfercht in einer Koppel. Manchmal, vor allem nachts und wenn der Wind günstig stand, konnte Skar sie hören: ein dumpfes, unruhiges Grollen und Knurren, das niemals ganz aufhörte, manchmal aber fast so etwas wie eine Melodie zu bilden schien, wie ein fremder, schwermütiger Rhythmus, den er mit seinen groben menschlichen Sinnen nicht zu erfassen vermochte, der aber auch in ihm eine Saite zum Klingen brachte.

Skar stand oft hier oben und sah zu den Drachen hinab.

Abgesehen vom Flüstern des Windes, der sich an den stählernen Flanken des Turmes brach, war ihr Grollen der einzige Laut, der in sein Gefängnis drang. Obgleich der Turm gar kein Turm war, sondern ein gewaltiges Geviert aus schwarzen stählernen Wänden, hatte Skar für sich beschlossen, ihn weiter als Turm zu sehen; obgleich dieser Turm also von Menschen und Quorrl (und auch einigen anderen Lebewesen, die er nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte) schier überzuquellen schien, war es hier oben absolut still. Hatte er noch während seines Gespräches mit Ennart geglaubt, es wären einfach die Fenster aus unsichtbarem Glas, die jedes Geräusch verschluckten, so hatte er bald danach begriffen, daß es mehr war. Ein weiteres Wunder dieses Turmes, das von der ungeheuren Macht seiner Erbauer kündete.

Zwei Tage waren seit dem ersten und bis zum Moment auch einzigen Gespräch mit Ennart verstrichen, und der dritte neigte sich seinem Ende entgegen. Er hatte den Ssirhaa nicht wiedergesehen, so wenig wie Titch, und er hatte den allergrößten Teil dieser Zeit hier draußen verbracht, auf einem kleinen, von einem nur hüfthohen schmiedeeisernen Gitter umschlossenen Balkon vor einem der drei Fenster. Obwohl es hier draußen merklich kühler als in seinem Quartier war, ging er fast nur hinein, wenn er es mußte. Drinnen hatte er das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Hier draußen ...

Nun, hier konnte er sich wenigstens einreden, frei zu sein. Und in gewissem Sinne war er es auch. Jenseits des Balkongitters war nichts mehr, nur fünfhundert Fuß Tiefe und ein sekundenlanger, rasend schneller Fall, dem die Erlösung folgen würde, wenn er das wollte. Manchmal fragte er sich, ob Ennart ihm diesen Ausweg absichtlich offengelassen hatte, und wenn ja, warum: ob aus Grausamkeit oder Achtung.

Dabei war er keineswegs in seinem Zimmer eingesperrt. Er war ein Gefangener, aber er wurde behandelt wie ein Fürst. Vor der Tür seines Zimmers - die kein Schloß hatte! - standen Tag und Nacht zwei Männer, die ihm jeden Wunsch erfüllten. Wenn er um etwas bat und es nicht bekam, dann höchstens, weil es in der Stahlfestung nicht existierte. Der einzige Wunsch, den Ian ihm abgeschlagen hatte, war der nach einem Pferd und achtundvierzig Stunden Vorsprung gewesen. Im Turm durfte er sich frei bewegen, so lange und wohin er wollte. Aber es war eine Freiheit, die an den schwarzen Stahlwänden des Turmes endete, denn anders als bei Ennart oder Titch glitten sie nicht von selbst auseinander, wenn er sich einer der verborgenen Türen näherte. Ein paarmal war er zu Kiina gegangen, aber ihr Anblick hatte ihn jedesmal aufs Neue erschreckt, obwohl Ian die Wahrheit gesagt zu haben schien: ihr Zustand besserte sich sichtlich. Ihr Gesicht war noch immer von Krankheit und Siechtum gezeichnet, aber es war keine Totenfratze mehr, die ihm entgegengrinste, wenn er sich über ihr Lager beugte. Was ihn viel mehr erschreckte war, was sie mit ihr taten, denn er verstand es nicht. Und der Gedanke daran, daß nach Kiina auch er auf diesem Bett liegen sollte, gefangen im Netz einer stählernen Spinne, die sein Blut trank.

Aber sein eigenes Schicksal war nicht der Grund für seine Sorge. Skar hatte längst mit dem Leben abgeschlossen, und irgendwoher nahm er die zwar unbegründete, aber unerschütterliche Gewißheit, daß dieser Kampf so oder so mit seinem Tod enden würde. Was ihn beschäftigte, war vielmehr das, was außerhalb dieses Tales geschah. Wenn die Rechnung stimmte, die er für sich angestellt hatte, dann stand Del mit seinem Heer jetzt am Besh, noch zweihundert Meilen und mithin mindestens fünf Tagesmärsche von Ikne entfernt. Aber vielleicht war auch schon alles zu spät; die Schlacht, die er mit allen Mitteln hatte verhindern wollen, längst entschieden. Del mochte schneller vorangekommen sein, als sie angenommen hatten. Das Wetter mochte ihn begünstigt haben, der Widerstand geringer gewesen sein als erwartet... es gab tausend Wenn und Aber, die zwischen einem Plan und seiner Ausführung lagen. Er hatte Ian auch danach gefragt, aber der Zauberpriester hatte nur mit den Schultern gezuckt, und die Männer vor der Tür wechselten fast täglich und schienen wirklich nicht zu wissen, was außerhalb dieses Tales vorging. Manchmal glaubte er zu spüren, daß es schon zu spät war. Vielleicht war es schon zu spät gewesen, als es begonnen hatte.

Der Wind trug den zornigen Schrei eines Drachen heran, und Skar schrak abrupt aus seinen Gedanken. Einer der grauen Schatten bewegte sich auf den Ausgang der Schlucht zu. Skar wußte, daß er ihn nicht erreichen würde. Das Tal lief in einer geröllübersäten Böschung aus, die selbst für einen der großen Drachen zu ersteigen war, aber keines der Tiere tat es. Skar hatte mehrmals beobachtet, wie einer der Drachen aus seinem Gefängnis auszubrechen versuchte, und jeder Anlauf hatte gleich geendet. Auch dieses Tier stürmte wütend los, aber schon nach wenigen Dutzend Schritten erlahmten seine Bewegungen wieder, wurden langsamer, verloren ihre zornige Kraft und wurden schließlich zu einem fast unschlüssig wirkenden Schlendern. Ehe der Drache noch die Hälfte der Böschung erstiegen hatte, blieb er ganz stehen. Der Kopf auf dem langen schlangenartigen Hals bewegte sich verwirrt hin und her, und schließlich machte die Riesenechse kehrt und trottete zu ihren Artgenossen zurück. Anfangs hatte Skar geglaubt, daß es dort unten so etwas wie eine unsichtbare Mauer geben müsse, aber je länger er das Verhalten der Tiere beobachtete, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, daß es etwas anderes war. Vor dem Ausgang der Felsenschlucht war etwas, aber es war kein faßbarer Widerstand. Die Tiere benahmen sich, als lösche etwas ihren Willen aus, das Tal überhaupt zu verlassen.

Skar hatte dieser Beobachtung anfangs kaum Bedeutung zugemessen. Sie war nichts gegen all die anderen Wunder, die er in den letzten beiden Tagen erlebt hatte. Aber je länger er die Drachen beobachtete, desto wichtiger erschienen sie ihm. Es mußte einen Grund dafür gegeben haben, daß sie die Drachen zusammengetrieben und in dieses Tal gesperrt hatten. Sie hatten bewiesen, daß sie in der Lage waren, das geistige Band zwischen Drachen und Errish zu unterbrechen und selbst diese gigantischen Tiere unter ihren Willen zu zwingen. Wenn sie es nicht taten, sondern den Großteil der Drachen einsperrten, dann bedeutete das, daß auch ihrer Macht Grenzen gesetzt waren. Und dieser Gedanke beruhigte Skar.

Er glaubte nicht, daß ihm dies in irgendeiner Form helfen würde. Er hatte verloren, endgültig und total. Selbst die Stimme seines Dunklen Bruders schwieg. Der Daij-Djan, so schien es, war fort, ebenso ausgesperrt wie das Flüstern in seinen Träumen, das ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Der Turm mochte die Quelle des bösen Flüsterns sein, aber er schien seine Bewohner auch gleichzeitig davor zu schützen.

Er wollte sich schon umdrehen und auf sein Zimmer zurückgehen, als ihm eine Bewegung über dem nördlichen Rand des Tales auffiel; ein rasches Flattern hoch oben in der Luft, das nach Augenblicken zu einem Schatten wurde, der sich nach wenigen weiteren Sekunden wieder teilte, bis Skar einen Trupp von insgesamt sechs Daktylen erkennen konnte, die sich in direkter Linie und sehr schnellem Flug auf den Turm zubewegten. Anschi und ihre Mädchen, die von ihrer täglichen Patrouille zurückkehrten. Skar hatte sie gestern beobachtet, und den Tag zuvor. Sie flogen immer zur gleichen Zeit fort und kehrten erst spät am Nachmittag zurück. Er fragte sich, was sie suchten, jetzt, wo Titch und er in der Gewalt der Zauberpriester waren.

Die Daktylen kamen rasch näher, und Skar konnte jetzt die schlanken, in bestickte schwarze Mäntel gehüllten Gestalten auf ihren Rücken erkennen. Reglos blieb er auf dem kleinen Balkon stehen, bis die riesigen Flugechsen in kleiner werdenden Spiralen in den Hof der Festung hinabtauchten und damit aus seinem Blickwinkel verschwanden, dann drehte er sich um und ging in sein Zimmer zurück. Er merkte erst jetzt, wie kalt es draußen gewesen war, und auf seinen nackten Oberarmen erschien nachträglich eine Gänsehaut, obgleich hier drinnen eine behagliche Temperatur herrschte. Ein weiteres Wunder dieses Alptraumturmes: ganz gleich, wie kalt es draußen war, es war immer warm hier drinnen, obwohl nirgendwo ein Feuer brannte. Es war auch immer hell, obwohl es keine Fackeln oder sonstige Lichtquellen gab. Die Luft selbst schien in einem milden, gelben Licht zu strahlen.

Etwas geschah.

Skar konnte nicht sagen, was. Er sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts... und doch: für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, eine Erschütterung zu spüren, etwas wie ein Wanken des Bodens unter seinen Füßen, ohne daß er sich auch nur um den Bruchteil eines Millimeters bewegte. Es war wie... ein Beben, nicht der Dinge, sondern der Realität. Als wären zwei Welten aufeinandergeprallt, hätten sich für einen unendlich kurzen Moment berührt und glitten nun wieder auseinander. Skar taumelte. Für die Dauer eines Atemzuges wurde ihm schwindlig, und plötzlich war es ihm, als würde ein unsichtbarer Schleier von seinen Gedanken gehoben, eine erstickende Decke, die die ganze Zeit über dagewesen war, ohne daß er sie auch nur bemerkt hatte.

Verwirrt hob er die Hände ans Gesicht, fuhr sich über die Augen und sah sich um. Nichts hatte sich verändert. Der Raum war so kalt und unwohnlich wie immer, jeder Gegenstand an seinem Platz, und doch...

Es war, als sähe er ihn das erste Mal.

Das erste Mal so, wie er wirklich war.

Draußen auf dem Gang polterte etwas, und aus dem Hof klang das schrille, unwillige Kreischen einer Daktyle herauf. Skar hörte eine Stimme, ohne die Worte zu verstehen, die sie sagte. Er wollte sich zur Tür wenden, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne, als die Stimme ein zweites Mal und näher erscholl.

Und plötzlich wußte er.

Von einer Sekunde auf die andere sah er alles ganz deutlich vor sich, so klar und logisch, daß er eine weitere Sekunde damit verschwendete, sich verblüfft zu fragen, wieso er nicht schon vor Wochen darauf gekommen war. Plötzlich wußte er, wer Ennart wirklich war, was er wirklich wollte und warum. Alles war ganz klar und logisch, alle Widersprüche mit einem Male erklärt, alle offenen Fragen beantwortet; einschließlich der, wieso es so lange gedauert hatte, bis er endlich begriff.

Etwas hatte ihn am Denken gehindert. Die gleiche Macht, die die Seelen jeder denkenden Kreatur Enwors vergiftete, hatte auch sein Bewußtsein getrübt. Nicht so sehr, daß es ihm aufgefallen wäre, sondern behutsam, wie ein schleichendes, heimtückisches Gift, das seine Gedanken immer nur dann unterbrach, wenn sie sich in eine ganz bestimmte Richtung bewegten...

Del! dachte Skar entsetzt. Großer Gott! Del und das gesamte Heer würden...

Der Gedanke entglitt ihm. Etwas wie ein unsichtbarer, stählerner Besen schien durch seinen Schädel zu fahren und sein Bewußtsein umzustülpen. Plötzlich war wieder nichts als Chaos in seinen Gedanken, alle Teile des Mosaiks noch immer da, aber wieder in heilloser Unordnung. Das Bild, das er für den Bruchteil einer Sekunde in aller Deutlichkeit gesehen hatte, zerbarst wie eine Glasscheibe in Millionen Teile, und dann glaubte er zum zweiten Mal etwas wie ein Erdbeben der Schöpfung selbst zu fühlen. Der Schleier war wieder da. Skar konnte fühlen, wie sich ein ganz bestimmter Aspekt seines Bewußtseins trübte, ohne daß er in der Lage war, etwas dagegen zu tun. Was immer geschehen war, sie hatten es rückgängig gemacht, kaum daß sie ihren Fehler bemerkt hatten.

Verwirrt sah er sich um. Es war wieder still. Aber die Betonung lag auf dem Wort wieder. Er hatte den Schrei der Daktyle nicht vergessen. Auch das magische Schweigen des Turmes war fort gewesen, so wie das unsichtbare Spinnennetz in seinem Kopf, das ihn am Denken hinderte. Für Augenblicke, da war er sicher, hatte die gesamte ungeheuerliche Maschinerie dieses Turmes versagt. Und diese Erkenntnis war ungeheuer wichtig. Er hielt sie fest wie einen Schatz. Mit einem Ruck drehte er sich um und eilte zur Tür.

Im nächsten Moment taumelte er zwei Schritte zurück und sank mit einem Schmerzlaut auf die Knie, denn die Tür wurde so hart aufgestoßen, daß sie ihm vermutlich alle Knochen im Leib zerschmettert hätte, hätte sie ihn voll getroffen und nicht nur gestreift. Unter der Öffnung erschien eine taumelnde Gestalt: einer der beiden Männer, die draußen bereitgestanden hatten, um seine Wünsche zu erfüllen. Sein Gesicht war eine Grimasse der Qual, und sein Mund hatte sich zu einem Schrei geöffnet, ohne daß auch nur der geringste Laut über seine Lippen kam. Sein Wams war rot. Etwas hatte seine Kehle zerfetzt.

Skar fand kaum Zeit, seinen Schrecken zu überwinden, denn hinter dem Sterbenden wuchs plötzlich eine riesenhafte, breitschultrige Gestalt mit einem Gesicht aus Schuppen und Panzerplatten in die Höhe. Von ihrer rechten Hand tropfte Blut. Skar ließ sich einfach zur Seite fallen, als der Quorrl mit einem Wutschrei auf ihn losstürmte, wobei er den sterbenden Zauberpriester einfach beiseite schleuderte. Er entging dem Fausthieb des Giganten nur um Haaresbreite, rollte sich blitzschnell zur Seite und versuchte auf die Füße zu kommen, aber er hatte die Schnelligkeit seines Gegners unterschätzt. Der Quorrl tobte vor Zorn, aber es war nicht jene Art von Zorn, die ihn blind gemacht hätte. Noch ehe Skar sich halb erhoben hatte, war er heran, packte ihn und schleuderte ihn quer durch den Raum. Skar prallte mit furchtbarer Wucht gegen die Wand neben dem Balkon, sank halb benommen zu Boden und kämpfte mit aller Macht gegen die Bewußtlosigkeit an, die seine Gedanken zu verschlingen drohte. Er hörte die Schritte des Quorrl und sah den Giganten als verzerrten Schatten auf sich zustampfen. Er wollte die Fäuste heben, um sich wenigstens zu wehren, aber seine Arme schienen plötzlich Zentner zu wiegen. Der Angriff war so vollkommen überraschend gekommen, daß er nicht die Spur einer Chance gehabt hatte.

Draußen auf dem Gang erscholl ein gellender Schrei. Waffen klirrten, und eine weitere schuppengepanzerte Gestalt erschien unter der Tür.

Wahrscheinlich war es das Auftauchen dieses zweiten Quorrl, das Skar das Leben rettete, denn der Reptilienkrieger rief seinem Kameraden etwas zu, woraufhin dieser mitten in der Bewegung innehielt und sich zu ihm herumdrehte, um ihm zu antworten. Und so kurz diese Frist war, sie reichte.

Es war, als rastete irgendwo tief in Skar etwas mit einem spürbaren Ruck ein, und plötzlich war die Kraft da, die er all die Zeit über so schmerzlich vermißt hatte. Die unsichtbaren Tonnengewichte an seinen Gliedern waren fort, der grausame Schmerz in seinem Rücken erlosch, nicht abgeschaltet, aber in einem Winkel seiner Wahrnehmungen zurückgedrängt, in dem er ihn nicht mehr behinderte. Von einer Sekunde auf die andere war Skar nur noch Satai.

Mit einem Ruck stemmte er sich in die Höhe und hob die Hände; die linke zur Faust geballt und gegen die Hüfte gepreßt, die andere lose und halb geöffnet vor der Brust kreisend. Jeder Muskel in seinem Körper war bis zum Zerreißen angespannt. Der Quorrl registrierte die Bewegung und griff übergangslos wieder an, aber Skar reagierte plötzlich mit einer Schnelligkeit, die er nicht erwartet hatte. Der Quorrl schlug nach seinem Gesicht, aber Skar drehte blitzschnell den Kopf zur Seite, so daß seine Faust gegen die Wand krachte. Der Quorrl schrie vor Schmerz, und Skar gewann einen weiteren, kostbaren Sekundenbruchteil. Seine Handkante traf den Kehlkopf des Quorrl mit aller Macht; ein Hieb, der einen Menschen auf der Stelle getötet hätte und selbst diesen Giganten aufstöhnen ließ.

Er beging nicht den Fehler, den Quorrl wirklich angreifen zu wollen. Der Schuppenkrieger wog mindestens doppelt so viel wie er und bestand nur aus Muskeln und stahlharten Panzerplatten. Selbst wenn Skar bewaffnet gewesen wäre, wäre der Ausgang dieses Kampfes höchst ungewiß gewesen. Aber er hatte seinen Gegner erschüttert und damit die winzige Frist gewonnen, die er brauchte. Skar tauchte blitzschnell unter den Armen des Quorrl hindurch, brachte zwei, drei Schritte Distanz zwischen sich und seinen riesenhaften Gegner und fuhr herum.

Der Quorrl stand noch immer neben dem Fenster und preßte seine Hand gegen die Kehle. Er atmete röchelnd. Blut lief über seine Schuppenhaut. Seine Hand mußte gebrochen sein, und das Atmen bereitete ihm sichtliche Mühe. Der zweite Quorrl war unter der Tür stehengeblieben und rührte sich nicht, nur sein Blick folgte mißtrauisch jeder Bewegung Skars. Wenn sie ihn gemeinsam angriffen, dachte er, dann war er verloren.

Aber das geschah nicht. Nach einer Sekunde drehte sich der zweite Quorrl wortlos herum und verschwand wieder auf dem Gang, offensichtlich vollkommen davon überzeugt, daß sein Kamerad allein mit Skar fertig werden würde.

Skar teilte diese Überzeugung sogar. Er hatte mehr als einmal gegen Quorrl gekämpft, und er hatte mehr als einen von ihnen getötet, aber da war er bewaffnet gewesen oder hatte zumindest Platz gehabt, um den einzigen Vorteil auszuspielen, den ein Mensch einem Quorrl gegenüber hatte: seine Schnelligkeit. Jetzt hatte er nichts als seine leeren Hände und ein Zimmer, das zwar groß war, aber nicht groß genug, um seinem Gegner davonzulaufen. Und selbst wenn es ihm gelang: draußen auf dem Gang wartete mindestens ein weiterer Quorrl auf ihn; dem Lärm nach zu schließen, den er hörte, sogar mehrere.

Skar hatte keine Angst. Dazu war er viel zu angespannt, sowohl körperlich als auch geistig. Sein Blick glitt über die riesige Gestalt des Quorrl, suchte nach einer Blöße, einem noch so winzigen Anzeichen von Schwäche oder Unaufmerksamkeit und fand keines. »Was soll das?« fragte er, nur um Zeit zu gewinnen. »Wieso greift ihr mich an? Ich gehöre zu euch!«

Der Quorrl antwortete nicht. Skar bezweifelte sogar, daß er seine Worte überhaupt verstanden hatte; vielleicht nicht einmal gehört. Der Quorrl war... nicht normal, dachte Skar alarmiert. Nicht im Sinne von verrückt, sondern... verändert. Was ihm gegenüberstand, war kein denkendes Wesen mehr. Die Wildheit in den Augen des Quorrl war die einer reißenden Bestie. Der Quorrl schien nur noch aus Haß zu bestehen. Sie sind Tiere, hatte Ennart gesagt.

Mit wiegenden, vorsichtigen Schritten kam der Quorrl näher. Er bewegte sich langsam, aber jeder Muskel in seinem gewaltigen Körper war angespannt, und seine Augen waren trotz der lodernden Mordlust darin hellwach und erschreckend klar. Seine Hände - sowohl die gesunde als auch die gebrochene - waren zu Krallen geöffnet und vor die Brust erhoben; die Beine des Quorrl waren gespreizt und leicht eingeknickt. Er hob die Füße kaum vom Boden, sondern schlitterte mehr auf Skar zu, als er ging. Reißende Bestie oder nicht: Skar begriff, daß der Quorrl die Kampftechnik, deren Verteidigungshaltung er eingenommen hatte, sehr wohl kannte und wahrscheinlich auch darauf zu reagieren wußte. Bedrückt dachte er an einen seiner Lieblingssätze zurück, die er Del immer und immer wieder eingebleut hatte: Wenn zwei Männer die gleiche Art zu kämpfen beherrschen und gleich gut sind, dann gewinnt am Schluß einfach der, der stärker ist oder die größere Ausdauer hat. Und er war nicht einmal sicher, ob dieser Quorrl wußte, was das Wort Erschöpfung bedeutete ...

Hastig wich er zwei, drei Schritte vor dem graugrünen Giganten zurück, prallte mit dem Rücken gegen die Wand und sah sich gehetzt um. Er saß in der Falle. Der Quorrl hatte ihn in eine Ecke des Zimmers getrieben, aus der es kein Entkommen mehr gab. Wenn er nach rechts auswich, würde er direkt in die tödlichen Klauen des Riesen laufen, und in der anderen Richtung war nur das Fenster und der kleine Balkon, der ...

Skar faßte keinen bewußten Plan, aber sein Unterbewußtsein wußte plötzlich ganz genau, was zu tun war, und es übernahm kurzerhand die Kontrolle über seine Handlungen. Er bewegte sich blitzschnell, und auf eine Art, die jeden Gegner überrascht hätte: ein angedeuteter Schritt nach links, den der Quorrl als Trick durchschaute und auch durchschauen sollte, eine blitzschnelle Bewegung nach rechts und eine blitzschnelle Drehung, die ihn mitten aus der Bewegung heraus abermals nach links und aus der Reichweite der fürchterlichen Krallen seines Gegners brachte.

Der Quorrl brüllte vor Zorn, als seine Hände ins Leere griffen, und kämpfte für eine halbe Sekunde um sein Gleichgewicht. Skar war mit einem Satz bei der Tür, stürmte auf den Balkon hinaus und warf sich zur Seite. Seine weit ausgestreckten Hände packten das dünne Ziergitter, während sein Körper einen grotesken Dreiviertel Salto in der Luft schlug und dann mit entsetzlicher Wucht gegen die Außenwand des Turmes prallte. Seine linke Hand glitt von dem dünnen Metall ab. Für einen schrecklichen Moment hing er nur an einer Hand über dem Abgrund, dann fanden seine Finger wieder Halt und drohten ein zweites Mal abzugleiten, als der gesamte Turm unter der Wucht zu erzittern schien, mit der der Quorrl gegen die Balkonbrüstung prallte. Der Quorrl brüllte vor Schrecken und Schmerz, wurde vom Schwung seines eigenen ungestümen Ansturmes weitergerissen und kippte mit hilflos rudernden Armen nach vorne. Er schrie. Seine Hände griffen verzweifelt um sich, bekamen für einen Sekundenbruchteil das Metallgitter zu fassen und glitten wieder ab. Mit einem gellenden Schrei stürzte der Quorrl an Skar vorbei in die Tiefe.

Auch Skar kämpfte verzweifelt um seinen Halt. Seine Schultern schmerzten unerträglich, und der furchtbare Ruck, mit dem er seinen Sturz abgefangen hatte, hatte etwas in seinem Rücken verzerrt; er konnte den rechten Arm nur unter Schmerzen bewegen. Seine Fußspitzen glitten scharrend über die glatte Außenwand des Turmes und suchten nach Halt, ohne ihn zu finden. Der Abgrund schien an seinen Beinen zu zerren wie mit unsichtbaren Schlangenarmen. Der Druck auf seine Schultern wurde unerträglich. Noch ein paar Sekunden, und er würde dem Quorrl auf seinem Weg in die Tiefe Gesellschaft leisten.

Mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete Skar sich Hand über Hand in die Höhe, zog in einer letzten, verzweifelten Kraftanstrengung die Knie an den Körper und versuchte den Fuß über die Balkonbrüstung zu schwingen.

Seine Kraft reichte nicht. Sein Fuß glitt ab, und Skar kämpfte ein zweites Mal mit verzweifelter Anstrengung darum, nicht vom eigenen Körpergewicht in die Tiefe gerissen zu werden. Der Schmerz in seinem Rücken wurde stärker. Er mußte ernsthaft verletzt sein. Es gelang ihm nicht länger, das Stechen und Wühlen zu ignorieren, und er spürte voller Entsetzen, wie es langsam in eine betäubende Schwere überging, die seine Schulter lähmte, dann seinen Oberarm.

Als die Lähmung seine Hand erreichte und seine Finger endgültig abzurutschen drohten, packte eine gewaltige Kralle nach seinem Arm. Skar wurde brutal nach oben gerissen. Seine Brust schrammte schmerzhaft über das Balkongitter, und dann legte sich eine zweite, entsetzlich starke Hand um seine Kehle und drückte zu. Das schuppige Gesicht des Quorrl starrte ihn an, die Lippen zu einem tödlichen Raubtiergrinsen gebleckt. Der Druck auf Skars Hals wurde unerträglich. Noch eine Sekunde, und der Quorrl würde ihm einfach den Kehlkopf zerquetschen. Und in diesem Augenblick erkannte Skar den Quorrl.

»Titch!« keuchte er ungläubig.

Er wußte nicht, woher er den Atem nahm, dieses Wort zu flüstern, aber es gelang ihm, und Titch hörte es. Für eine winzige, endlose Sekunde erstarrte der Quorrl. Der Druck seiner Hand ließ nicht nach, aber er steigerte sich auch nicht noch mehr. Titch stand einfach reglos da, wie gelähmt, Skar an einem Arm und dem Hals gepackt haltend wie ein Spielzeug.

Skar wehrte sich verzweifelt mit dem bißchen Kraft, das er noch hatte. Er versuchte nach dem Quorrl zu treten, traf aber nur das eiserne Gitter, das sich noch immer zwischen ihm und Titch befand. Seine freie Hand schlug nach Titchs Gesicht, aber in seinen Hieben war keine Gewalt mehr, und Titchs Augen befanden sich nicht in Reichweite seiner tastenden Finger. Titch stöhnte; ein tiefer, grollender Laut, der nicht aus seiner Kehle kam, sondern tief aus seiner Brust. In die flackernde Mordlust in seinem Blick mischte sich Entsetzen; Schmerz, der weit über körperliche Pein hinausging. Er wankte, riß Skar mit einem jähen Ruck noch weiter in die Höhe und ließ ihn unvermittelt los.

Skar stürzte schwer auf den metallenen Boden des Balkons und blieb liegen. Sein Herz raste. Titchs Hand schien noch immer an seinem Hals zu sein. Er konnte nicht atmen, und in seinen Lungen war ein stacheliger Ball aus Feuer, der ihn vor Schmerz hätte aufschreien lassen, hätte er die Luft dazu gehabt. Mit letzter Kraft wälzte er sich auf den Rücken und konzentrierte all seinen Willen darauf, zu atmen, eine simple Tätigkeit, die plötzlich unendlich schwer geworden war.

Es gelang ihm. Flüssiges Feuer rann seine Kehle hinab und verbündete sich mit dem Schmerz in seinen Lungen, aber plötzlich bekam er wieder Luft. Tränen des Schmerzes in den Augen, richtete Skar sich auf, schlug beide Hände gegen den Hals und atmete keuchend und so schnell, daß ihm schwindlig wurde. In seinem Kopf drehte sich alles. Schwäche überflutete ihn wie eine warme, schmeichelnde Woge. Aber er durfte der Verlockung nicht nachgeben. Wenn er die Augen schloß und sich gestattete, das Bewußtsein zu verlieren, würde er nie wieder erwachen. Mit aller Macht zwang sich Skar, den Kopf zu heben.

Als er die Augen öffnete, stand Titch über ihm, breitbeinig, noch immer halb gelähmt vor Schrecken und Entsetzen, aber in veränderter Haltung: seine rechte Hand war zur Faust geballt und zum tödlichen Schlag erhoben. Seine Augen waren weit. »Du!« flüsterte er. »Du?«

Der Klang dieses einzelnen Wortes ließ Skar erschauern, denn es lag ein Haß darin, wie er ihn niemals zuvor in der Stimme eines lebenden Wesens gehört hatte.

»Titch!« würgte Skar hervor. »Ich bin es! Skar! Titch!« Titchs Blick flackerte. Sein Mund öffnete sich zu einem hellen, fast winselnden Stöhnen - und plötzlich fuhr er herum, schrie wie unter unerträglichem Schmerz auf und schlug die Faust mit aller Gewalt gegen die Wand. Seine Knöchel platzten auf. Blut lief über seine Hand und besudelte Titchs Lippen, als er zurücktaumelte und die Faust gegen den Mund preßte.

Skar versuchte auf die Beine zu kommen, aber seine Beine knickten einfach unter ihm weg. Mühsam kroch er auf den Quorrl zu, hob den Arm und versuchte nach ihm zu greifen, aber Titch wich mit einem neuerlichen Schrei vor ihm zurück, preßte sich gegen die Wand und begann zu wimmern.

»Nein!« stöhnte er. »Geh ... weg, Skar. Flieh! Flieh, oder ich muß dich töten!«

»Das wirst du... nicht tun«, krächzte Skar. Er wollte den Quorrl anschreien, aber er konnte es nicht: sein Hals war ein einziger, pulsierender Schmerz. Alles, was er zustande brachte, war ein heiseres Flüstern. »Kämpfe dagegen. Du kannst es, Titch. Es ist dasselbe, was ... sie mit mir getan haben, und allen anderen. Aber jetzt trifft es euch. Es ist... nicht dein ... Wille.«

Der Quorrl schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen. Langsam sank er an der Wand entlang zu Boden und legte den Kopf auf die Knie. Seine Krallen fuhren mit scharrenden Geräuschen über den Stahl des Turmes.

»Geh, Skar«, keuchte er. »Ich will es nicht, aber etwas... zwingt mich.«

»Kämpfe dagegen!« sagte Skar beschwörend. »Du kannst es. Es ist dieser verdammte Turm, Titch. Die gleiche Macht, die mich zwingen wollte, dich zu töten! Ich habe sie besiegt, und du kannst es auch!«

Der Quorrl krümmte sich wie unter Schlägen. Sein ganzer Körper bebte, und seine Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, als er Skar ansah. Speichel quoll über seine Lippen und vermischte sich mit dem Blut auf seinem Kinn. Er sah nun wirklich aus wie ein Ungeheuer; ein Raubtier, das soeben sein Opfer gerissen hatte.

»Kämpfe dagegen an!« sagte Skar noch einmal. »Du kannst es. Wenn ich es gekonnt habe, dann kannst du es auch. Titch!« Titch schrie wie unter Schmerzen, bäumte sich auf - und löschte Skars Bewußtsein mit einem einzigen, furchtbaren Fausthieb aus.

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