15.

Sie verließen die Stadt noch in der gleichen Stunde. Während der nächsten beiden Tage und Nächte ritten sie weiter nach Norden, aber auch zurück in den Osten. Sie hatten nicht nur fünf, sondern ein ganzes Dutzend Pferde gefunden, die sie allesamt mitnahmen, so daß sie die Tiere oft wechseln konnten und nur Pausen einzulegen brauchten, wenn sie erschöpft waren. Skar schätzte, daß sie an die zweihundertfünfzig Meilen zurücklegten, ohne etwas anderes als monotone, scheinbar endlose Wälder und noch eintönigere, noch endlosere Ebenen aus karstartigem Gestein und dürren graugrünen Dornenbüschen zu sehen. Von Titch hatte er erfahren, daß es zahlreiche Gruppen wie die gab, auf die sie am ersten Tag gestoßen waren; kleinere und größere Einheiten schwerbewaffneter Soldaten, die auf der Suche nach heimkehrenden Kriegern die verstreut daliegenden Dörfer und Ortschaften bewachten oder die Wälder durchstreiften, so daß sie große Umwege in Kauf nahmen, um Straßen und Ansiedlungen aus dem Weg zu gehen. Trotzdem wurden sie zweimal fast überrascht: das erste Mal tauchte die Spitze eines Reitertrupps so überraschend vor ihnen auf, daß sie buchstäblich erst im allerletzten Moment in den Wald zurückweichen konnten, das andere Mal sahen sie in der Nacht ein Feuer zu spät; Titch war gezwungen, einen der Posten zu erschlagen und sich für Stunden von ihnen zu trennen, um eine falsche Spur zu legen, denn es war sicher, daß sie verfolgt wurden.

In der dritten Nacht bekam Skar wieder Fieber. Seine Verletzung hatte ihm bisher erstaunlich wenig zu schaffen gemacht, die Wunde heilte gut und schmerzte fast gar nicht mehr, aber der rasende Flug hierher und der unmittelbar anschließende Gewaltritt waren für ihn zu viel. Den Weg hierher hatte er mit Kraftreserven bewältigt, die er eigentlich nicht antasten durfte; dem geheimen Reservoir an Lebenskraft, das tief in jedem Menschen schlummerte, das ein Satai aber ungleich besser zu nutzen verstand. Aber auch diese Reserven waren irgendwann einmal aufgebraucht, und dieser Moment schien jetzt erreicht zu sein. Bis zum Morgen war das Fieber so weit gestiegen, daß er zu phantasieren begann. Er stürzte zweimal vom Pferd, bis Titch ihn kurzerhand am Sattel festband. Er verlor ein paarmal das Bewußtsein, und im Laufe des Tages begannen sich seine Sinne so weit zu verwirren, daß er kaum noch etwas von dem registrierte, was um ihn herum und mit ihm geschah. Irgendwann hörte der Wald auf, und dann waren Stimmen da und Bewegung und große geschuppte Schatten, die sie umgaben. Und dann nichts mehr.

Irgendwie begriff er, daß man ihn vom Pferd hob und wegtrug; es waren sehr starke Hände, die ihn hielten, viel stärker als die Kiinas, stärker sogar noch als die Titchs, und irgendwann im Verlauf der folgenden Nacht registrierte er auch noch, daß er wieder in einem Zimmer war, nicht mehr auf einem Lager unter freiem Himmel. Etwas war falsch an diesem Raum, und an den Gestalten, die ihn umgaben und sich um ihn sorgten, aber sein Vermögen, war zu denken, reichte nicht mehr aus, zu ergründen, was so falsch und bedrohlich an diesen Eindrücken war. Als er erwachte, war es wieder Morgen. Durch ein schmales, sehr hohes Fenster direkt neben seinem Bett fiel staubdurchwobenes Sonnenlicht auf sein Lager, und sein linker Arm tat entsetzlich weh; jemand machte sich daran zu schaffen. Er begriff instinktiv, daß es der Schmerz gewesen war, der ihn weckte, und er versuchte ebenso instinktiv, den Arm wegzuziehen. Er konnte es nicht. Der Schmerz wurde noch schlimmer, als eine harte, horngepanzerte Hand nach seinem Armstumpf griff und ihn festhielt. Ein dumpfes Dröhnen war hinter seiner Hand.

Skar wandte stöhnend den Kopf und blickte in ein Gesicht, das er im allerersten Moment für das Titchs hielt, bis ihm die Unterschiede auffielen: es war ein wenig schmaler, sehr viel älter und von einer Unzahl kleiner weißer Narben und Linien zerfurcht, die ihm etwas Maskenhaftes gaben. Die Knochenwülste über den Augen waren kleiner, und das spitze Gebiß unter den rissigen Lippen wies große Löcher auf. Der Quorrl mußte sehr alt sein.

»Wer bist du?« fragte Skar.

In den pupillenlosen dunklen Augen war kein Verstehen. Der Quorrl versuchte zu lächeln und machte gleichzeitig mit der freien Hand ein Zeichen, ruhig liegen zu bleiben. Skar gehorchte, schon wegen der Schmerzen, die ihm der unbarmherzige Griff des Reptilienwesens bereitete. Er ließ sich zurücksinken, drehte den Kopf noch ein wenig weiter und sah mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen auf seinen Armstumpf herab.

Es war das erste Mal, daß er die Wunde wirklich sah, und der Anblick traf ihn härter, als er erwartet hatte. Wo bisher ein harmloser weißer Verband gewesen war, erblickte er nun schwarz verkohltes, narbiges Fleisch, in dem sich Entzündungsherde wie kleine blutige Münder eingenistet hatten. Der bloße Anblick steigerte den Schmerz fast ins Unerträgliche, und die Finger des Quorrl taten ein Übriges dazu, ihm die Tränen in die Augen zu treiben. Aber er biß die Zähne zusammen und ertrug alles stumm. Er wußte weder, wo er war, noch wer dieser Quorrl mit dem vernarbten Gesicht war, aber etwas sagte ihm, daß er nichts zu befürchten hatte. Und selbst wenn - er war nicht in der Lage, irgend etwas zu unterscheiden. Das Fieber hatte ihn weiter geschwächt. Er bezweifelte, daß er auch nur die Kraft gehabt hätte, aufzustehen; geschweige denn, davonzulaufen.

Es dauerte lange, bis der Quorrl aufhörte, sich an seinem Arm zu schaffen zu machen. Er untersuchte und reinigte die Wunde sehr gründlich - allerdings nicht besonders sanft - und trug am Schluß eine dicke, übelriechende graue Salbe auf, die im ersten Moment wohltuend kühlte und dann wie Feuer zu brennen begann. Schließlich bandagierte er Skars Arm neu; und so fest, daß es ihm schon wieder die Tränen in die Augen trieb.

Skar rechnete damit, daß er nun aufstehen und gehen würde, um jemanden zu holen, aber der alte Quorrl blieb noch eine geraume Weile an seinem Lager sitzen und betrachtete aufmerksam sein Gesicht.

»Du sehr tapfer bist«, sagte er plötzlich mit einer Stimme, die wie zerbrechendes Glas klang, und sehr langsam, fast schleppend, aber auch beinahe akzentfrei. »Für einen Menschenmann.«

»Du sprichst unsere Sprache?« antwortete Skar überrascht. »Wenig«, antwortete der Quorrl. »Aber verstehen alles. Schmerzen?«

Skar wollte automatisch den Kopf schütteln, aber noch bevor er es tat, begriff er, wie albern das wäre. Der Quorrl war Arzt, oder zumindest einer, dessen Fähigkeiten denen der Errish nahe kamen. Er nickte.

»Willst... Mittel gegen Schmerz?«

»Wenn du etwas hast.«

Der Quorrl überlegte eine Weile, rührte sich aber nicht.

»Habe«, antwortete er schließlich. »Aber dann schlafen. Lang und tief schlafen. Titch sagt, du nicht willst.«

»Titch ist hier?« entfuhr es Skar.

Was für eine dumme Frage, antwortete der Blick der dunklen Quorrl-Augen. Laut sagte das Schuppenwesen: »Ja. Holen?«

»Und Kiina?«

»Menschenjunges?« Wieder nickte der Quorrl. Dann schüttelte er fast gleichzeitig den Kopf. »Menschenkind hier, aber nicht da. Später sehen. Keine Angst. Keine Gefahr. Freunde.« Aus irgendeinem Grund glaubte Skar dem Quorrl. »Dann geh und hole Titch«, bat er. »Ich muß mit ihm reden.«

Der Quorrl stand auf - Skar sah jetzt, daß er sehr klein war für einen Quorrl, kaum größer als er selbst, und er sah auch, daß er sich gründlich getäuscht hatte: es war kein Quorrl, sondern eine Quorrl-Frau -, schlurfte zur Tür und blieb noch einmal stehen. Ihre Blicke wurden fragend. »Da etwas, ich nicht verstehe«, sagte sie. »Bin Heilerin. Lindere Wunden und Schmerz. Aber kann nicht richtig helfen.« Sie deutete auf Skars Armstumpf. »Nicht nur Wunde. Mehr in dir. Du... krank?«

Skar antwortete nicht gleich. Die Worte der Quorrl weckten eine Erinnerung in ihm, die er nicht haben wollte. »Ja«, sagte er schließlich, leise und in einem Ton, der der Quorrl klar machen mußte, daß er nicht darüber reden wollte.

Aber sie blieb hartnäckig. »Wie krank?« fragte sie. »Mädchen auch krank. Nicht so schlimm wie du, aber gleich. Was? Gift? Fieber aus Sümpfen? Ich wissen, sonst nicht richtig helfen. Vielleicht sterben.«

»Ich weiß«, murmelte Skar. »Aber du kannst mir nicht helfen.« Er versuchte zu lächeln und richtete sich wieder auf seinem Lager auf. »Du hast genug für mich getan«, sagte er. »Jetzt geh und hole Titch - bitte.«

Ein menschlicher Arzt hätte vielleicht widersprochen, aber die Quorrl drehte sich einfach um und ließ Skar allein.

Allerdings nur für wenige Augenblicke. Titch erschien so schnell unter der Tür, daß Skar sicher war, er hatte draußen vor dem Zimmer gewartet. Der Quorrl trug jetzt wieder eine Rüstung - nicht das goldene Schuppenkleid, in dem Skar ihn kannte, sondern einen einfachen Lederharnisch mit dazu passendem Rock. Auf seinem Rücken war ein gewaltiger Schild festgeschnallt, und um seine Hüften wand sich ein Waffengurt, aus dem die Griffe von gleich zwei Schwertern ragten. In einem davon erkannte Skar sein Tschekal. Der dunkelgrüne Umhang, der seine Schultern verhüllte, wurde von einer fast faustgroßen goldenen Spange zusammengehalten, deren Form Skar an etwas erinnerte. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, daß der Quorrl die Kleider eines der Krieger trug, auf die sie bei seinem Dorf gestoßen waren.

»Wie fühlst du dich?« fragte Titch anstelle einer Begrüßung. Skar versuchte sich aufzusetzen, was sich als gar nicht so einfach erwies, mit nur einer Hand und matt wie er war. »Gut«, log er. »Aber wo sind wir? Was ist passiert, und wo ist Kiina?«

»Welche von diesen Fragen soll ich zuerst beantworten?« Titch zog sich einen Schemel heran und ließ sich darauf nieder. »Alle drei.« Skar machte eine weit ausholende Bewegung mit der Hand. »Was ist das hier?«

»Ein Haus. Das Gut von... Freunden«, antwortete Titch. Es gelang ihm nicht ganz, über das kaum merkliche Stocken in seiner Stimme hinwegzutäuschen. »Auf jeden Fall sind wir in Sicherheit. Scrat ist die beste Heilerin, die ich kenne. Vielleicht die beste überhaupt.«

»Das meine ich nicht«, antwortete Skar. Er sah den Quorrl scharf an, aber Titchs Gesicht hatte sich wieder in eine Maske verwandelt, auf der keinerlei Gefühle abzulesen waren. »Es muß ziemlich riskant sein, bei Freunden unterzuschlüpfen, nicht?« Wenn Titch die sonderbare Art auffiel, in der Skar das Wort betonte, so überspielte er es meisterhaft. Er zuckte nur mit den Schultern. »Wir hatten keine Wahl. Du wärst gestorben, wenn niemand dir geholfen hätte. Du erinnerst dich nicht?«

Skar schüttelte den Kopf, aber es war seltsam - Titch schien fast erleichtert darüber zu sein. Skar war jetzt sicher, daß der Quorrl ihm etwas verschwieg.

»Wie fühlst du dich?« fragte Titch noch einmal.

Diesmal dauerte es eine Weile, bis Skar antwortete. »Es geht«, sagte er. »Mein Arm schmerzt, aber es ist zu ertragen. Das Fieber ist fort«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu.

»Gut.« Titch nickte. »Heute abend, spätestens morgen, wirst du einen klaren Kopf brauchen.«

»Und wozu?«

»Wir können nicht hierbleiben«, antwortete Titch. »Es war schon gefährlich genug, herzukommen. Die Palastgarde durchsucht jedes Haus. Es gibt einen Ort, an dem wir uns verbergen können, aber ich bin nicht sicher, ob wir dort willkommen sind. Die Leute, denen er gehört, sind nicht...« Er zögerte, suchte sichtlich nach Worten und rettete sich in ein fast verlegenes Lächeln. »Nun, nicht unbedingt das, was du als meine Freunde bezeichnen würdest.«

Skar sah ihn fragend an, aber Titch schien der Meinung zu sein, daß er für den Moment genug gesagt hatte, dann wechselte er abrupt das Thema. »Es ist schlimmer, als ich dachte«, sagte er. »Sie müssen fast alle Krieger ausgeschickt haben. Jede Straße wird bewacht, und fast täglich kommen Karawanen mit Gefangenen vorbei.« Er stand auf, sah Skar fragend an und streckte die Hand aus. »Kannst du gehen? Nur ein paar Schritte?«

Skar war ganz und gar nicht sicher, aber er nickte tapfer, schwang die Beine vom Bett und wäre prompt auf die Nase gefallen, hätte Titch ihn nicht gedankenschnell aufgefangen. Da ist noch mehr, hallten Skars Worte hinter seiner Stirn nach. Etwas in dir. Du wirst sterben.

Er verscheuchte den Gedanken, löste in einem Anflug von fast kindischem Trotz seine Hand aus Titchs Pranke und schleppte sich aus eigener Kraft durch das Zimmer. Titch runzelte vielsagend die Stirn, enthielt sich aber jeden Kommentars und folgte ihm schweigend.

Die Tür führte auf einen kurzen, fensterlosen Korridor hinaus, der wiederum in einem geräumigen Zimmer endete, das eine Art Mischung aus Wohn-, Schlaf- und Kochraum zu sein schien, denn es gab eine Anzahl sehr großer, strohgedeckter Betten und einfacher hölzerner Möbel, und unter einem sechseckigen Rauchloch unter der Decke eine offene Feuerstelle, in der im Moment allerdings keine Glut brannte. Die Tür nach draußen stand offen, und das Licht verriet Skar, daß es fast Mittag sein mußte. Er hatte länger geschlafen, als er angenommen hatte. Seltsam, daß er sich trotzdem noch immer müde und erschöpft fühlte.

Das Zimmer war nicht leer. Auf einem der Schemel hockte ein runzeliger Quorrl, der Titch und ihn stumm und mit dem leeren Blick eines uralten Greises ansah, und in einer Ecke neben der Tür spielten zwei Quorrl-Kinder mit buntbemalten Holzklötzchen. Der Greis reagierte nicht auf ihr Eintreten, aber die beiden Kinder sprangen hoch und eilten quietschend auf sie zu.

Skar wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als die beiden häßlichen Kreaturen näher kamen. Er hatte niemals eine besondere Beziehung zu Kindern - gleich welcher Rasse - gehabt, aber diese beiden kleinen grünen Dinger mit ihren schlaffen Krötengesichtern und den übergroßen Händen und Füßen waren das mit Abstand Abstoßendste, was er seit langer Zeit gesehen hatte. Sie hatten keine Schuppen, wie Titch oder die anderen erwachsenen Quorrl, die Skar bisher gesehen hatte, sondern eine grüne, wabbelige Haut, die schleimig aussah und außerdem ein paar Nummern zu groß schien, so daß sie fast so runzelig wirkte wie die des alten Mannes auf dem Schemel. Ihre Gesichter waren so häßlich wie die von erwachsenen Quorrls, ohne jedoch die barbarische Kraft zu haben, die die Schuppenkrieger trotz allem stark und beeindruckend wirken ließ. Er mußte sich beherrschen, um nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen, als sich einer der jungen Quorrl an Titch vorbeidrängte und neugierig die Hand nach ihm ausstreckte.

Titch verscheuchte ihn mit einer ärgerlichen Bemerkung, als hätte er Skars Gefühle erraten. Die kleine Kröte wich tatsächlich ein paar Schritte zurück, hörte aber nicht auf, Skar anzustarren, während das zweite Quorrl-Kind an Titchs Bein herumzerrte und dabei hohe, unangenehm quiekende Töne ausstieß.

Skar konnte sich gerade noch beherrschen, Titch nicht dankbar zuzunicken, als der Quorrl auch das zweite Kind wegjagte und ihn mit raschen Schritten zur Tür führte. Er fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut; Titch mußte merken, welches Unbehagen ihm der Anblick der Jungen bereitete.

Aber der Quorrl verlor kein Wort darüber, sondern wartete stumm, bis Skar neben ihm auf den Hof hinausgetreten war. Dann deutete er nach rechts. »Cron erwartet uns. Du wirst mit ihm reden müssen.«

Skars Blick folgte der Geste des Quorrl. Das Haus, in dem er erwacht war, war nur eines von einer ganzen Anzahl, und nicht einmal das größte. Was Titch als Gut bezeichnet hatte, war beinahe schon eine kleine Stadt für sich, von einer doppelt mannshohen Palisadenwand umgeben und kaum weniger groß als das Dorf, in dem sie gewesen waren. Zur Linken erstreckte sich eine gewaltige, mehrfach unterteilte Koppel, in der sich im Moment nur ein knappes Dutzend Pferde aufhielten, die aber mit Leichtigkeit Hunderte von Tieren aufnehmen konnte, rechts und links davon lehnten sich große, aus Holz und Stein erbaute Gebäude an die Palisadenwand. Die Fenster waren allesamt klein und schießschartenähnlich, die Türen so massiv, wie er es auch schon im Dorf erlebt hatte. Die ganze Anlage machte auf ihn eher den Eindruck einer Festung als eines Gutshofes.

Auch das Gebäude, auf das sie nun zusteuerten, wirkte wie eine kleine Burg. Über seinem flachen, zwei Stockwerke über dem Boden befindlichen Dach reckte sich ein wuchtiger Turm mit steinernen Zinnen, und die Fenster waren so schmal, daß Skar kaum einen Arm hätte hindurchstrecken können. Der Anblick dieses Hofes - und jetzt, im nachhinein, auch der der Stadt, in die sie am ersten Morgen gekommen waren - wollte nicht so recht zu Titchs Worten passen, nach denen die Quorrl im Grunde ein friedliebendes Volk waren. Aber Skar verbiß sich auch diese Frage und beeilte sich, Titch zu folgen, der mit weit ausgreifenden Schritten den Hof überquerte. Erneut fiel Skar das dumpfe Grollen und Dröhnen auf, das er schon bei seinem Erwachen gehört hatte; ein Ton, der hier draußen lauter und deutlicher war, den er aber noch immer nicht richtig einordnen konnte. Es klang wie ferner Donner, zugleich aber auch ganz anders, das Geräusch eines Erdbebens, das Dröhnen eines Wasserfalles, von allem etwas und nichts. Er hätte Titch gerne danach gefragt, aber der Quorrl ging so schnell, daß er Mühe hatte, überhaupt mit ihm Schritt zu halten.

Der Eindruck, sich in einer Festung zu befinden, verstärkte sich noch, kaum daß sie das Hauptgebäude betreten hatten. Hinter der Tür - die aus zollstarkem, eisenhartem Holz bestand und zusätzlich mit breiten Streifen aus Metall verstärkt war - befand sich nur ein winziger Raum mit einer zweiten Tür aus daumendicken Eisenstäben, die zwar nicht verschlossen war, aber ganz den Eindruck machte, als müßte selbst einer von Anschis Drachen Mühe haben, sie aufzubrechen. Jedem anderen wäre diese Tür nur sonderbar vorgekommen, aber Skar sah sie mit den Augen eines Kriegers, und er brauchte nur eine halbe Sekunde, um zu begreifen, was diese Kammer wirklich war: eine tödliche Falle für jeden, der die Außentür mit Gewalt aufbrechen würde. Die Decke war niedrig, zumindest für Quorrl-Maßstäbe, und wies eine Anzahl kleiner, runder Löcher auf, über deren Bewandtnis Skar ganz bestimmte Vorstellungen hatte. Dieses Haus war eine Festung. Eine, die selbst Skar sich anzugreifen zweimal überlegt hätte. Mindestens.

»Wer ist dieser Cron?« fragte er, während er Titch durch den schmalen Korridor folgte, der sich der Kammer anschloß. »Der Besitzer dieses Gutes«, antwortete Titch.

»Das meine ich nicht. Ist er ein Freund von dir?«

»Ein Freund?« Titch sprach das Wort auf eine Art aus, die Skar alarmiert zu ihm aufblicken ließ. »Vielleicht«, sagte er nach einer Weile.

»Vielleicht?«

»Jedenfalls hat er uns Unterschlupf gewährt und nicht sofort umgebracht.«

»Oder ausgeliefert«, fügte Skar hinzu. »Wir bringen ihn in Gefahr, dadurch, daß wir hier sind, nicht wahr?«

Titch zuckte mit den Schultern, blieb stehen und stieß mit der linken Hand eine Tür auf, die Skar nicht einmal bemerkt hatte. Das Licht hier drinnen war sehr schwach. Er merkte sich die Frage für später - er hatte nicht vor, Titch die Antwort zu schenken - und trat hinter dem Quorrl durch die Tür.

Cron saß auf einem Stuhl, der selbst für die Maßstäbe seines Volkes geradezu gigantisch war - aber er brauchte ihn auch. Er war der mit Abstand größte Quorrl, dem Skar jemals begegnet war. Selbst sitzend war er fast so groß wie Titch, der auch für einen Quorrl groß war. Im Stehen mußte er ihn um zwei Haupteslängen überragen. Seine Schultern waren geradezu lächerlich breit, und seine Pranken schienen groß genug, den Brustkorb eines normal gewachsenen Menschen zu umspannen - jede für sich. Sein Gesicht war breit, brutal, selbst für einen Quorrl, und von einer breiten, gezackten Narbe verunstaltet, beinahe wie das Skars, nur daß das Schicksal mit Cron nicht ganz so gütig umgesprungen war wie mit Skar: die Narbe verlief über sein Kinn, spaltete seinen Mund und schickte einen gezackten Ausläufer durch den braunen Krater, der einmal sein linkes Auge gewesen sein mußte. Es sah aus, als hätte jemand versucht, sein Gesicht mit einer Axt zu spalten.

»Erschreckt dich, was du siehst?«

Crons Stimme war schrill, ein hysterisches Altmännerkeifen, das ganz und gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung paßte, aber Skar begriff auch fast im gleichen Moment, daß es nicht seine wirkliche Stimme war: Die Narbe zog sich weiter über Crons Hals und verschwand im Kragen seines bestickten Gewandes. Wahrscheinlich waren auch seine Stimmbänder verletzt worden.

»Nein«, antwortete er ruhig. »Ich frage mich, wer das getan hat. Und vor allem, womit.«

»Ein Mensch«, antwortete Cron. »Aber keine Sorge. Es ist lange her. Er hat bezahlt. Du bist Skar?«

»Falls du nicht noch mehr verletzte Satai aufgenommen hast, ja«, antwortete Skar lächelnd.

Er registrierte Titchs warnenden Blick zu spät. In Crons einzigem Auge blitzte es wütend auf, und seine gewaltigen Pranken zuckten, fast als wolle er Skar packen und mit einer einzigen ärgerlichen Bewegung zermalmen. Er beherrschte sich, aber Skar mahnte sich innerlich zur Vorsicht. Cron schien nicht über viel Humor zu verfügen.

»Ich bin Skar, ja«, fügte er rasch hinzu. »Und du mußt Cron sein.«

»Ja. Du hast von mir gehört?«

Skar schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihn sofort zu Euch gebracht«, sagte Titch. »Wie Ihr befohlen habt.«

Befohlen? Skar mußte sich beherrschen, um den Quorrl nicht abermals erstaunt anzublicken. Er hatte bisher geglaubt, daß es niemanden gab, von dem Titch Befehle entgegennahm. Wer immer dieser Cron war, er mußte über erstaunliche Macht verfügen. »Was wollt ihr hier?« fragte Cron.

Skar verstand den Sinn der Frage nicht sofort. Hilfesuchend sah er Titch an, aber der Quorrl wich seinem Blick aus.

»Ich... ich begreife nicht ganz, was Ihr meint, Cron«, sagte er vorsichtig. »Titch brachte mich her, weil ich verletzt wurde, und -«

»Das meine ich nicht.« Crons Zeigefinger - der fast so dick wie Skars Handgelenk war - stocherte drohend nach seinem Gesicht. »Das Menschenmädchen und du - was wollt ihr in unserem Land? Hat euch niemand gesagt, daß es für Menschen verboten ist, hierher zu kommen?«

»Doch.« Skar sah wieder zu Titch auf, aber der Quorrl wich ihm noch immer aus. Aus welchem Grund auch immer - von Titch hatte er keinerlei Hilfe zu erwarten. Er beschloß, das einzige zu tun, was ihm vernünftig erschien, und so nahe an der Wahrheit zu bleiben, wie nötig. »Aber ich hatte keine große Wahl.«

»Als hier zu sterben?« Cron lachte. »Du weißt nicht, wovon du sprichst, Satai. Wenn du der Tempelgarde in die Fänge gerätst, wirst du dir wünschen, nie geboren zu sein.«

»Möglich«, antwortete Skar achselzuckend. »Aber ich hatte nicht vor, mich fangen zu lassen. Und was ich zu tun habe, ist wichtiger als mein Leben.«

»Papperlapapp!« Cron machte ein unflätiges Geräusch.

»Nichts ist wichtiger als das Leben, Satai. Wenn du stirbst, dann kann auch die Welt zum Teufel gehen, denn du hast nicht mehr viel davon, wenn sie sich weiterdreht. Was ist es, was du so Wichtiges in Cant zu erledigen hast?« Er kicherte. »Die Welt retten?«

»Genau das«, antwortete Skar.

Er konnte regelrecht sehen, wie dem Quorrl das Lachen im Halse stecken blieb. Drei, vier Sekunden lang starrte er Skar irritiert an, dann wandte er sich mit einem Ruck an Titch und kreischte ein paar Worte mit seiner unangenehm fistelnden Stimme, die Skar nicht verstand. Titch antwortete sehr ruhig, aber auch in sehr bestimmten Ton darauf, und etwas Neues, für Skar nicht genau zu Deutendes trat in Crons Blick, als er sich wieder an ihn wandte.

»Du willst also ins Land der Toten, wie Titch erzählt hat«, sagte er. »Was willst du dort, außer selbst zu einem Toten werden?«

Plötzlich wurde Skar zornig. Er hatte das Gefühl, eine Farce zu erleben, in der nicht nur Cron, sondern auch Titch mitspielte. Und er war einfach zu müde, um Zeit damit zu verschwenden. »Verdammt, was soll das?« schnappte er. »Wenn Titch dir schon alles erzählt hat, was soll dann dieses Verhör? Er hat dir die Wahrheit gesagt, und du wirst auch von mir nichts anderes hören!«

»Vielleicht will ich ja belogen werden«, antwortete Cron. »Vielleicht gefällt mir ja die Wahrheit nicht. Wer weiß - vielleicht gehöre ich zu denen, die nicht begeistert von der Vorstellung sind, einem Menschen dabei zu helfen, unsere Heiligtümer zu entweihen.« Er beugte sich in seinem Sessel vor, einer lebenden Lawine aus Fleisch und Panzerplatten gleich, die Skar einfach zermalmen mußte, wenn sie sich auch noch eine Winzigkeit weiter bewegte. »Vielleicht sollte ich euch der Tempelgarde übergeben, oder besser noch, den Bastarden.«

»Bring uns einfach zu ihnen«, mischte sich Titch ein. »Mehr verlange ich nicht.«

Crons Kopf ruckte herum. »Du verlangst?« wiederholte er. »Was verlangst du, General? Du hast nichts mehr zu verlangen.«

»Cron, bitte«, sagte Titch. »Wir beide sind immer gut miteinander ausgekommen, und -«

»O ja«, unterbrach ihn Cron, in höhnischem, bewußt überheblichem Ton. »Du bist hierhergekommen, mit deinen Kriegern und deinen Waffen, und du hast mir erlaubt, gut mit dir auszukommen. Du hast meine Frauen genommen, meinen Wein und mein Vieh, und du hast mir großzügig erlaubt, mich dafür zu bedanken. Dafür schulde ich dir einiges, du hast recht.«

»Wenn du so denkst, hättest du uns gleich umbringen sollen.«

»Wer sagt, daß ich das nicht noch tue?« gab Cron unbeeindruckt zurück. Titch wollte antworten, aber Cron schnitt ihm mit einer unwilligen Geste das Wort ab und drehte sich wieder zu Skar herum. »Man sucht euch, Satai«, sagte er. »Dich, das Menschenmädchen und diesen Krieger -« Er deutete auf Titch. »- hier. Auf eure Köpfe steht eine Belohnung. Was sollte mich davon abhalten, sie zu verdienen? Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß ich mein Leben riskiere, wenn ich euch nicht ausliefere.«

»Vielleicht die Tatsache, daß wir alle in Gefahr sind«, antwortete Skar. »Nicht nur du und ich, sondern mein Volk und deines. Alle Volker Enwors.«

»Mehr nicht?« sagte Cron spöttisch.

»Vielleicht schon«, antwortete Skar. Er dachte an den gehörnten Flammendämon, den er in den Kellern des flüsternden Turmes gesehen hatte, und die unglaubliche Bosheit und Kraft, die das Ding verströmt hatte, und plötzlich war er gar nicht mehr so sicher, daß ihm eine Welt genügen würde. Vielleicht würde er weitermachen, wenn er Enwor erobert hatte, eine weitere Welt, und noch eine und noch eine, bis das ganze Universum ihm gehörte und sich in einen finsteren Pfuhl verwandelt hatte. Etwas von seinen Gefühlen mußte deutlich in seinen Worten mitgeklungen sein, denn Cron schwieg eine ganze Weile und sah ihn nur an, und auch wenn es schwer war, im Gesicht eines Quorrl zu lesen, so registrierte Skar doch die plötzliche Verunsicherung des Schuppenwesens.

»Große Worte, Satai«, sagte er schließlich. »Aber man hat mich gewarnt, daß du es verstehst, mit Worten umzugehen. Ich werde darüber nachdenken. Und darüber, was mit euch geschieht.«

»Wir haben nicht sehr viel Zeit«, sagte Skar.

Cron winkte ab. »Ihr habt so viel Zeit, wie ich bestimme«, sagte er. »Jetzt geht. Ich lasse dich rufen, wenn ich entschieden habe.«

Skar wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment fing er einen warnenden Blick Titchs auf, und als er in Crons vernarbtes Gesicht blickte, begriff er, daß es wirklich besser war, zu schweigen. Er verstand wenig von dem, was er in den letzten Minuten gehört und erlebt hatte, aber begriff immerhin, daß Cron kein Mann war, mit dem er diskutieren konnte. Auf diesem Hof mußte er ein unumschränkter Herrscher sein, jemand, der es nicht gewohnt war, daß man ihm widersprach, und der seine Macht genoß. Skar war Männern wie ihm oft genug begegnet, um zu wissen, wie gefährlich diese Kombination sein konnte.

Ohne ein weiteres Wort verließen sie das Zimmer und das Haus. Erst draußen auf dem Hof blieb Skar wieder stehen und wandte sich mit einer fragenden Geste an Titch. »Was, zum Teufel, war das?« fragte er.

»Cron«, antwortete Titch achselzuckend, und in einer Art, als wäre dies allein Antwort genug. »Cron ist... nun, Cron eben.«

»Eine erschöpfende Auskunft«, sagte Skar spöttisch. »Und was ist er - außer einem größenwahnsinnigen alten Narren?«

»Unterschätze ihn nicht«, sagte Titch. Er ging weiter, und Skar folgte ihm. »Er gefällt sich darin, den Choleriker und Dummkopf zu spielen, aber das ist er nicht. Wenn uns jemand helfen kann, dann er.«

»Wobei helfen?«

Titch machte eine Kopfbewegung nach Norden. »Du willst nach Ninga, oder?«

»Nein«, antwortete Skar ärgerlich. »Du willst dorthin.«

Titch überging die Bemerkung. »Es gibt keinen Weg für uns, den Sturz allein zu erreichen«, fuhr er fort. »Ich dachte, wir könnten es schaffen, aber es ist unmöglich. Das ganze Land ist in Aufruhr. Überall sind Krieger. Sie bewachen jede Straße. Und es führt nur ein Weg zum Sturz. Du hast gehört, was Cron erzählt hat: Sie wissen, daß wir kommen, und sie suchen uns.«

»Wieso?« fragte Skar. »Ich habe es niemandem erzählt.«

»Ennart wußte es«, sagte Titch seufzend. »Und wenn nicht er, so haben sie es auf andere Weise erfahren. Es spielt keine Rolle, wie. Sie wissen es, und das zwingt uns, unsere Pläne zu ändern.« Unsere Pläne? dachte Skar matt. Er widersprach nicht, aber Titchs Worte führten ihm deutlicher denn je vor Augen, wie wenig er noch Einfluß auf sein eigenes Schicksal nehmen konnte. Es waren längst Titch - und selbst Kiina! - geworden, die die Entscheidungen fällten, die Dinge taten und Entwicklungen in die Wege leiteten, auf die er nur noch reagierte. Stärker als je zuvor hatte er das Gefühl, daß ihm sein Leben aus den Fingern glitt. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er es gewesen, der sein Schicksal bestimmte, er ganz allein. Aber sie war lange her. Bitterkeit überkam ihn. Er sagte nichts mehr, während sie über den Hof zurück zu dem Gebäude gingen, in dem er aufgewacht war, aber als Titch eine auffordernde Geste zur Tür machte, schüttelte er nur den Kopf und ließ sich mit angezogenen Knien auf die flache Treppe vor dem Haus sinken. Er wollte noch nicht hineingehen.

Titch schien nichts dagegen zu haben, aber er bedeutete ihm mit Gesten, ein wenig zur Seite zu rücken, wohl, damit er nicht einfach über den Haufen gerannt wurde, wenn jemand das Haus verließ, und Skar gehorchte. Eine Weile blieb der Quorrl einfach stehen, dann setzte er sich in der gleichen Haltung wie Skar auf die Treppe und starrte ins Leere. Skar spürte, daß da etwas war, was Titch wissen wollte, eine Frage, die ihm nicht erst seit ein paar Sekunden, sondern schon lange auf der Seele lag, und er glaubte sogar zu wissen, wie sie lautete. Aber der Quorrl schwieg, und nach einer Weile stand Skar wortlos auf und kehrte freiwillig in sein Gefängnis zurück.

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