8.

Etwas hatte sich verändert. Skar spürte es im gleichen Moment, in dem sie auf den Gang hinaustraten, ohne sagen zu können, worin diese Veränderung bestand. Der stählerne Korridor war so still und schwarz wie immer, das magische Schweigen des Turmes allumfassend, aber etwas ... war anders geworden. »Was machst du?« fragte Titch alarmiert, als er stehenblieb und sich umsah.

Skar antwortete nicht gleich. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, worin diese unheimliche Veränderung bestand, die er fühlte. Es war nichts, was plötzlich da war, sondern das genaue Gegenteil: etwas fehlte. Etwas, von dem er vor einer Sekunde noch nicht einmal gewußt hatte, daß es existierte, und das er unmöglich in Worte fassen konnte. Es war, als spüre er erst jetzt, daß dieser Turm mehr als ein Gebäude gewesen war, daß er außer der zerfallenden Technik der Alten noch etwas viel Düstereres, Bedrohlicheres beherbergt hatte. Es war keine Gefahr, die er spürte, sondern fast so etwas wie Erleichterung.

Er sah die drei anderen der Reihe nach an. Titch und Kiina wirkten nur verwirrt, der Quorrl ein wenig alarmiert und vor allem müde, aber auf Anschis Zügen spiegelte sich die gleiche bange Furcht, die auch er spürte. Ihre Hände zitterten.

»Was ist los mit dir?« fragte Titch noch einmal.

»Nichts«, antwortete Skar ausweichend. »Es ist... nichts. Ich habe mich getäuscht.«

Titch runzelte zweifelnd die Stirn, und auch Kiina sah nicht besonders überzeugt aus. Trotzdem widersprach keiner von ihnen, als sie weitergingen. Nach ein paar Schritten blieb Titch wieder stehen und berührte eine scheinbar x-beliebige Stelle an der Wand. Das schwarze Metall teilte sich, und dahinter kam eine jener beweglichen Kammern zum Vorschein, die die Stelle von Treppen in diesem Alptraumturm einnahmen. Der Quorrl wandte sich mit einem fragenden Blick an Anschi.

»Nach... unten«, sagte Anschi zögernd. »Die Daktylen sind direkt unter uns. Nur ein Stockwerk.«

»Wie viele Wachen gibt es?«

»Woher soll ich das wissen?« fauchte Anschi. »Ich bin hier nicht gefangen, weißt du? Du und dein Quorrl-Freund habt doch -«

Es geschah völlig warnungslos, genau wie am Tag zuvor, und genau wie da war es kein wirkliches Beben, sondern etwas wie ein Erzittern in der Wirklichkeit selbst, etwas, das laut- und bewegungslos war und Skar und den anderen trotzdem ein Gefühl vermittelte, als würde der gesamte Turm wie unter einem Hammerschlag erzittern. Und gleichzeitig war es anders, vollkommen anders; hatte er gestern etwas wie ein verzweifeltes Ringen einander ebenbürtiger Kräfte verspürt, so war es jetzt wie eine lautlose Explosion auf rein geistiger Ebene, ein rasches, krampfhaftes Zucken in der Realität, als hätten sich zwei Welten berührt und jede einen Teil der anderen dabei zerstört, wie Feuer und Wasser, die aufeinandertrafen und sich zu kochendem Dampf vereinigten. Skar taumelte zurück, stürzte halbwegs durch die Tür, die Titch geöffnet hatte, und fand im letzten Augenblick am Rahmen Halt. Auch der Quorrl und Kiina wankten, während Anschi mit einem spitzen Schrei auf die Knie herabsank und das Gesicht zwischen den Händen verbarg.

Es ging unglaublich schnell; eine Sekunde, vielleicht zwei, und doch war es ein Augenblick, der kein Ende zu nehmen schien. Skar glaubte etwas wie einen Schrei in seinen Gedanken zu hören, den Schrei einer Stimme, die gleichzeitig befreit wie gequält klang. Er fand sein Gleichgewicht wieder und wollte zu den anderen gehen, aber er konnte es nicht. Seine Augen vermittelten ihm andere Eindrücke als sein Gleichgewichtssinn: er spürte, daß der Turm fest und unverrückbar wie seit Jahrtausenden dastand, aber was er sah, das war ein Gang, dessen Wände zuckten und brodelten wie geschmolzener Teer und der sich peitschend hin und her wand, als hätte sich der stählerne Korridor in eine riesige Schlange verwandelt. Aus den Schatten griffen Dinge nach ihnen, die sich seine menschlichen Sinne zu erkennen weigerten, und in seinem Kopf war noch immer dieses entsetzliche, lautlose Brüllen, in dem sich Triumph und abgrundtiefe Qual zu etwas Neuem, Furchtbarem verbanden.

Und dann war es vorbei, ganz plötzlich und endgültig.

Die Stimme erlosch. Der Gang hörte auf, sich vor seinen Augen zu drehen und zu winden wie ein lebendiges Wesen. Stille schlug wie eine Woge über ihnen zusammen. Aber nur für einen Moment. Dann hörte Skar, zum ersten Mal seit er in diesem Turm aufgewacht war, Geräusche. Laute, die nicht in seiner unmittelbaren Nähe entstanden: ein dumpfes, rhythmisches Pochen, das aus dem Boden und den Wänden gleichzeitig zu dringen schien, Schreie, Stimmen, das Geräusch entfernter, rennender Schritte. Irgendwo brüllte ein Drache.

»Was ist jetzt los?« knurrte Titch.

»Ennarts Magie«, murmelte Skar. »Sie erlischt. Sie...« Er sprach nicht weiter, als er begriff, was das, was er gerade gesagt hatte, wirklich bedeutete.

»Magie?« Titch schüttelte heftig den Kopf. »Das hier hat nichts mit Magie zu tun.«

»Nenn es wie du willst«, antwortete Skar. »Aber was immer es war, es ist nicht mehr da.« Und das namenlose Ding unter ihnen war frei. Er sprach den Gedanken nicht laut aus, aber er wußte, daß es so war. Was immer der Ssirhaa getan hatte, um das entsetzliche Erbe der Alten zu manipulieren: die geistigen Fesseln, mit denen er es gebunden hatte, waren erloschen. Es war frei.

Mit klopfendem Herzen wandte er sich zu Anschi um. Die Errish hatte die Hände heruntergenommen und starrte ihn an, und in ihrem Blick war nichts als Entsetzen. Ennarts geistige Fessel war auch von ihr abgefallen, aber sie mußte die Wahrheit im gleichen Augenblick erkannt haben wie Skar. Sie war mit ihm unten gewesen. Sie hatte gesehen, was der Tempel barg. Ihre Blicke begegneten sich, und Skar war endgültig davon überzeugt, daß Anschi wieder sie selbst war. Die Errish wollte etwas sagen, aber Skar signalisierte ihr mit einem raschen Kopfschütteln, zu schweigen; eine Bewegung, die Titch auffallen mochte, deren wahre Bedeutung er aber unmöglich erraten konnte. Rasch streckte er die Hand aus, half Anschi auf die Füße und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür. »Los!« Titch beäugte ihn und die Errish mißtrauisch, sagte aber kein Wort, sondern trat als letzter hinter ihnen in die Kammer und schloß die Tür. Es wurde quälend eng. Die Kammer war für zwei Personen gebaut, nicht für drei Menschen und einen sieben Fuß großen Quorrl. Aber die gespenstische Fahrt dauerte nur Augenblicke, ehe sich die Tür wieder öffnete und sie auf einen weiteren Korridor hinaustraten, der sich nicht im Geringsten von dem über ihnen unterschied. Die Schreie und der Lärm waren hier lauter. Aus einer offenstehenden Tür zehn Schritte neben ihnen drang flackernder Feuerschein.

Anschi deutete nach links. »Dort. Der große Raum hinter der letzten Tür. Kommt!« Sie lief los, blieb nach zwei Schritten wieder stehen und sah verwirrt zu Skar zurück, der sich nicht bewegt hatte. Auch Titch und Kiina sahen ihn irritiert an. Der Quorrl machte eine hilflose, fragende Handbewegung.

Beinahe widerwillig setzte sich Skar in Bewegung. Sie erreichten die Tür, auf die Anschi gedeutet hatte, völlig unbehelligt, aber das Lärmen und Schreien wurde lauter. Manchmal lief ein schwaches, aber lang anhaltendes Zittern durch den Boden. Die Errish machte eine Geste, zurückzubleiben. Gehorsam preßten sie sich gegen die Wand beiderseits der Tür, aber Titchs Vertrauen zu Anschi schien nicht halb so weit zu reichen wie das Skars: die Tür war noch nicht zur Hälfte auf geglitten, als er mit einem Schritt neben sie trat und ihr die Hand auf die Schulter legte. Anschi fuhr zusammen und starrte den riesigen Quorrl zornig an, verbiß sich aber jeden Kommentar.

Hintereinander betraten sie einen riesigen, gewölbten Raum. Skar sah sich staunend um. Es war nicht mehr zu erkennen, welchem Zweck die Halle einmal gedient haben mochte. Sie war groß wie der Palast eines Königs, von halbrunder Form und völlig leer. Die nördliche Wand fehlte, so daß der Blick ungehindert bis zu den Bergen reichte. Im ersten Moment vermutete Skar, daß sie mit jenem unsichtbarem Glas verschlossen sein konnte, das er auch in seinem und Ennarts Zimmer gesehen hatte; aber dann spürte er den Wind, der von draußen hereinwehte. Er trug Schreie mit sich.

Ein halbes Dutzend Daktylen hockte auf dem spiegelnden schwarzen Boden. Eines der Tiere sah träge hoch, als es das Geräusch ihrer Schritte hörte, die anderen nahmen keine Notiz von ihnen und schienen zu dösen. Es war kein Mensch zu sehen. »Wo sind die Wachen?« murmelte Titch. Er sah sich mißtrauisch um, ohne Anschis Schulter loszulassen, und fauchte noch einmal: »Wo sind sie?«

»Ich habe keine Ahnung!« Anschi versuchte sich vergeblich loszureißen. Skar gab dem Quorrl ein Zeichen, etwas weniger grob zu sein, ging in respektvollem Abstand um die Daktylen herum und trat an die Öffnung in der Wand. Behutsam ließ er sich auf die Knie sinken und beugte sich vor.

Im ersten Moment schwindelte ihn, als er in die Tiefe sah. Der Innenhof des Turmes schien Meilen unter ihnen zu liegen; ein winziges Rechteck voller noch winzigerer, hin und her hastender Gestalten.

Und da war noch etwas ...

Das Ding war da. Die Kreatur aus dem Tempel war frei, und er spürte ihre Anwesenheit wie die Bewegung riesiger unsichtbarer Schattenarme, die gierig über den Hof tasteten...

Er sah auf, als Titch neben ihn trat. Seine Gefühle mußten sich deutlich auf seinem Gesicht abzeichnen, denn der Quorrl erschrak sichtlich, als er in sein Gesicht blickte, und beugte sich hastig vor »Was, zum Teufel, geht da vor?« knurrte Titch, nachdem er ebenfalls einen Blick in die Tiefe geworfen hatte.

Skar richtete sich auf und trat hastig ein paar Schritte von der Wand zurück. »Ich fürchte, wir haben ein bißchen mehr getan, als den Ssirhaa zu erschlagen«, murmelte er. »Dieses ganze verdammte Ding bricht zusammen.«

Mit einer fragenden Geste wandte er sich an Anschi. »Welches Tier ist das Kräftigste?«

Die Errish deutete ohne zu zögern auf die Daktyle, die bei ihrem Eintreten aufgesehen hatte. Die Echse beobachtete sie auch jetzt noch.

»Gut«, sagte Skar. »Titch, du und Anschi werdet dieses Tier nehmen. Ich ... komme nach, sobald ich kann.«

»Nach?« Titch verstand nicht gleich. »Was soll das heißen?« Skar dachte an die unsichtbare Bewegung unten im Hof und schauderte. Er hatte Angst. Aber er hatte keine Wahl. »Ich muß ... noch einmal zurück«, sagte er zögernd. Es war frei. Es war frei, und es würde über diese Welt herfallen wie ein ausgehungertes Raubtier über seine Beute. Er hatte entsetzliche Angst, aber er konnte noch nicht gehen.

»Zurück?« ächzte Titch. »Bist du von Sinnen? Sie werden dich ...«

»Sie werden genug damit zu tun haben, zu begreifen, was überhaupt passiert ist«, unterbrach ihn Skar. »Verschwindet. In dem Durcheinander habt ihr eine gute Chance. Nehmt diese Daktyle und flieht in die Berge. Wir treffen uns dort.«

»Ich gehe nicht ohne dich«, sagte Kiina erschrocken. Skar setzte zu einer scharfen Antwort an. Aber dann blickte er in Kiinas Gesicht und begriff, daß Worte nichts nutzen würden. »Titch.«

Kiina fuhr herum, aber ihre Bewegung war nicht schnell genug. Der Quorrl packte sie, hob sie wie ein Kind in die Höhe und hielt sie mühelos fest. Kiina kreischte vor Zorn und strampelte wild mit den Beinen, aber Titch schien ihre Tritte nicht einmal zu spüren.

»Nimm sie mit«, sagte Skar. »Versteckt euch irgendwo, und sorge dafür, daß sie still ist. Wenn ich bis zum Abend nicht bei euch bin, dann flieht ohne mich.« Wenn es dann noch etwas gab, wohin zu fliehen sich lohnt, dachte er.

»Niemals!« schrie Kiina hysterisch. »Laß mich los, du Ungeheuer.«

Titch ignorierte sie. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagte er leise. »Ich habe meine Seele für dich geopfert, Satai.«

»Ich weiß«, antwortete Skar ernst. »Um so wichtiger ist es, daß du tust, was ich sage. Oder willst du, daß dein Opfer umsonst war?« Er wollte sich umdrehen und gehen, aber diesmal war es Anschi, die ihn zurückhielt.

»Ich begleite dich«, sagte sie.

Skar widersprach nicht. Er war im Gegenteil froh, daß Anschi ihm dieses Angebot machte. Er hatte es nicht gewagt, sie darum zu bitten. Trotzdem zögerte er einen Moment.

»Es wird ... dich umbringen«, sagte er.

»Vielleicht«, widersprach Anschi. »Vielleicht auch nicht. Ich begleite dich, basta. Du findest ohne mich ja nicht einmal den Weg nach unten.«

»Du traust ihr?« fragte Titch überrascht.

Skar nickte nur. Sie hatten keine Zeit für lange Erklärungen.

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