9

Charles begab sich frühmorgens in die Conciergerie, das staatliche Untersuchungsgefängnis, um zu sehen, ob für den Nachmittag mit Exekutionen zu rechnen war. Er stieg die Wendeltreppe links vom Hof hoch und klopfte an die Tür des neuen Staatsanwalts. Er war gespannt auf das Wiedersehen mit Antoine.

»Das kann noch dauern«, sagte jemand hinter ihm. Charles drehte sich um. Der Journalist Gorsas trat aus einer fensterlosen Mauernische hervor. »Es ist niemand drinnen, aber er liebt es, die Leute warten zu lassen.«

»Wieso sind Sie denn hier?«, fragte Charles und musterte Gorsas misstrauisch.

»Er hat mich herzitiert. Wahrscheinlich gefallen ihm meine Artikel nicht. Er wird mir sagen, was ich in Zukunft schreiben soll, um der Pressefreiheit Genüge zu tun. Ich werde schreiben, dass er ein kleines Vermögen geerbt und damit das Amt eines Staatsanwaltes gekauft hat. Den Rest hat er für Weiber ausgegeben und versoffen. Als er wieder nüchtern war, hat er seine reiche Cousine geschwängert, gleich fünfmal, und seit seinem privaten Bankrott ist er ein glühender Hasser der Reichen.«

»Und das wollen Sie schreiben?«, fragte Charles ungläubig.

»Wer die Pressefreiheit ernst nimmt, landet bei Ihnen auf dem Schafott, Monsieur de Paris. Wissen Sie, viele Revolutionäre machen aus ihrem privaten Scheitern eine Ideologie. Doch einem wie Antoine Fouquier hätte man eine ganze Hühnerfarm schenken können, und kein einziges Huhn hätte ein Ei gelegt. Wussten Sie, dass der unbestechliche Camille Desmoulins sein Cousin ist? Er hat ihm den Chefposten der Anklage verschafft.«

Charles klopfte erneut an die Tür.

»Ja?«, schrie Antoine Fouquier. Charles betrat das Büro. Fouquier streckte ihm gleich die Handfläche entgegen, um ihm klarzumachen, dass er zu warten hatte. Er war gerade in eine Diskussion mit Roederer verwickelt. Fouquier hatte sich stark verändert. Die Verbitterung über seine Niederlagen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es war kein schönes Gesicht. Er ähnelte einem Raubvogel, ausgemergelt, die Nase spitz, lang und gekrümmt. Die Lippen nicht breiter als ein Strich, als würde sich selbst dort der Geiz manifestieren. Er trug Koteletten, die so schmal geschnitten waren, dass sie sein Gesicht in die Länge zogen. Antoine Fouquier war gefürchtet. Denn stattete man Versager mit Macht aus, waren sie meist gnadenlos und grausam. Er schrie Roederer ins Gesicht: »Wenn Sie dieses Gesindel nicht ausmerzen wollen, was wollen Sie denn sonst mit diesem Abschaum machen? Wollen Sie die noch fünfzig Jahre auf Staatskosten in unseren Gefängnissen verköstigen? Manch rechtschaffener Mensch in Paris lebt weniger komfortabel und begnügt sich mit Brot und Kohlsuppe.«

»Wir schicken sie in unsere Überseekolonien. Wieso wollen Sie einen Mann töten, der noch vierzig Jahre in unseren Minen arbeiten kann?« Roederer schaute zu Charles hinüber und gab Fouquier zu verstehen, dass er in Anwesenheit dieses Mannes nicht weiterdiskutieren wollte.

Wie Roederer und Fouquier waren auch die meisten Abgeordneten in der Nationalversammlung Juristen. Es war unglaublich, wie viele in der Provinz gescheiterte Anwälte nach Paris gekommen waren und die Gunst der Stunde nutzten, um sich der Führungselite der Revolutionäre anzubiedern. Natürlich wollten sie alle Führer sein, keiner wollte Bürger sein. Und alle benutzten die Politik als Steigbügel für Macht und Geld. Den meisten waren die Ideale der Revolution völlig egal. Sie sonnten sich im Gefühl, wichtig zu sein, und genossen das Leben in Saus und Braus. Das war ihre ganz persönliche Revolution.

»Ist das der Henker?«, fragte Roederer abschätzig. Fouquier nickte und schaute grinsend zu Charles, er genoss die Situation sichtlich. Roederer hingegen gehörte zu den Menschen, die nie lächelten, die keine Freundlichkeiten verschenkten und ohne Mimik durchs Leben gingen. Stets blieb das Gesicht gleich, egal ob eine Nachricht erfreulich oder betrüblich war. Sein Blick aber schien zu sagen: Was willst du von mir, du kleines Stück Scheisse? Das konnte er wunderbar vermitteln. Die Lippen hatte er stets so fest aufeinandergepresst, als hätte ihn gerade jemand beleidigt oder als würde ihm jemand in die Parade fahren. Er wirkte angespannt, verbissen.

Fouquier wandte sich an Charles. »Wir haben keine Arbeit für dich, Bürger Sanson. Und übrigens: Wenn du das nächste Mal einen Brief an mich adressierst, schreib gefälligst meinen Namen richtig. Das nächste Mal könnte ich es als Affront verstehen. Nein, das nächste Mal werde ich es sogar bestimmt als Affront verstehen.« Er schaute Charles streng an und fügte dann hinzu: »In Zukunft wirst du in Assignaten bezahlt. Wir haben ja so viel davon.« Er lachte schallend und wies zur Tür. »Du kannst gehen. Wir können schliesslich nicht die ganze Stadt hinrichten.«

Charles wollte noch etwas sagen, irgendwie an alte Zeiten anknüpfen, aber er sah, dass Fouquier mit Roederer allein sein wollte und er keinen Wert darauf legte, dass dieser erfuhr, dass Charles und er dieselbe Schule in Rouen besucht hatten. Beim Hinausgehen hörte er, wie Roederer sagte, dass die Henker Frankreichs wohl bald arbeitslos würden.

Draussen wartete noch immer Gorsas.

»Sie können gern schreiben, dass es heute keine Vollstreckungen gibt«, sagte Charles.

Gorsas lachte. »Wenn Sie schon mal da sind, könnten Sie mir ein paar Fragen beantworten. Sind Sie für oder gegen die Todesstrafe?«

»Ich werde nicht bezahlt, um eine Meinung zu haben.«

»Meine Leser interessiert das«, sagte Gorsas mit gespielt gequälter Stimme. »Was denkt Monsieur de Paris? Das wollen sie wissen. Kein Henker hat einen derart furchteinflössenden Auftritt wie Sie. Sie sind eine Institution, also lassen Sie uns zusammenarbeiten. Vielleicht brauchen Sie einmal meine Hilfe.«

»Bedaure«, sagte Charles, »ich verrichte mein Amt gemäss den Vorschriften, aber ansonsten habe ich kein Interesse an Öffentlichkeit. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.«

»Dann schlagen Sie meine Freundschaft aus«, sagte Gorsas theatralisch.

»Nein, Monsieur, ich will Sie nicht vor den Kopf stossen.«

»O doch, o doch. Sie refüsieren meine Freundschaft.« Als Charles die Wendeltreppe hinunterstieg, rief er ihm nach: »Vielleicht stehen Sie bald mehr im Mittelpunkt, als Ihnen lieb ist.«

Charles ritt nicht auf direktem Weg nach Hause. Er machte einen grossen Umweg durch die Wälder von Montmartre. Dann suchte er das Ufer der Seine auf und setzte sich an die Böschung. Er war nun zweiundfünfzig Jahre alt, hatte zwei Söhne und war mit einer Frau verheiratet, die ihm mittlerweile fremd war. Er machte sich Sorgen um seine Zukunft, vor allem aber um die seiner Söhne. Er versuchte sich Mut zu machen. Würde die Todesstrafe tatsächlich abgeschafft, würde er sicher nicht gleich arbeitslos, dachte er. Man würde immer noch einen Henker und seine Gehilfen brauchen, um Straftäter mit dem Brandeisen zu markieren oder um Diebe an den Schandpfahl zu fesseln. Jemand musste in den frühen Morgenstunden in der Conciergerie die Urteile abholen und diese am Abend vollstrecken. Arbeitslos würde er also nicht. Aber er würde weniger verdienen und zudem in Assignaten bezahlt. Das Leben würde härter. Charles beschloss, den kleinen Schuppen, den er nie benutzte, jungen Leuten zu vermieten. Sie hatten ihn vor einiger Zeit angefragt, ob sie dort ihre Druckerpresse installieren und Flugblätter drucken könnten. Flugblätter waren gross in Mode. Man konnte damit ein bisschen Geld verdienen.

Tobias Schmidt hatte eine neue Skizze angefertigt, die er stolz präsentierte. »Ich habe versucht, eine sehr einfache Maschine zu bauen«, erklärte er, »die jeder Trottel bedienen kann. Denn eines Tages wird ein Trottel sie bedienen. Sie, Monsieur de Paris, sind der letzte grosse Henker.«

»Wir müssen es ausprobieren«, sagte Charles unbeeindruckt. »Es gibt Menschen, die haben einen solchen Stiernacken, dass selbst ein Beil keine saubere Arbeit leistet.«

»Es ist eine Frage des Gewichts und der Fallhöhe. Wenn das heruntersausende Beil schwer genug ist, wird es gelingen. Können wir es an Leichen ausprobieren?«

Am nächsten Tag benachrichtigte Charles Doktor Guillotin, der sofort vorbeikam und sich die Skizze erklären liess. Mit beinahe kindlicher Begeisterung begutachtete er den Entwurf. »Was glauben Sie, Bürger Sanson, hat der abgetrennte Kopf noch ein Bewusstsein? Kann ein enthaupteter Körper noch Schmerz empfinden?«

»Für den Bruchteil einer Sekunde ist der Schmerz so gross, dass der Verurteilte das Bewusstsein verliert. Der enorme Blutverlust tut ein Übriges.«

»Und die Maschine wird funktionieren?« Guillotin wollte sich nicht blamieren.

»Ja. Sie hat vor zweihundert Jahren funktioniert, und sie wird auch jetzt funktionieren. Ich las, dass sogar unter Julius Cäsar eine ähnliche Maschine Verwendung fand.«

»Wird sie wirklich funktionieren?«

»Wir werden sie zuerst an Schafen ausprobieren.«

Wenig später präsentierte Doktor Guillotin der Nationalversammlung die Maschine. Er lobte die Vorzüge und betonte, dass man damit dem Postulat nach Gleichheit und Humanität sehr nahe komme. Die Maschine sei ein Akt der Humanität. Sie erfülle die Forderung der Revolution, wonach jeder Mensch von Geburt an gleich sei. Jeder sterbe auf die gleiche Art und Weise, und keiner habe lange zu leiden. »Der Verurteilte spürt nur eine leichte Frische um den Hals, bevor ihm der Kopf von den Schultern hinuntertanzt«, sagte er. »Der Mechanismus wirkt wie ein Blitz, der Kopf rollt, das Blut sprudelt, der Mensch ist nicht mehr.« Die Versammlung brach angesichts dieser Wortwahl in schallendes Gelächter aus. Es wurde verfügt, dass Doktor Louis, Professor der Chirurgie und Leibarzt des Königs, ein Gutachten verfassen sollte. Dem anschliessenden Plädoyer eines jungen Anwalts hörte kaum noch jemand zu. Sein Name war Robespierre. Er plädierte gegen die Todesstrafe, weil sie ungerecht und ein Überbleibsel eines barbarischen Feudalsystems sei.

Gabriel spielte Klavier, während Charles und Desmorets das Inventar der Habseligkeiten der am Vorabend Gehängten erstellten. Auffallend war, dass in letzter Zeit die Haare und Bärte der Verurteilten länger geworden waren. Barre schnitt sie ihnen jeweils in der Conciergerie ab und legte sie zu Hause in eine grosse Kiste, die am Monatsende einem Perückenmacher übergeben wurde. Der Erlös ging an Armenhäuser, Spitäler und sonstige Bedürftige.

»Die Haare sind länger, und trotzdem kommt nicht mehr so viel Geld rein«, stellte Desmorets fest.

»Perücken kommen aus der Mode«, sinnierte Charles.

»Der Hof verliert an Bedeutung. Den wahrhaften Revolutionär erkennt man daran, dass er auf jeglichen Pomp verzichtet. Wie die beiden amerikanischen Diplomaten in ihren schlichten schwarzen Anzügen.«

Plötzlich klopfte jemand gegen die Fensterscheibe. Desmorets ging hinaus. Wenig später kam er in Begleitung von Dan-Mali zurück.

»Ich mach mal allein weiter«, sagte er und setzte sich wieder auf seinen Schemel.

Charles führte Dan-Mali in die Pharmacie. »Ist die Wunde jetzt trocken?«, fragte er.

»Ich bin nicht deswegen hier«, sagte Dan-Mali. Sie wirkte sehr ernst. »Ich wollte dich sehen. Darf ich mich hinlegen?«

Ohne seine Antwort abzuwarten, legte sie sich auf das Bett unter dem Büchergestell. Sie tat es etwas umständlich, als würden ihr bestimmte Bewegungen Schmerzen verursachen. Sie gab Charles ein Zeichen, sich ebenfalls hinzulegen, umfasste seine Hand und schloss die Augen. »Nicht sprechen«, flüsterte sie. So lagen sie eine ganze Weile Hand in Hand auf dem Bett.

Plötzlich hielt ein Wagen vor dem Haus. Charles dachte sofort an Marie-Anne, doch die Geräusche auf dem Pflaster waren ihm nicht vertraut. Er stand auf und schaute nach. Es war eine Kutsche mit den Insignien des Königs. Barre klopfte an die Tür und rief: »Draussen wartet jemand in einer Kutsche, Monsieur de Paris.«

»Bring ihn rein«, rief Charles durch die Tür.

»Er will nicht«, entgegnete Barre, »er sagt, er hole Sie ab. Sie hätten eine Einladung von Doktor Louis.«

Charles ging hinaus. In der Kutsche sass Guillotin. Er schien seltsam nervös und unruhig. »Steigen Sie ein«, sagte er, »wir haben eine Einladung von Doktor Louis in sein Kabinett in den Tuilerien. Er will unseren neuen Entwurf begutachten.«

Dan-Mali war hinter Charles auf die Strasse getreten. »Ich komme wieder«, sagte sie leise und ging schnellen Schrittes davon.

Der Tuilerienpalast war mittlerweile der Wohnort der dort festgesetzten königlichen Familie. Ein Diener in blauer Livree geleitete die Gäste durch die riesigen Säle und Vorhallen. Jeglicher Glanz war verblasst. Der Palast wirkte wie ausgestorben. Nie hatte Charles das baldige Ende der Monarchie stärker gespürt als in diesen menschenleeren Sälen. Das Kabinett des Doktors war hingegen reich dekoriert und mit Möbeln aus edlem Holz eingerichtet. Hier wurden Möbel und Teppiche noch gereinigt und gepflegt. Louis und Guillotin begrüssten sich höflich.

»Und jetzt wünsche ich, die neue Skizze zu sehen«, sagte Louis.

Guillotin legte sie auf den Tisch.

Louis beugte sich vor. »Die Anmerkungen sind von wem?«

»Vom Bürger Sanson, Vollstrecker der Strafurteile zu Paris.«

Louis warf Charles einen kurzen Blick zu und widmete sich wieder der Skizze. Er liess sich Zeit, viel Zeit. Plötzlich vernahm Charles ein feines Geräusch. Er drehte sich um und sah, wie sich eine kaum sichtbare Tür in der Wand öffnete. Louis erhob sich sofort, während ein Mann durch die Tapetentür trat. Seine Erscheinung war imposant. Er bewegte sich langsam und mit Selbstsicherheit auf den Tisch zu und nahm die Skizze. Er legte den Kopf etwas zur Seite und schürzte die Lippen, würdigte aber weder Charles noch Guillotin eines Blickes.

»Nun, Doktor Louis, was halten Sie von der Skizze?«, fragte er.

»Sie entspricht genau unseren Vorstellungen.«

»Ich bezweifle«, sagte der Mann, »dass ein gerundetes Fallbeil für jede Art Nacken geeignet ist. Jeder Hals hat eine andere Grösse.«

Charles schaute instinktiv den fetten Hals des Mannes an und dachte, dafür sei ein gerundetes Fallbeil tatsächlich ungeeignet.

»Ist das der Mann?«, fragte er und deutete mit dem Kopf in Charles’ Richtung, ohne ihn dabei anzusehen.

»Ja«, antwortete Louis und beugte respektvoll den Kopf.

»Fragen Sie ihn, wie er sich das Fallbeil am besten denkt.«

Louis wandte sich an Charles: »Sie haben die Frage gehört. Ihre Antwort bitte.«

»Er hat recht«, sagte Charles, »die halbmondförmige Form könnte ab und zu unerwünschte Schwierigkeiten bereiten.«

Der Mann war zweifelsohne König Louis XVI, obwohl er keinerlei Orden oder sonstige Auszeichnungen an seiner hellblauen Weste trug. Er lächelte befriedigt und verbesserte die Zeichnung mit energischen Strichen. Er korrigierte die halbmondförmige Klinge, bis das Fallbeil ein schräg abfallendes Messer zeigte, das beim Aufprall eine schneidende Bewegung ausführen würde. »Ich kann mich irren«, sagte der König lächelnd, »probiert es aus.« Er grüsste höflich mit der Hand und verschwand genauso lautlos, wie er gekommen war, durch die Tapetentür.

Die Änderung, die der König angeregt hatte, leuchtete Charles ein. Jetzt würde es sogar für einen Stiernacken reichen, dachte er.

Nun wurde Doktor Louis von allen Seiten bedrängt, die Sache zu beschleunigen. Die einen wünschten sich die rasche Einführung einer humanen Hinrichtungsmethode, andere verlangten nach mehr Maschinen, um eine grössere Zahl von Verurteilten exekutieren zu können.

Im September 1791 bezogen einige junge Leute den leerstehenden Schuppen der Sansons. Charles war froh um die Miete, war sie auch noch so bescheiden. Sie brachten eine Druckerpresse, Kisten mit Druckfarbe und eine Menge Papier. Charles beobachtete sie beim Einzug und fragte einen von ihnen: »Was wollt ihr denn drucken? Assignaten?«

Der junge Mann lachte und entrollte ein Flugblatt. »Das sind Liedtexte der Revolution. Wir verkaufen sie im Palais Royal. Sie sind sehr begehrt.«

»Nun gut«, sagte Charles, »wie auch immer: Bezahlt die Miete pünktlich zum Monatsersten.«

Gabriel war fasziniert von der Druckerpresse. Wenn er nicht gerade las, Klavier spielte oder Charles in der Pharmacie half, ging er über den Hof zu den jungen Leuten. Sie mochten ihn und halfen ihm, seit er einmal der Länge nach hingefallen war, da die Holzdielen sich im Laufe der Jahrzehnte stark verzogen hatten. So kam ihm meist einer der jungen Männer entgegen, wenn er ihn über den Hof laufen sah, und nahm ihn bei der Hand.

Charles schätzte das sehr. Er notierte es gar in sein Tagebuch. Er wünschte sich, dass sein Sohn ein solides Beziehungsnetz von Freunden hatte, wenn er eines Tages nicht mehr da war. Er hielt auch fest, dass Louis XVI nun Bürger Capet hiess und einen Eid auf die neue Verfassung geschworen hatte. Er hatte seine Macht verloren. Zwar durfte er noch den König mimen und repräsentieren, aber er hatte nichts mehr zu sagen. Das war die Stunde der Abgeordneten, die in diesem Vakuum der Macht Fuss fassen wollten. Sie versuchten sich zu profilieren und mit teilweise absurden Wortmeldungen für höhere Ämter zu empfehlen. Sie machten unsinnige Versprechungen, die kein Mensch halten konnte. Alles diente nur dem Zweck, wiedergewählt zu werden. Es hagelte neue Vorschriften, Verordnungen, Gesetze, doch die Strasse wollte die Macht nicht teilen. Tausende berauschten sich weiterhin an Plünderungen und Morden. Die Ordnung war zusammengebrochen. Nur wenige wagten es, dieser zornigen Masse zu widersprechen. Die feinen Abgeordneten der Nationalversammlung biederten sich an, um nicht in den Verdacht zu geraten, Royalisten zu sein, und rückten so tiefer ins radikale Lager, ins Lager der Sansculotten, die die Strassen beherrschten. Die Sansculotten waren radikale Arbeiter und Gesellen, die im Gegensatz zu den Adligen keine Kniebundhosen trugen, sondern praktische lange Hosen. Deshalb trugen sie den Namen »die ohne Kniebundhosen«.

Niemand schützte mehr nachhaltig die Freiheitsrechte, die man so heroisch erstritten hatte. Die Menschen waren wieder der gleichen Willkür ausgesetzt wie während der Monarchie. Die Anarchie der Strasse ersetzte die alte Ordnung. Mit Voltaire, Rousseau und Montesquieu hatte niemand mehr etwas am Hut. Plötzlich stand jeder, der sich auf der Strasse nicht lauthals artikulierte, unter Verdacht. Das Denunziantentum blühte, und mancher beglich eine längst fällige Rechnung mit einem Nachbarn. Österreichische und preussische Truppen näherten sich Frankreichs Grenzen. Der König versuchte, zu fliehen und sich zu den anrückenden Armeen durchzuschlagen. Es misslang. Er wurde erneut unter Arrest gestellt und zur Strafe vorübergehend von seinen repräsentativen Ämtern suspendiert.

»Was schreibst du in dieses Buch?«, fragte Dan-Mali, während sie gedankenverloren in einem Mörser getrocknete Rinde pulverisierte.

»Das, was ich niemandem anvertrauen kann.«

»Schreibst du auch über mich, über uns?«

»Nein«, sagte Charles, »das würde ich diesem Buch nicht anvertrauen.«

»Kann ich hier eine Stunde schlafen?«

Charles nickte. »Findest du im Jesuitenkloster keinen Schlaf mehr?«

Dan-Mali lächelte matt und setzte sich auf das Bett. Erneut fiel Charles auf, dass sie gewisse Bewegungen vermied.

»Hast du irgendwo Schmerzen?«, fragte er.

Dan-Mali schien erstaunt. Sie schüttelte den Kopf und legte sich hin. Charles schrieb weiter in seinem Tagebuch. Es gab so vieles festzuhalten. »Paris hungert«, sagte Charles, »davon schreibe ich jetzt.«

»Im Kloster hungert niemand«, sagte Dan-Mali, »die Patres haben volle Vorratskammern, aber sie teilen nichts mit den Bedürftigen. Sie predigen Wasser und trinken Wein. Jetzt verstehe ich dieses Sprichwort. Die Patres trinken abends sehr viel Wein. Sie sind oft betrunken. Manchmal streiten sie sogar und werden laut. Sie fürchten die Zukunft. Sie fürchten die Revolution, die hungernden Menschen in den Strassen, die fremden Armeen an den Grenzen, den Verfall des Geldes, sie fürchten alles. Ausser Gott. Denn sie glauben nicht an ihn. Ich bete manchmal zu ihrem Gott. Buddha ist deswegen nicht eifersüchtig.« Sie lächelte. »Leg dich zu mir, und schliess die Augen, ich muss bald gehen.« Charles legte sich neben sie und hielt ihre Hand fest. Das viele Schreiben hatte ihn ermüdet.

Als er wieder aufwachte, war Dan-Mali verschwunden. Einen Augenblick überlegte er ernsthaft, ob er das alles geträumt hatte.

Gabriel stand in der Pharmacie. »Mutter ist zurück«, sagte er aufgeregt, »sie ist draussen im Hof.«

»Wo ist Dan-Mali?«

»Als sie die Pferde im Hof hörte, hat sie schnell das Haus verlassen.«

Charles trat in den Hof hinaus und wusch sich den Kopf. Marie-Anne striegelte ihr Pferd. Sie schaute kurz zu Charles, aber ohne ihn zu begrüssen. »Gut geschlafen?«, fragte sie vorwurfsvoll. Da sie selbst mit nur wenigen Stunden Schlaf auskam, verachtete sie alle Menschen, die mehr Schlaf benötigten. Charles gab keine Antwort. Er kannte dieses Spielchen.

Marie-Anne musterte ihn skeptisch. »War das deine Siamesin?«

Charles nickte und ging in die Küche. Marie-Anne folgte ihm. Dass die Gehilfen anwesend waren, störte sie nicht.

»Wie alt ist sie?« Jetzt stand Verbitterung in ihrem Gesicht.

Charles setzte sich an den Tisch. Gros hatte bereits allen Suppe verteilt.

»Ich habe sie nicht gefragt«, sagte Charles. Er nahm einen Löffel und setzte ihn wieder ab. Die Suppe war zu heiss.

»Sie ist jung?«

»Du hast sie ja gesehen«, murmelte Charles und nahm nun einen Löffel in den Mund, »was soll die Fragerei?« Die Suppe schmeckte vorzüglich. Er wollte Gros loben, liess es aber sein. »Sie heisst Dan-Mali.«

»Dan-Mali? Wie kann man bloss so heissen?«

»In Siam klingen unsere Namen wahrscheinlich auch nicht sehr vertraut.«

Marie-Anne setzte sich an den Tisch. Die Stimmung war geladen. Den Gehilfen wurde die Diskussion allmählich peinlich. Sie wechselten Blicke.

»Wir leben schon lange nicht mehr wie Mann und Frau«, sagte Charles, »das hat dich nie gekümmert. Wieso macht es dir denn jetzt etwas aus, wenn ich jemanden habe? Du hast deine Hunde.«

»Du bist unglücklich mit mir, nicht wahr?«, fragte sie zornig.

»Ich kenne keinen Mann, der unter diesen Umständen glücklich wäre. Ein nettes Wort ist manchmal mehr wert als eine warme Kohlsuppe.«

Marie-Anne sprang von ihrem Schemel hoch und verliess wutentbrannt die Wohnküche. Barre grinste über beide Ohren und blickte zu Firmin, der sich tief über seine Suppe beugte und versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Desmorets schob seinen Teller beiseite und nahm den Courrier de Versailles zur Hand. Er machte ein sehr besorgtes Gesicht.

»Ist was?«, fragte Charles.

»Sie kennen den Journalisten Gorsas?«

Charles nickte.

Marie-Anne betrat erneut die Küche.

»Oh, du bist schon wieder zurück«, sagte Charles.

Marie-Anne zog einen Laib Brot aus dem Holzofen. »Wenn ich mich nicht kümmere, lasst ihr es verkohlen.«

Das Brot duftete herrlich und verströmte ein angenehmes Gefühl von Wärme. Aber die Stimmung blieb frostig.

»Wie viel bezahlst du ihr?«, fragte Marie-Anne. Als Charles schwieg, setzte sie nach: »Oder bezahlst du sie gar nicht?«

»Hast du den langen Ritt gemacht, um mir diese Fragen zu stellen?«

»Nein, ich habe dir die Zeitung gebracht. Sonst bist du der einzige Mensch in Paris, der es nicht weiss.«

Desmorets schob Charles die Zeitung mit einem vielsagenden Blick zu. »Lesen Sie den Leitartikel«, sagte er mit einer Bestimmtheit, die Charles aufhorchen liess. »Gorsas schreibt, dass Royalisten einen Umsturz planen, um die Revolution rückgängig zu machen.«

»Das schreiben sie doch alle«, sagte Charles, »um uns auf Trab zu halten.«

»Aber er schreibt, dass es die Henker Frankreichs sind, die den Umsturz planen. Und wer ist der führende Henker des Landes?«

Charles blickte zu seiner Frau hoch. Mit durchdringendem Blick fixierte sie ihn, als habe er sich etwas zuschulden kommen lassen.

»Er schreibt, dass die konterrevolutionären Flugblätter in Ihrem Schuppen gedruckt werden«, sagte Desmorets.

Nun nahm Charles die Zeitung in die Hand und las. Tatsächlich, Gorsas verdächtigte ihn und kündigte an, er werde Anzeige gegen den Henker von Paris erstatten. Marie-Anne schenkte wortlos Kaffee nach. Sie sah aus, als würde sie bald keine Luft mehr kriegen.

Henri und Gabriel betraten die Wohnküche. Neben seinem athletischen Bruder wirkte Gabriel zierlich und zerbrechlich. Er stockte, bevor er sich neben Charles setzte. Henri stellte sich blitzschnell hinter ihn, denn er wusste, dass sich Gabriel manchmal sehr verspannte, wenn die Aufregung zu gross wurde. Dann konnte er die Beine nicht mehr steuern und fiel hin.

»Falls mir etwas zustösst«, sagte Charles, »übernimmt Henri die Herrschaft über das Schafott. Ihr«, fügte er an und blickte zu den Gehilfen, »macht eure Arbeit wie gewohnt. Und ihr gehorcht ihm, wie ihr mir gehorcht habt.« Er ergriff Henris Hand. »Und achtet darauf, dass keiner die Kleider der Hingerichteten an sich nimmt. Das könnte uns das Amt kosten.«

Desmorets nickte ernst. »Wir tragen das Inventar wie bisher in die Listen ein und übergeben alles den Behörden. Sie können sich auf uns verlassen.«

»Wieso sprichst du so«, fragte Marie-Anne gehässig, »hast du irgendetwas Unrechtes getan?« Sie schaute ihn vorwurfsvoll an.

Fast im gleichen Augenblick klopfte es energisch an der Haustür. Barre erhob sich, um zu öffnen.

Soldaten der Nationalgarde drangen in die Wohnküche und umringten Charles. »Sie stehen unter Arrest«, sagte der Anführer. »Auf Befehl von Staatsanwalt Fouquier. Ihnen werden royalistische Umtriebe vorgeworfen.«

»Kann ich wenigstens noch meinen Kaffee austrinken?«

»Nein«, antwortete der Offizier. »Wo steht die Druckmaschine?«

»Desmorets wird Sie hinbringen.« Charles gab seinem Gehilfen einen Wink und trank demonstrativ seinen Kaffee leer. Er verbrühte sich dabei den Mund. Desmorets führte einige Soldaten in den Hof, während die anderen Charles mitnahmen.

Sie fuhren Charles zur Conciergerie. Von weitem sah er die riesigen geschwärzten Mauern mit den Gitterfenstern, die sich am Ende des Quai du Nord wie prähistorische Ungeheuer erhoben. Es war ihm nie aufgefallen, wie bedrohlich sie wirkten. Doch jetzt, da seine Hände gefesselt waren, war es unverkennbar. Wenn man Angst hat, wird alles bedrohlich. Als sie durch das eiserne Tor in den Hof gelangten, packten ihn die Soldaten an den Armen.

»Das ist nicht nötig«, sagte Charles, »ich habe keinen Grund zu fliehen.«

Wie einen Schwerverbrecher führten sie ihn in das Büro von Antoine Fouquier. Der Chefankläger blickte kurz auf und gab den Soldaten mit einer abschätzigen Bewegung zu verstehen, dass sie gehen sollten. Antoine lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Charles emotionslos. Er bot ihm keinen Stuhl an.

»Der Henker als Verdächtiger in meinem Kabinett, wer hätte das gedacht?«, murmelte Fouquier.

»Was liegt gegen mich vor, Antoine?«, fragte Charles knapp.

»Antoine? Hast du die korrekte Anrede schon wieder vergessen?« Fouquier war enttäuscht, dass Charles keine Angst zeigte. Er starrte ins Leere. Sein Gesicht war noch hagerer geworden, obwohl allseits bekannt war, dass er wie alle Revolutionäre einer Flasche Rotwein und üppigem Essen nie abgeneigt war. »Bürger Sanson, in deinem Schuppen haben wir eine Druckerpresse sichergestellt, mit der Schmähschriften gegen die Revolution gedruckt wurden.«

»Ich brauche den Schuppen nicht, ich habe ihn vermietet.«

»Bürger Sanson, die Nation wird von allen Seiten bedroht. Fremde Truppen stehen an unseren Grenzen. Das Ausland fürchtet, dass unsere Revolution auf ihre Länder überschwappt. Zu Recht. Unsere Revolution wird die ganze Welt erobern. Man kann Ideen, deren Zeit gekommen ist, nicht aufhalten. Und im Innern? Aristokraten brüten Komplotte aus. Sie wollen die Monarchie zurück. Aber die Monarchie, die kommt nie wieder. Wieso also, Bürger Sanson, hilfst du jenen, die die Errungenschaften der Revolution zunichtemachen wollen? Trifft es zu, was Gorsas in seiner Zeitung unterstellt, dass sich alle Henker Frankreichs gegen die Revolution vereint haben?«

»Nein, die Henker Frankreichs ziehen nicht am gleichen Strang.«

Fouquier lachte. »Wie wahr, jeder Henker hat seinen eigenen Strang.«

»Mir war nicht bekannt, was die jungen Leute in meinem Schuppen drucken. Sie erwähnten Revolutionslieder, die sie im Palais Royal verkaufen wollten. Es hat mich auch nicht zu interessieren. Ich bin Monsieur de Paris und nicht der Spitzel irgendeiner Behörde.«

»Das siehst du falsch. Wachsamkeit ist das Gebot der Stunde. Und wer uns nicht dient, ist gegen uns. Aber sag mal, Bürger Sanson, reicht dein Gehalt nicht aus, dass du deinen Schuppen vermieten musst?«

»Ich werde in Assignaten bezahlt. Bis ich zu Hause bin, ist das Papier nichts mehr wert. Mein Gehalt ist ohnehin knapp bemessen. Da immer mehr Verurteilte aufs Schafott geschickt werden, nehmen die Ausgaben zu, aber nicht die Einnahmen. Ich habe mittlerweile sechzehn Personen zu versorgen, meine Familie, vier Gehilfen, Knechte, Fuhrmänner, der Hufschmied kostet bereits fünfzig Livre pro Pferd. Prämien und Pensionen bezahle ich von meinem Lohn. Dazu kommt, dass ich seit Jahren von so vielen Armen bestürmt werde, dass ich um jede zusätzliche Einnahmequelle froh bin. Es ist Tradition in unserem Haus, den Armen zu helfen. Und in diesen Zeiten sind sie dringend auf unsere Hilfe angewiesen.«

»Höre ich eine versteckte Kritik wegen der steigenden Zahl von Verurteilungen? Bürger Sanson, wenn die Revolution einmal in Fahrt ist, werden es Zehntausende sein. Wir müssen Paris säubern und das Aristokratische ausmerzen. Jede Revolution wird wie ein Säugling im Blut geboren, und ihre Kinder waten im Blut, bis die Revolution vollendet ist.«

»Ich hoffe, dass einer übrig bleibt, um die Strafurteile zu vollstrecken«, sagte Charles.

Fouquier verzog keine Miene. »Notfalls werde ich es tun. Reiss den Mund nicht zu sehr auf, Bürger Sanson. Dein Amt bietet dir keinen Schutz.«

»Ich werde Gorsas und den Courrier de Versailles verklagen.«

Fouquier zuckte die Schultern. »Das steht dir frei. Aber vergiss deine Maschine nicht. Wir werden sie brauchen. Wir sind noch lange nicht am Ende des Weges angelangt. Du wirst in der Zwischenzeit ein paar Nächte im Gefängnis Saint-Lazare verbringen. Vielleicht fällt dir dann noch etwas ein, das du mir beichten möchtest. Es gibt in den unterirdischen Verliesen so viele Ratten, dass du nachts eh nicht schlafen kannst. Also denk nach.«

»Worüber?«, fragte Charles, ohne sich seine Wut anmerken zu lassen.

»Uns interessieren alle konterrevolutionären Umtriebe. Kennst du Royalisten? Bestimmt. Nenn mir ihre Namen!«

»Du weisst genau …«

»Du? Mein Amt verlangt ein Sie, oder haben wir etwa zusammen die Schulbank gedrückt?«

»Sie wissen genau, dass ein Henker keine Freunde hat. Er teilt sein karges Mahl mit Hunden und Pferden. Es ist nicht erstrebenswert, sich in der Gesellschaft des Henkers zu befinden.«

»Mag sein«, entgegnete Fouquier, »aber du bist nicht einfach der Henker, du bist Monsieur de Paris, und viele Menschen halten sehr viel von deinen Heilkünsten. Übrigens, ich habe manchmal so ein Ziehen in der linken Brust. Wie kurze Nadelstiche. Das Herz?« Fouquiers kühler Ton wich echter Besorgnis.

»Nervosität, absolut harmlos.«

»Nun gut«, Fouquier atmete befreit aus, »ich bin sicher, in Saint-Lazare werden dir Namen einfallen.« Er griff nach einem Bündel Assignaten, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Das Papiergeld der Französischen Revolution.« Er fächerte sich damit Luft zu. »Nur schade, dass es Fälschungen sind. Und wo wurden diese Fälschungen gedruckt?« Er grinste. Jetzt wurde Charles tatsächlich blass. »Mag sein, dass deine Untermieter Revolutionslieder gedruckt haben. Aber nicht nur. Das war eine Tarnung.« Fouquier lachte auf. »Siehst du, Charles, ich habe dich immer gewarnt. Du warst der Musterschüler in Rouen. Aber ich wusste, eines Tages sehen wir uns wieder, und du wirst unter Schmerzen begreifen, dass einer, der aus der Gosse stammt, immer nach Scheisse riecht und dass einer, der adliges Blut in den Adern hat, immer überlegen ist. Es ist mir eine besondere Genugtuung, dich in den Kerker zu werfen.«

»Was habe ich dir angetan, Antoine?«

»Antoine? Schon wieder? Ich bin Fouquier, der oberste Ankläger der Republik. Ich klage an, und du vollstreckst die Urteile. Du bist der Metzger.«

Saint-Lazare: In diesem ehemaligen Lepra-Krankenhaus wurden Menschen inhaftiert, gefoltert und ohne Gerichtsurteil getötet. Es gab keine Einzelzellen. Zu Hunderten zwängten sich die Gefangenen in der Kleidung, die sie bei ihrer Verhaftung getragen hatten, durch die endlosen, finsteren unterirdischen Korridore des Gefängnisses. Trotz der misslichen Lage und der düsteren Perspektive gab es noch zahlreiche Insassen, die sich beim Kartenspiel die Zeit vertrieben. Einige sangen, andere versuchten das andere Geschlecht zu verführen. Vor allem die jungen Frauen hielten verzweifelt Ausschau nach einem Mann, der sie schwängerte. Eine Schwangerschaft rettete sie vor dem sicheren Tod.

Nach einigen Tagen hörte Charles seinen Namen rufen. Er ging zum Gitter und suchte zwischen den Stäben nach einem bekannten Gesicht. Plötzlich stand Marie-Anne vor ihm. Sie hatte ihm eine Wurst, einen Laib Brot und einen Krug Bier mitgebracht.

»Wann lassen sie dich frei?«, fragte sie.

»Ich weiss es nicht«, antwortete Charles und nahm die Nahrung, die sie ihm zwischen den Gitterstäben hindurchschob.

»Ich habe die Wurst so gemacht, wie sie meine Mutter immer gemacht hat.«

»Ich habe ihre Wurst immer verabscheut«, sagte Charles leise.

»Das hast du mir nie gesagt.«

»Du wolltest es nicht hören, aber ich bin dir sehr dankbar, dass du mir etwas zu essen bringst. Ich habe nicht damit gerechnet.«

»Machst du mir etwa Vorwürfe?«

»Ich mache dir seit Jahren keine Vorwürfe mehr, Marie-Anne. Wir sehen uns ja kaum noch.«

»Was liegt gegen dich vor?«

»Nichts.«

»Wieso haben sie dich dann verhaftet?«

»Ich weiss es nicht.«

»Gibt es eine Anklageschrift?«

»Nein, das ist wohl die Errungenschaft der Revolution. Wir brauchen keine Anklageschriften mehr. Hier unten schmoren Menschen, die zum Teil von Kindern verleumdet wurden.«

»Desmorets soll dir einen Anwalt besorgen.«

»Ich habe kein Anrecht auf einen Anwalt, Marie-Anne. Mittlerweile vegetieren sogar die Väter der Revolution hier unten, die Verfasser der Menschenrechte. Das Ganze ist aus dem Ruder gelaufen. Der Druck der Strasse ist so gross, dass jeder Gemässigte zu den Radikalen überlaufen muss, um zu überleben. Die Nationalversammlung folgt ihnen Tag für Tag, um nicht in den Ruf zu kommen, zu gemässigt zu sein. Jeder fürchtet, verhaftet zu werden.«

Beide schwiegen. Nach einer Weile sagte Marie-Anne: »Wenn wir uns nichts mehr zu sagen haben, gehe ich jetzt.«

Charles nickte. »Wir hatten über zwanzig Jahre Zeit, uns etwas zu sagen, Marie-Anne. Wir haben es nicht getan. Doch da ist etwas, was ich dir sagen will.«

Marie-Anne schaute ihn fragend an.

»Falls ich je wieder hier rauskomme, wird Dan-Mali bei mir wohnen. Uns vereint ja nur noch das gemeinsame Dach. Das kann so bleiben.«

»Eine Frau weiss, wann sie ihren Mann verloren hat. Ich wünsche dir, dass du hier unten vermoderst. Dann werde ich dafür sorgen, dass deine siamesische Schlampe unser Land verlässt.« Sie drehte sich um und verschwand im düsteren Korridor zwischen den Besuchern.

Eine Woche später wurde Charles erneut Antoine Fouquier vorgeführt.

»Hast du Namen?«, fragte er ohne Umschweife.

»Ich arbeite daran«, sagte Charles. Er wollte Zeit gewinnen.

»Kanntest du den Inhalt der Flugblätter, die in deinem Schuppen gedruckt wurden?«

»Nein«, sagte Charles, »ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass sie behaupteten, Revolutionslieder zu drucken. Ich habe mir offen gestanden nichts dabei gedacht. Im Gegenteil. Ich dachte, es sei für diese jungen Menschen besser, sie hätten Arbeit und lungerten nachts nicht in den Gassen herum.«

»Wieso hast du nicht nachgeschaut?«

»Wieso hätte ich das tun sollen? Ich bin Vermieter. Ein Vermieter spioniert seinen Mietern nicht nach. Hätte ich denn jeden Abend ihre Druck-Erzeugnisse lesen sollen? Ist es dieses Versäumnis, das man mir vorwirft? Wie hätte ich ahnen sollen, dass sie Assignaten fälschen und Spottverse auf die Revolution drucken?«

Fouquier schüttelte sich vor Lachen, ohne dass ein Laut zu hören war. »Die Leute haben kein Geld für Brot, aber sie sollen Liedtexte kaufen? Du beleidigst meine Intelligenz.«

Charles zuckte die Schultern. »Ich erzähle Ihnen nur, was meine Mieter mir versicherten.«

»Und du wurdest nicht stutzig?«

»Wenn sie Flausen im Kopf haben, haben sie eben Flausen im Kopf. Wenn ich gewusst hätte, was sie tatsächlich drucken, hätte ich ihnen selbstverständlich den Schuppen nicht vermietet und sie gleich bei Ihnen angezeigt, Monsieur.«

Fouquier lächelte. Es gefiel ihm, dass Charles ihn nun mit Monsieur anredete. Mit einer gewissen Belustigung musterte er den Hünen, der ihm gegenüberstand und auf sein Wohlwollen angewiesen war. Während ihn alle Welt fürchtete, war er jetzt hier und kämpfte um seine Freiheit.

»Nun gut«, sagte Fouquier, »die jungen Kerle sind fast alle geflohen, als wir den Schuppen stürmten. Wir haben eine Menge Assignaten gefunden. Wir wissen noch nicht, ob das Fälschungen aus England sind oder ob sie in deinem Schuppen gedruckt wurden. Dass junge Leute über so viel Papiergeld verfügen, halten wir eher für unwahrscheinlich. Das Ergebnis der laufenden Untersuchung hängt natürlich auch ein bisschen davon ab, ob dir noch der eine oder andere Name einfällt. Nimm es also nicht auf die leichte Schulter, sonst wird dein Sohn Henri plötzlich die unangenehme Pflicht haben, seinen Vater hinzurichten. Also erinnere dich, hör dich um, und melde mir Namen.«

Charles nickte.

»Du kannst gehen. Du bist frei. Vorläufig. Und beeil dich mit der neuen Maschine. Wir haben hier jeden Tag mehr Verurteilungen.«

Charles nickte erneut und drehte sich um. Als er gerade die Tür öffnen wollte, fragte Fouquier: »Kanntest du Hentz?«

»Den Henker aus dem Elsass?«

»Ja, der wurde letzte Woche hingerichtet. Selbst der Henkersberuf schützt niemanden.«

Charles stieg in den Hof der Conciergerie hinunter und fragte die Stallburschen nach seinem Pferd. Hentz’ Geschichte war ihm bekannt. Fouquier hatte nicht alles erzählt. Hentz hatte jeweils die Leichname enthaupteter Frauen vergewaltigt.

Ein Stallbursche reichte ihm die Zügel. Charles wollte gerade aufsteigen, als eine Kutsche ihm den Weg versperrte. Ein Diener öffnete die Tür. Doktor Louis stieg aus. »Oh, Monsieur de Paris«, sagte er, »wir können die Maschine bauen, aber der Zimmermann Guédon verlangt fast sechstausend Livre pro Maschine. Das ist der Staatsanwaltschaft zu teuer. Guédon meint, kein Mensch wolle so etwas bauen, deshalb sei der Preis so hoch.«

»Tobias Schmidt baut die Maschine für dreihundert Livre«, sagte Charles, »für den Leinensack will er gut zwanzig Livre extra.«

»Er soll noch heute damit anfangen«, sagte Doktor Louis und nahm die Treppe zu Fouquiers Büro. Er wollte nicht zu lange zusammen mit dem Henker gesehen werden.

Charles ging wieder seiner Arbeit nach. Wenn er nachts nicht schlafen konnte, schrieb er die Ereignisse in sein Tagebuch. Doch wohl war ihm nicht mehr dabei. Er überlegte, ob er die Tagebücher verbrennen sollte. Ihr Inhalt würde für ein Strafverfahren ausreichen. Aber er brauchte sie: Während die Bürger von Paris in Angst erstarrten und sich unsichtbar machten, griff Charles immer öfter zur Feder und schrieb heimlich nieder, was niemand mehr niederzuschreiben wagte. Er überschrieb die Aufzeichnungen mit Erinnerungen im Dienste der Französischen Revolution.

Eines Tages erwartete ihn Dan-Mali in der Pharmacie. Sie stand etwas verloren herum und schaute sich die Schalen mit den zerstampften Blüten und Wurzeln an. Als sie Charles sah, stürzte sie mit weit geöffneten Armen auf ihn zu, umarmte ihn und küsste ihn. Nach einer Weile sagte sie: »Ich habe Schmerzen.« Charles bat sie, sich hinzulegen. Die Wunde war verheilt. Doch plötzlich sah er blaue Verfärbungen an der Taille. Er zog ihr das Kleid aus. Sie hatte zahlreiche Blutergüsse, als wäre sie mit einem Dreschflegel verprügelt worden.

»Wer hat das getan?«, fragte Charles bebend vor Zorn.

»Ich bin gestürzt«, log Dan-Mali.

»Ich kann Wunden lesen, also lüg mich nicht an.«

»Pater Gerbillon. Aber es ist meine Schuld. Ich habe geweint, als er mir mitteilte, dass ich dich nie mehr sehen darf. Jetzt muss ich immer bei ihm bleiben, putzen, kochen, auf den Markt gehen. Und nachts muss ich in seinem Bett schlafen. Das ist aber nicht der Wille meines Königs in Siam. Der Pater zwingt mich, Dinge zu tun, die unrein sind.«

»Hilft dir denn keiner der anderen Patres?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, die saufen, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie erwarten den Tag des Jüngsten Gerichts. Sie haben Angst vor Pater Gerbillon. Er hat zu viel Einfluss. Er verkehrt im Château der Madame Gourdan mit den mächtigen Männern.«

»Pater Gerbillon«, murmelte Charles wie zu sich selbst.

Dan-Mali nickte. »Was hast du vor?«

Noch am selben Tag besuchte Charles das Etablissement in der Rue des Deux-Portes.

»Besondere Wünsche, Monsieur?«, fragte eine Spanierin in gebrochenem Französisch.

»Pater Gerbillon?«, flüsterte Charles.

»Madame Gerbillon?«, fragte sie und führte ihn in einen unbekannten Saal. Die Menschen trugen hier keine dunklen Bademäntel, sondern vornehme Kleidung für eine Soiree. Die Spanierin zeigte diskret auf eine Frau, die sich mit einer jungen, nackten Blonden unterhielt.

»Das ist eine Frau«, sagte Charles.

»Er trägt am liebsten Frauenkleider«, sagte Gorsas, der plötzlich neben Charles stand. »Keiner weiss, was in Siam mit dem Mathematiker des Königs geschehen ist. Sicher ist, dass er dort nicht seine Zeit verbracht hat, um den Sternenhimmel zu beobachten und neue Seekarten zu entwerfen. Er geniesst Schutz, weil er unsere Herren Revolutionäre mit siamesischen Mädchen versorgt.« Charles wandte sich ab. Gorsas folgte ihm. »Monsieur, Sie nehmen mir doch hoffentlich meinen kleinen Artikel über die Druckerei der Royalisten nicht übel. Die Leser mögen solche Geschichten.« Gorsas gab der Spanierin einen Wink zu verschwinden. »Überlassen Sie mir Ihren Gast.« Er nuckelte an seiner Pfeife. »Schauen Sie, dort drüben, Robespierre. Er kann es nicht ausstehen, dass Saint-Just dieselbe Frau begehrt. Wenn diese Rivalität nicht bald aufhört, wird die Revolution scheitern. Wegen einer Nutte.«

Charles musterte Gorsas skeptisch. Er hatte sich verändert. Seine Mimik drückte Spott und Verachtung aus.

»Es sollte Dinge geben, Monsieur de Paris, die für einen Mann wichtiger sind als eine junge Hure. Seine Tonpfeife zum Beispiel.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und hustete. »Eine Nutte kann man sich teilen, aber nicht eine Tonpfeife.«

Charles schenkte dem Journalisten keine allzu grosse Beachtung mehr. Er beobachtete die ungelenken Balzspiele von Robespierre und Saint-Just.

»Kennen Sie Saint-Just?«

Charles schüttelte den Kopf.

»Ich habe einige seiner Hetzreden in der Nationalversammlung gehört. Er kommt aus der tiefsten Provinz. Sein Ehrgeiz ist grenzenlos, sein Talent hingegen erbärmlich. Ein Versager wie sein vergötterter Robespierre, er gibt nichts her. Schauen Sie ihn genau an. Ist das ein richtiger Mann? Ein Kind mit einem alten Gesicht. Kommen Sie.« Gorsas führte Charles zu Saint-Just und Robespierre.

»Was macht die Schriftstellerei?«, fragte Gorsas und grinste Saint-Just offen ins Gesicht. »Sie könnten doch ein Dekret in Versform verabschieden, das die Pariser Verlage zwingt, Ihre Gedichte zu publizieren.«

Saint-Just warf Gorsas einen abschätzigen Blick zu. »Nimm dich in Acht, Bürger Gorsas. Auch wenn du kein Royalist bist, geniesst du deswegen noch lange keine Narrenfreiheit.«

»Oh, sind unsere Revolutionäre jetzt so unantastbar, wie es einst unsere Könige waren?« Gorsas griff in seine Tasche und nahm ein Dokument hervor. Er legte es vor Saint-Just auf den Tisch. »Olympe de Gouges hat es geschrieben. Gestützt auf die Menschenrechte, hat sie ein Pamphlet verfasst mit dem Titel Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin und verteilt es jetzt in den Strassen von Paris.«

Saint-Just las einige Zeilen und murmelte: »›Die Frau wird frei geboren und ist dem Mann in allen Rechten gleich.‹ Da muss sie etwas missverstanden haben.«

Robespierre nahm ihm das Pamphlet aus der Hand und zerriss es.

Gorsas lachte. »Ich fürchte, das wird nicht reichen.«

»Kommen Sie bloss nicht auf die Idee, das zu drucken, sonst schicke ich Sie …«

»Wo bleibt da die Pressefreiheit, Bürger Robespierre?«

»Man kann die Pressefreiheit auch missbrauchen, um das Volk aufzuwiegeln, Bürger Gorsas.« Robespierre fixierte ihn mit strengem Blick.

»Und welche Rechte haben die Neger in den französischen Kolonien? Gelten die Menschenrechte auch für sie?«

»Das Gespräch ist beendet, Gorsas. Eines Tages wird Ihnen noch die Spucke wegbleiben.«

»Dann werde ich wohl in den Sack spucken«, meinte Gorsas grinsend.

»Gorsas, das Problem ist: Plötzlich wollen alle regieren, und keiner will mehr Bürger sein«, seufzte Saint-Just.

Ein Vorhang wurde beiseitegeschoben, und eine imperiale Erscheinung betrat den Saal. Es war Danton, der grosse Polterer mit dem breiten Pockennarbengesicht und den wulstigen Lippen. Er gab seiner Begleiterin einen Klaps auf den Hintern und ging auf Saint-Just zu. »Der Lohn eines siegreichen Revolutionärs muss ein Luxusleben sein, findest du nicht auch?«

Saint-Just winkte ab. Robespierre griff blitzschnell nach einem schwarzhaarigen Mädchen mit Pagenschnitt und erhob sich. Er nahm sie bei der Hand und führte sie in eins der Séparées.

»Die Schöne hat sich für die Macht entschieden«, sagte Gorsas zu Saint-Just, »nicht für die Jugend, nicht für das Geld.«

Saint-Just erhob sich ebenfalls und folgte Robespierre. Danton wandte sich ab und ging zur Bar.

»Dieser Saint-Just. Er ist ein Narzisst, der sich unbewusst an der Monarchie rächen will, weil sie ihm trotz aller Bemühungen die Türen von Versailles verschlossen hielt. Das ist meine Theorie, Monsieur de Paris.«

»Was wissen Sie über den Mathematiker des Königs?«, fragte Charles diskret.

»In Siam haben sie einen Transvestiten aus ihm gemacht. Es hat ihm offenbar gefallen, wie die Menschen dort bei Zeremonien herumlaufen. Dann ist er mit zwölf siamesischen Austauschschülern und -schülerinnen nach Paris zurückgekehrt, und eine dieser kleinen Siamesinnen scheint ihm so gut gefallen zu haben, dass er sie gleich für sich beansprucht hat. Das ist wie mit unseren Revolutionären. Was sie beschliessen, gilt nur für die andern. Können Sie sich das vorstellen?«

»Wenn Sie Strafurteile vollstrecken, können Sie sich alles vorstellen. Ich habe damals Damiens hingerichtet …«

»Ich erinnere mich sehr wohl, mein Gedächtnis ist mein Kapital«, sagte Gorsas, »nichts entgeht mir, und dieses falsche Weibsbild muss sich in Acht nehmen. Er wird als Nächster auf dem Schafott enden.« Er ging zur Bar.

Charles beobachtete, wie Pater Gerbillon mit einem blutjungen Mädchen kokettierte. Er spürte einen immensen Hass in sich aufsteigen und wandte sich ab. Und einmal mehr schockierte ihn die neue Willkür, die sich in Paris breitmachte. Die Revolutionäre hatten den Thron der Könige bestiegen. Im Ausland sprach man schon von den Armeen Robespierres.

»Charles!«, rief jemand. Er drehte sich um. Es war Pater Gerbillon mit dem Mädchen. »Welch eine Überraschung, ich dachte, Sie mögen eher siamesische Prinzessinnen. Haben Sie Geduld. Eine Schiffsladung ist unterwegs.« Der Pater lachte. Er hatte nicht die geringsten Hemmungen. Er war sich sicher, dass er den Schutz der Revolutionäre genoss, und ein Henker war zu unbedeutend, als dass man sich vor ihm zu genieren brauchte.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Charles beunruhigt.

»Ich hab’s Ihnen doch schon erklärt. Die Revolution hat die Kirche in Armut getrieben. Womit sollen wir also unser Klosterleben finanzieren?«

»Mit anständiger Arbeit«, gab Charles bissig zurück.

»Was ist schon anständige Arbeit? Ist Ihre Arbeit etwa anständig?«

»Beabsichtigen Sie, Dan-Mali in dieses Haus zu schicken?«

Pater Gerbillon lachte laut auf. »Würden Sie mir das zutrauen?« Er gluckste vergnügt. »Ich warne Sie. Die Liebe ist nur von kurzer Dauer, dann erwacht das Jagdfieber, und man sehnt sich nach der Illusion einer neuen Liebe. So hat uns Gott erschaffen. Übrigens: nach seinem Ebenbild. Können Sie sich vorstellen, wie der Kerl rumgebumst hat?«

Charles verzog keine Miene. »Ich habe Sie schon einmal gefragt, ob Dan-Mali bei mir arbeiten und wohnen kann.«

Der Pater schüttelte den Kopf und sagte mit grosser Bestimmtheit: »Dan-Mali beanspruche ich für mich allein. Sie gehört mir. Ich liebe ihre Küche.«

»Ich kann Ihnen Geld geben.«

Der Pater tat so, als hörte er das zum ersten Mal. »Endlich ein vernünftiger Vorschlag. Die Kirche braucht viel Geld, um ihre Hirten zu mästen. Ich werde darüber nachdenken. Wenn Sie mir eins versprechen …«

»Ja?« Am liebsten hätte Charles den Typ verprügelt.

»Denken Sie nicht schlecht über mich. Die Revolution hat Gott hinweggefegt. Jetzt können wir unsere Schweinereien ausleben, denn es gibt da oben keinen mehr, der Buch führt.« Er legte Charles den Arm auf die Schulter und flüsterte: »Ohne Gott gibt es keine Flüche mehr. Charles, Sie sind frei. Die Revolution hat Sie befreit.« Wieder lachte er lauthals und entfernte sich mit dem Mädchen.

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