Alptraumgeplagte Fieberträume wechselten sich mit kurzen Perioden ab, in denen er wach war, aber niemals völlig. Wie er später erfuhr, hatte es doch noch etwas gegeben, was die junge Errish für ihn tun konnte: ein betäubendes Pulver, das Kiina in sein Wasser mengte und ihm die schlimmsten Schmerzen ersparte, es ihm allerdings auch verwehrte, während der nächsten drei Tage wirklich aufzuwachen, so daß er sich an den Weg in den Norden nur verschwommen erinnerte.
Im Grunde war alles, worauf er sich wirklich besann, ein beständiger, pochender Schmerz in seiner gesamten linken Körperhälfte, der mal mehr, mal weniger schlimm war, allerdings niemals völlig erlosch, nicht einmal wenn er schlief, und das Gefühl, zu schweben, was nun allerdings einen höchst realen Grund hatte: Gegen seinen ausdrücklichen Willen hatten Titch und Kiina beschlossen, für zwei, drei Tage in der verfallenen Festung am Rande des Tales zu bleiben, bis er das Schlimmste überstanden hatte. Aber schon am nächsten Morgen meldete die zur Wache abgestellte Errish das Herannahen einer großen Anzahl Berittener, die von einer jener gigantischen Tyrannenechsen begleitet wurden, wie Skar und Titch sie in der Nähe Elays gesehen hatten. Offensichtlich verließ sich Ian nicht ganz so auf die tödliche Wirkung des Silberbandes, wie sie gehofft hatten, so daß sie gezwungen waren, ihre Flucht in aller Hast fortzusetzen. Jella und ihre Mädchen wandten sich nach Westen, wie er befohlen hatte, während Titch und Kiina den fiebernden Skar auf dem Rücken der größten Daktyle festbanden und ihren unterbrochenen Flug in den Norden fortsetzten.
Einen schwächeren Mann als Skar hätte die Reise umgebracht, denn obwohl Jella die Wunde sofort ausgebrannt hatte, hatte er sehr viel Blut verloren, und dazu kam das Gift, das noch immer in seinem Körper wühlte; nicht mehr so grausam und schnell wie vor ihrem unfreiwilligen Aufenthalt im Turm der Zauberpriester, aber unerbittlich. Später erzählte ihm Kiina, daß er geschrien und um sich geschlagen hätte wie ein Rasender, so daß es selbst Titch manchmal schwergefallen war, ihn zu bändigen. Skar spürte, daß er dem Tod diesmal sehr nahe gewesen war; näher als jemals zuvor. Aber an all dies entsann er sich nur nebelhaft, als er am vierten Morgen nach ihrer Abreise das erste Mal wirklich erwachte.
Er war allein, und er fror, das waren die ersten Eindrücke, die er hatte, und beide waren sehr intensiv. Der Schmerz in seinem linken Arm war noch da, aber viel schlimmer war der Biß der Kälte, die sich wie eisiges Glas an seine Haut schmiegte. Es war nicht mehr völlig dunkel, aber auch noch nicht richtig hell, und aus irgendeinem Grund wußte er, daß es die Dämmerung des Morgens war, nicht der Sonnenuntergang. Wo war er? Skar setzte sich auf, mit vorsichtigen, kleinen Bewegungen, ohne den linken Arm zu belasten und jederzeit auf wütenden Schmerz gefaßt. Aber er kam nicht. Das Pochen in seiner linken Seite ließ nicht nach, aber es wurde auch nicht schlimmer. Er unterdrückte den Impuls, die Decke beiseite zu schlagen und seinen Arm zu betrachten. Er wußte, was er sehen würde, und er hatte Angst davor. Obwohl die letzten drei Tage für ihn praktisch nicht existierten, erinnerte er sich an alles, was vorher geschehen war. Er glaubte, Kiinas Schrei noch immer zu hören.
Dann begriff er, daß er tatsächlich etwas hörte. Es war ein Schrei, aber nicht der eines Menschen, sondern das mißtönende Krächzen eines Vogels - eines sehr großen Vogels, der Stimme nach zu urteilen -, der aber beruhigend weit entfernt war. Neugierig sah er sich um.
Er befand sich nicht in einem Gebäude, sondern lag auf moosbewachsenem, sehr kaltem Waldboden, und das Dach über ihm bestand nicht aus Stein oder Stroh, sondern aus den tiefhängenden Ästen der sonderbar dickstämmigen, geschuppten Nadelbäume, die ihn umgaben. Sein Blick reichte nicht sehr weit. Die kleine Lichtung, auf der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, war auf allen Seiten von dornigem Gestrüpp umschlossen, so dicht, daß selbst ein weniger aufmerksamer Beobachter als Skar sofort begriffen hätte, daß irgend jemand kräftig dabei nachgeholfen hatte, den Lagerplatz im Unterholz zu tarnen. Nur eine Armeslänge neben ihm befand sich ein zweites, verlassenes Nachtlager aus Decken und Fellen, und auf der anderen Seite der Lichtung gewahrte er den Abdruck eines gewaltigen Körpers im Moos. Keine Feuerstelle, trotz der bitteren Kälte. Titch hatte es nicht gewagt, Feuer zu machen... Aber wo war er? Und vor allem - wo war Kiina?
In Skars Neugier mischte sich eine schwache Spur von Besorgnis. Er wußte nicht, wo er war. Er hatte Bäume und Büsche wie diese hier nie zuvor gesehen, aber die klirrende Kälte und die sonderbare Vegetation verrieten ihm, daß sie sich sehr weit im Norden befinden mußten. Nahe der Grenzen des Quorrl-Landes. Vielleicht schon hinter ihnen. Irgendwo in der grauen Dämmerung vor ihm knackte etwas. Skar setzte sich weiter auf, spannte sich unwillkürlich und erkannte Kiina in dem Schatten, der gebückt und fluchend aus der Mauer aus Dornen hervortrat, die die Lichtung umgab. Sie blieb mitten im Schritt stehen, als sie sah, daß er wach war, und obwohl er in dem schlechten Licht ihr Gesicht nicht erkennen konnte, spürte er ihr Erschrecken. Er versuchte zu lächeln, sagte sich, daß sie es wahrscheinlich ebensowenig sehen würde wie er umgekehrt ihre Reaktion, und wartete, bis sie ihren Schrecken überwunden hatte.
»Du bist... wach.« Mehr noch als das spürbare Stocken ließ ihn die Banalität der Worte begreifen, wie überrascht Kiina war, ihn nicht mehr schlafend vorzufinden. Sie war jetzt nahe genug, daß er ihr Gesicht erkennen konnte, aber der Ausdruck darauf war nicht der von Erleichterung. Im Gegenteil. Sie wirkte erschrocken, bestürzt, verängstigt - das alles und noch mehr, so daß er sich unwillkürlich fragte, was geschehen sein mochte, während er mit dem Tod gerungen hatte.
»Wo ist Titch?« fragte er, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. Kiina machte eine vage Geste hinter sich. »Er... wollte sich ein wenig umsehen. Aber er kommt gleich zurück.« Sie lächelte nervös, trat unsicher von einem Fuß auf den anderen und gab sich einen sichtbaren Ruck. »Wie fühlst du dich?«
»Gut«, antwortete Skar. Es war nicht einmal gelogen. Er hatte Schmerzen und war ein Krüppel und fror erbärmlich, aber er hatte trotzdem das intensive Gefühl, einen Kampf gewonnen zu haben, nicht verloren. »Wie lange war ich -«
»Drei Tage«, unterbrach ihn Kiina. »Wir sind in Cant.«.
»Cant?«
»Das Land der Quorrl. Sie selbst nennen es so. Wußtest du das nicht?«
Skar verneinte. Kiinas Lächeln wurde noch unsicherer und nervöser. Sie konnte nicht mehr still stehen, sondern begann sich unruhig hin und her zu bewegen. Ihr Blick glitt fast hilfesuchend über die Barriere aus Dornen und Zweigen hinter ihm. Aber der Grund ihrer Befangenheit war nicht irgend etwas, was geschehen war während seiner Bewußtlosigkeit, sondern er selbst. Die Furcht, die er spürte, war die, einem Sterbenden auf dem Totenbett gegenüberzutreten oder einem geliebten Menschen sagen zu müssen, daß er nur noch wenige Tage zu leben hatte. Jenes völlig unbegründete, aber quälende Gefühl der Mitschuld dem Schmerz anderer gegenüber, das Skar zu gut kannte, um nicht plötzlich seinerseits Mitleid mit Kiina zu empfinden. Es war nicht jedermanns Sache, schlechte Nachrichten zu überbringen. Er konnte das beurteilen. Er hatte es oft genug tun müssen.
»Setz dich zu mir«, bat er.
Kiina zögerte. Skar sah ihr an, daß sie am liebsten herumgefahren und einfach davongerannt wäre. Aber natürlich tat sie es nicht, sondern trat - in etwas größerer Distanz, als nötig gewesen wäre - um sein Lager herum und ließ sich mit angezogenen Knien auf ihre eigenen Decken sinken. Sie sah übermüdet aus, und sehr erschöpft. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren wieder da. Skar versuchte, ihren Blick einzufangen, aber sie wich ihm aus und griff nervös nach ihrer Decke, um sie sich fröstelnd über die Schulter zu hängen. Es war so kalt, daß ihr Atem dampfte.
»Ich fühle mich wirklich gut«, sagte Skar leise und so überzeugend, wie er konnte. Er streckte die Hand aus und versuchte ihre Wange zu streicheln. »Es gibt keinen Grund, traurig zu sein.« Seine Taktik war falsch. Kiina rückte fast erschrocken weiter von ihm weg und vergrub sich noch mehr in ihre Decke. Wenn sie sich auch oft genug noch wie ein Kind benahm, so spürte sie doch genau, wenn er versuchte, sie auch so zu behandeln, und es machte sie noch immer zornig. Er wünschte sich, Titch käme zurück.
»Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist?« fragte er, müde, grundlos enttäuscht und nur, um überhaupt etwas zu sagen.
»Du erinnerst dich nicht?« fragte Kiina. »Deine Hand. Du hast -«
»Davon rede ich nicht«, unterbrach sie Skar. »Ich habe es selbst getan, weißt du? So leicht vergißt man das nicht. Ich meinte das, was danach geschehen ist. Wie sind wir hierher gekommen, und wo, verdammt nochmal, sind wir überhaupt?«
»Du bist...« Kiinas Stimme brach. Plötzlich und vollkommen unvermittelt begann sie zu weinen. »O Skar, es tut mir so leid«, schluchzte sie.
Sein erster Impuls war, die Hand auszustrecken und sie an sich zu ziehen, um sie zu trösten. Aber er gab ihm nicht nach, sondern sah Kiina nur reglos und fast abfällig an. »Deine Tränen ändern auch nichts«, sagte er ruhig. »Ich habe eine Hand verloren - und? Ich habe noch eine. Hier, siehst du?« Er spreizte die Finger der Rechten vor ihrem Gesicht, ballte sie zur Faust und machte eine ärgerliche Bewegung damit, als sie antworten wollte. »Reiß dich zusammen. Ich habe schon Schlimmeres überlebt, und ich werde auch das überleben, glaub mir.«
»Aber du -«
»- bist ein Krüppel?« fiel ihr Skar ins Wort. »War es das, was du dich nicht zu sagen traust? Sprich es ruhig aus. Es ist die Wahrheit. Und? Ich lebe. Wäre ich dir als unversehrter Leichnam lieber gewesen?« Aus dem Schmerz in Kiinas Blick wurde Verwirrung und fast sofort Zorn. Ihre Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. »Natürlich nicht«, antwortete sie scharf. »Ich ... ich dachte nur, es geht dir ein wenig näher.«
»Ich werde eine Menge Arbeit sparen«, sagte Skar achselzuckend. »Beim Händewaschen und Nägelschneiden zum Beispiel.« Ein rauhes Lachen hinter Skars Rücken hielt Kiina davon ab, zu antworten. Er drehte sich um und erkannte Titch, der so lautlos näher gekommen war, daß nicht einmal Skar ihn gehört hatte. Kiina stand mit einer wütenden Bewegung auf, drehte sich um und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten.
Der Quorrl kam näher, blickte ihr stirnrunzelnd nach und sah dann mit schräggehaltenem Kopf auf Skar herab. »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Nichts«, antwortete Skar ausweichend. »Es ist mir nur lieber, wenn sie zornig auf mich ist, statt um mich zu weinen.«
Titch seufzte. »Du scheinst dich ernsthaft auf dem Weg der Besserung zu befinden«, sagte er. »Zumindest deine Holzhammerpsychologie ist wieder ganz die alte.«
»Manchmal funktioniert sie«, erklärte Skar ungerührt. »Außer bei dir. Im Seelenleben von Fischen kenne ich mich nicht so gut aus.«
»Kröten, wenn schon.« Titch ließ sich neben ihm in die Hocke sinken, griff mit spitzen Fingern nach Skars Decke und hob sie an. Das spöttische Funkeln in seinen Augen erlosch, als sich sein Blick auf Skars linken Arm richtete. »Großen, Satai fressenden Kröten. Hast du Schmerzen?«
»Etwas«, gestand Skar. »Ich habe schon Schlimmeres ertragen.« Er sah immer noch nicht unter die Decke. Er wollte es, aber er konnte es nicht.
»Ich weiß«, sagte Titch in leicht unwilligem Ton. »Ich habe euch zugehört.«
»Die ganze Zeit?«
Titch nickte. »Sicher. Hast du gedacht, ich lasse sie allein hier im Wald herumspazieren?«
»Was ist so gefährlich daran?«
Titch ließ die Decke sinken. »Nichts«, sagte er gelassen. »Was wäre gefährlich für einen Quorrl, in einem eurer Wälder herumzulaufen?«
»Dann haben wir es geschafft? Wir sind in Cant?«
»Geschafft?« Titch machte eine Kopfbewegung, die sowohl ein Nicken als auch das Gegenteil sein konnte. Vielleicht beides. »Wir haben die Grenze überschritten, aber das ist auch alles. Du bist ungeduldig, Satai. Jeder andere an deiner Stelle wäre froh, noch am Leben zu sein.«
»Jeder andere an meiner Stelle«, antwortete Skar ernsthaft, »hätte dir längst den Schädel eingeschlagen, um sich deine gutgemeinten Bemerkungen nicht mehr länger anhören zu müssen.« Er rechnete mit einer gleichartigen Antwort, aber Titch schien genug davon zu haben, weiter herumzualbern. »Glaubst du, du kannst reiten?« fragte er mit einer Kopfbewegung auf Skars Arm. »Damit?«
»Sicher. Wo sind die Daktylen?«
»Fort. Wir haben sie weggeschickt, schon gestern abend. Es wäre zu gefährlich gewesen, sie zu behalten. Ich bin ohnehin nicht ganz sicher, daß man uns nicht gesehen hat. Das ist auch der Grund, aus dem wir nicht lange hier bleiben sollten. Ich hätte dich geweckt, wenn du nicht von selbst aufgewacht wärst.«
»Wo sind wir?« fragte Skar noch einmal.
»Gut hundert Meilen jenseits der Grenze«, antwortete Titch. »Es gibt ein Dorf in der Nähe, aber das Gebiet ist trotzdem dünn besiedelt. Ich habe Freunde dort, die uns verstecken werden, bis du wieder kräftig genug für den Rest des Weges bist.«
»Das bin ich«, widersprach Skar.
Titch lächelte nur. »Nein, das bist du nicht«, antwortete er. »Du fühlst dich vielleicht kräftig, aber das bist du ganz und gar nicht. Jedes Kind könnte dich zu Boden werfen. Und der Rest der Strecke ist ungleich beschwerlicher als der Ritt auf einer Daktyle.«
»Wie weit ist es noch?«
»Das Problem ist nicht die Entfernung«, antwortete Titch, ohne wirklich zu antworten. »Der Sturz von Ninga ist ein heiliger Ort. Kein Mensch hat ihn je gesehen, geschweige denn betreten. Sie würden uns beide in Stücke reißen, wenn wir auch nur versuchten, uns ihm offen zu nähern.«
»Aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit, und -«
Titch erstickte Skars Protest mit einer rüden Handbewegung. »Mehr Zeit, als wir brauchen«, behauptete er.
»Was soll das heißen?« fragte Skar. »Hast du Nachricht von Del?«
»Nein. Aber es ist drei Tage her, daß die Errish aufgebrochen sind, um ihm deine Warnung zu überbringen. Die Entscheidung ist längst gefallen, so oder so. Es gibt nichts mehr, was du noch daran ändern könntest.«
Skar wollte auffahren, sah den Quorrl aber dann nur einen Moment lang mit einer Mischung aus Ärger und Neugier an und senkte schließlich den Blick. Wie so oft hatte Titch recht, auch wenn seine Argumentation simpel und zumindest in Skars Ohren fast fatalistisch klang. Aber es war so: Das Schicksal Enwors entschied sich nicht hier, sondern auf der anderen Seite des Kontinents, und es gab nichts mehr, was er noch daran ändern konnte. Das einzige, was sich hier und jetzt entscheiden würde, war sein und Kiinas Schicksal.
Er bewegte sich unruhig, wartete darauf, daß Titch etwas sagte und schob schließlich behutsam die Decke beiseite, als der Quorrl beharrlich schwieg. Sein Herz begann zu klopfen, als er den Blick auf seinen linken Arm senkte.
Es sah weniger schlimm aus, als er erwartet hatte. Wo seine linke Hand sein sollte, befand sich ein zwar ungeschickt angelegter, aber sehr sauberer Verband. Es tat nicht einmal mehr sehr weh, und - es war verrückt, aber: er hatte nicht einmal das Gefühl, daß ihm etwas fehlte. Seine Finger waren nicht mehr da, aber er spürte sie, glaubte sogar ihre Bewegung zu fühlen, als er seinen Nerven den Befehl gab, sie zu krümmen.
»Du weißt, daß du trotzdem nur eine Gnadenfrist hast«, sagte Titch leise.
»Wie lange?«
Der Quorrl zuckte mit den Schultern. »Eine Woche. Einen Monat. Ein Jahr... wer weiß?« Er räusperte sich gekünstelt, stand mit einem Ruck auf und streckte ihm die Hand entgegen. Skar griff danach, erhob sich weit weniger elegant und flüssig und zog fröstelnd die Decke enger um die Schultern, als er den eisigen Biß der Nachtkälte spürte. Die Temperaturen konnten kaum über dem Gefrierpunkt liegen. Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn er noch Schnee auf den Baumwipfeln gesehen hätte. »Ist es hier immer so kalt?« fragte er, während er sich nach seinem Mantel bückte und hineinschlüpfte.
»Nein«, antwortete Titch. »Die Winter sind länger als bei euch, aber es wird jetzt bald Frühling. Sei froh, daß es noch so ist. In der Dunkelheit haben wir eine bessere Chance, das Dorf ungesehen zu erreichen.«
Es war das zweite Mal, daß Titch eine Bemerkung machte, die sich Skar nicht erklären konnte, und diesmal überging er sie nicht. »Worauf willst du hinaus?« fragte er. »Werden wir verfolgt?«
»Nicht direkt«, antwortete Titch. »Es gibt Patrouillen. Sehr viel mehr als früher. Vorhin, als ich beim Dorf war, habe ich Krieger gesehen, die die Straße bewachen. Ich weiß nicht, warum. Aber es ist besser, vorsichtig zu sein. Je mehr Augen uns sehen, desto mehr neugierige Fragen werden gestellt.«
Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Skar spürte es. Titch war kein guter Lügner, vielleicht, weil er trotz allem noch nicht weit genug Mensch geworden war, um Übung darin zu haben. Aber er spürte auch, daß der Quorrl nicht weiter über das Thema reden wollte, und beließ es dabei.
Er schloß seinen Mantel, so geschickt oder ungeschickt er es mit einer Hand konnte, und warf sich nach kurzem Zögern auch noch die Decke als zusätzlichen Schutz vor der Kälte über die Schultern. Als er fertig war, kehrte Kiina zurück, wie auf ein Stichwort. Wahrscheinlich hatte sie schmollend in den Büschen gestanden und ihn und Titch beobachtet. Skar fragte sich einen Moment, ob sie ihre Unterhaltung belauscht hatte. Aber er glaubte es nicht. Sie hatten sehr leise gesprochen.
Kiina wich seinem Blick aus. Als sie aufbrachen, hielt sie sich mehr in Titchs Nähe als in seiner, aber das war etwas, was Skar eher begrüßte. Er hoffte, daß das Mädchen und Titch sich in den letzten drei Tagen ein wenig näher gekommen waren, nicht nur, weil dies alles viel leichter machen würde. Es war nie gut, Freunde zu haben, die untereinander verfeindet waren. Und bei Titch und Kiina hatte es ihn immer besonders geschmerzt. Vielleicht, weil sie ihm beide so nahe standen.
Er merkte schon nach ein paar Schritten, wie recht Titch mit seiner Prophezeiung gehabt hatte, was seine Verfassung anging. Nach seinem Erwachen hatte er sich ausgeruht und erstaunlich frisch gefühlt, aber das war nur eine Illusion gewesen, die kaum so lange hielt, bis er sich hinter Titch durch das Dornengestrüpp gezwängt hatte, das ihr Lager umgab. Das Gehen fiel ihm schwer; während der vergangenen Tage mußten ihm seine Muskeln abhanden gekommen sein. Seine Knie zitterten, und jeder Schritt schien ihn ein ganz kleines bißchen mehr anzustrengen als der vorhergehende. Nach den ersten hundert Schritten hoffte er nichts sehnlicher, als daß das Dorf, von dem Titch gesprochen hatte, wirklich so nahe lag, wie der Quorrl behauptete, und nach den zweiten hundert Schritten begann er zu bezweifeln, daß er es bis dorthin schaffen würde; ganz gleich, wie nahe es war. Zumindest in diesem Punkt täuschte er sich nicht. Der Weg zum Dorf der Quorrl hinunter betrug weniger als drei Meilen, aber die letzten beiden trug ihn Titch wie ein Kind auf den Armen.