Auf seinen Ausritten in die Wälder der Umgebung von Montmartre war Charles stets allein. Keiner wollte mit dem Henker jagen. Hinter den Wäldern erstreckten sich Gemüsebeete, so weit das Auge reichte, und im Süden, wenn man Richtung Paris ging, sah man die einfachen Häuser der Pächter der Abtei Saint-Pierre de Montmartre. Auf einem kleinen Hügel stand das Haus der Gärtnerfamilie Jugier, das gleichzeitig ein kleiner Gasthof war, in dem Charles manchmal einkehrte. Die beiden Töchter, Marie-Anne und Marie-Luce, waren um die dreissig. Der Vater sass tagaus, tagein in einem Schaukelstuhl vor dem Haus und schlief oder beobachtete die zahlreichen Gärtner, die auf seinen Gemüsebeeten arbeiteten. Zu seiner Rechten hatte er eine Flasche Kartoffelschnaps, die er jeweils bis zum Abend leerte. Manchmal sprang er unvermittelt hoch, ging mit energischem Schritt auf einen der Tagelöhner zu und zeigte ihm, wie man richtig arbeitet: »Lass dir einen Rat geben, streng dich mehr an, und verrichte deine Arbeit mit Akribie, so vergeht die Zeit schneller.« Die Tagelöhner nickten jeweils nur. Sie kannten das cholerische Temperament des Mannes. Manchmal, wenn er bereits zu viel getrunken hatte, fiel er der Länge nach hin, und die Tagelöhner versuchten, ihn aus dem Gemüsebeet zu hieven. Er wurde dann jeweils richtig wütend, denn ein Mann wie er brauchte keine Hilfe. Seine Ehefrau war sehr kleingewachsen und schwatzte derart enervierend auf die Wanderer ein, die hier eine Rast einlegten, dass die meisten sich damit begnügten, Wasser für ihre Hunde zu verlangen. Wenn die beiden Alten allein waren, zankten sie sich um alles und jedes. Der Mann war eigentlich nicht streitsüchtig, aber die Frau schlich wie eine giftige Tarantel um seinen Schaukelstuhl herum und versuchte, ihn gegen irgendetwas oder irgendjemanden aufzustacheln. »Gib doch endlich Ruhe«, pflegte er dann zu sagen und ging zu den Gemüsebeeten. »Eines Tages werde ich Ruhe geben«, schrie sie ihm nach und reinigte zum wiederholten Male die Tische. Zwischendurch schaute sie unauffällig nach links und rechts und gab einem Hund, der ihr im Wege stand, einen kräftigen Tritt in die Rippen. Der Hund schreckte jaulend auf und zottelte davon. Sie hasste Hunde. »Die machen nur Dreck«, sagte sie. Aber ohne Hunde hätte sie nicht ihrer Religion frönen können: saubermachen und nochmals saubermachen.
Als sie Charles sah, holte sie einen Krug Wasser und einen Becher und stellte beides auf den äussersten Tisch, den Charles bevorzugte. Er setzte sich und beobachtete, in Gedanken versunken, die Ankunft einer Jagdgesellschaft. Dass er sogar hier ausgeschlossen war, kränkte ihn. Auf Theater und Oper mochte er noch verzichten, obwohl ihm das nicht leichtfiel, aber die Pferde, die Hunde, der Ausritt in die Natur, darauf wollte er nicht verzichten. Und ausgerechnet hier, auch hier, war er ein Geächteter. Obwohl Charles den Frauen gefiel, hatte er kaum eine Chance, eine Frau zu finden. Denn sobald er seinen Beruf erwähnte, wandten sie sich ab. Sein Beruf ekelte sie an. Zwar hatte er bereits die richtige Frau gefunden, Dan-Mali, aber sie hatte ihm klargemacht, dass eine Verbindung nicht möglich war. Er dachte immer noch an sie. Selbst wenn er hier draussen sass und von seinem Tisch aus die Tür des Gärtnerhauses beobachtete. Meist traten die beiden Schwestern zusammen aus dem Haus. Marie-Luce war ein sehr freundlicher und gutmütiger Charakter. Auffallend waren ihre feuerrote Mähne und ihr energischer Schritt. Sie war verheiratet mit einem deutlich älteren Vorarbeiter, dessen Rücken von der schweren Feldarbeit gezeichnet war. Die Arbeit im Freien hatte seine Haut dunkel gegerbt. Auch er war ein fröhlicher und hilfsbereiter Mensch, der gern sang und sich mit den Tagelöhnern unterhielt. Marie-Anne war so ziemlich das Gegenteil. Sie war still und verfügte wie auch ihr Vater über eine natürliche Autorität. Es war schwer, an sie heranzukommen, denn sie sprach kaum. Kein Mensch konnte ihre Gedanken erraten. Sie war schlank, hochgewachsen und hatte einen seltsam durchdringenden Blick. Man hatte stets den Eindruck, sie wolle etwas sagen, könne aber nicht sprechen. War sie wütend? Würde sie gleich die Beherrschung verlieren? Sie wirkte meistens sehr angespannt. Wenn sie einen Krug Wasser brachte, waren ihre Gesichtszüge sanft und weich, voller Anmut, aber wenn sie sich abwendete und glaubte, von niemandem beobachtet zu werden, verfinsterte sich ihr Blick. Ihre Augen wurden wieder stechend, bedrohlich, als wäre sie bereit zu Gewalt, als könnte sie hassen und auf immer nachtragend sein. Es schien, als sei sie untröstlich erzürnt, dass man sie geboren hatte. Das war es. Untröstlich erzürnt, dass man sie geboren hatte, dachte Charles. Aber irgendetwas an ihr zog ihn an, ein geheimnisvoller Zauber. Bei ihr empfand er nicht die erotische Anziehung, die er normalerweise bei Frauen empfand. Bei ihr wurde kein Jagdfieber ausgelöst. Charles begehrte nicht, ihren nackten Körper zu sehen, sie zu küssen. Nein, nichts von alldem. Es war ein unbekannter Zauber, der Charles heimsuchte. Manchmal schien es ihm, als suchte er bei ihr Trost, weil er Dan-Mali verloren hatte. Aber sie sprach ja kaum. Sie schien sich nur für das Geschäft zu interessieren. Also kaufte Charles bei ihr Obst und Gemüse, obwohl sich sein Gehilfe Gros vor Nahrungsmitteln kaum noch retten konnte.
»Wollen Sie das alles essen?«, fragte sie mit einem Lächeln. Sie schien ihn längst zu durchschauen. Ja, wenn es ums Geschäft ging, konnte sie sogar lächeln.
»Es sind die besten Früchte weit und breit.«
Sie hob das Kinn etwas keck und überheblich und sagte leise: »Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Ich habe Ihren Vater selten wach gesehen«, sagte Charles unvermittelt. Er wollte das Thema wechseln.
»Er schläft viel«, sagte sie, »ich wecke ihn zum Essen, dann schläft er meistens wieder ein. Das ist das Alter, er ist bereits über achtzig, das sind zwei Menschenleben. Irgendwann wird er nicht mehr aufwachen und für immer schlafen.«
Hunde kläfften. Es waren weisse Jagdhunde mit langen Ohren. Sie eilten den sechs Jägern voraus, die auf das Gärtnerhaus zuritten. Marie-Anne wandte sich von Charles ab und erwartete die Ankunft der Hunde. Sie sprangen freudig an ihr hoch. Dann kniete sie nieder, um sie besser liebkosen zu können. Ein Hund begann ihr Ohr zu lecken, was sie sehr amüsierte. Sie schien die Hunde zu kennen und sehr zu mögen. So hatte Charles sie noch nie erlebt. Wie konnte man bloss bei Hunden so aufblühen und Menschen gegenüber so reserviert sein? Vielleicht lag es an ihm. Vielleicht wusste sie, dass er Henker war. Ja, das war vermutlich der Grund.
Charles bestieg sein Pferd und ritt langsam davon. Er kam dabei an der Jagdgesellschaft vorbei. Die Männer musterten ihn stumm. Keiner grüsste. Sie starrten ihn an, als wollten sie ihn mit ihren Blicken vertreiben. Charles wusste, dass er hier nicht mehr auftauchen musste. Sie würden Marie-Anne seinen Beruf verraten und allerlei Scheusslichkeiten auftischen. Wollte er nicht ledig und kinderlos bleiben, gab es auch für ihn nur die Möglichkeit, die Tochter eines Henkers zu heiraten. Oder Marie-Jeanne Bécu aus der Rue des Deux-Portes. Charles nahm sich vor, nicht mehr herzukommen. Er wollte sich eine andere Gegend zum Ausreiten suchen.
Zu Hause übergab er seinem Gehilfen Gros das Gemüse und das Obst. Dieser fragte, ob die Verkäuferin denn so hübsch sei. Charles bringe nach seinen Jagdausflügen so viel Ware ins Haus, dass er bald einen eigenen Marktstand eröffnen könne.
»Sie ist hübsch«, sagte Charles nach einer Weile. Er blieb in der Küche stehen und schaute Gros zu, wie er das Gemüse in einem Zuber wusch, »aber sie ist total verschlossen, man wird nicht schlau aus ihr.«
»Wenn man wissen will, wie die Mädchen werden, muss man die Eltern genau anschauen.« Gros lachte.
»Der Vater ist ein gutmütiger Kerl, dominant, säuft ein bisschen, doch das machen wohl alle im Alter. Die Mutter aber ist eine Hexe, die ständig am Meckern ist.«
»Und«, fragte Gros, »wem gleicht sie?«
»Vom Körperbau her schlägt sie dem Vater nach.«
»Lassen Sie sich nicht täuschen, Monsieur, da hat schon mancher eine Überraschung erlebt. Vielleicht hat sie den Körperbau des Vaters und den Furienverstand der Mutter. Und denken Sie daran, jeder kleine Charakterzug in jungen Jahren entwickelt sich zu etwas Grossem, wenn die Mädchen älter werden. Was Sie jetzt kriegen, ist nicht das, was Sie in zwanzig Jahren haben werden.«
Charles nahm die beiden Hasen, die er über der Schulter trug, und legte sie auf den Tisch. »Mach uns die Hasen, Gros. Ich brauche wieder mal richtiges Fleisch.«
»Dafür ist es zu spät, Monsieur, es gibt heute Huhn.«
Barre, Firmin und Desmorets betraten die Küche und setzten sich an den Tisch. Sie waren hungrig. Schweigend assen die Männer ihr Abendbrot und tranken dazu mit Wasser verdünnten Rotwein. An jenem Abend fühlte jeder die Leere im Hause. Es fehlte eine Frau. Charles’ Nachdenklichkeit hatte alle verstummen lassen. Keiner wollte mit irgendeinem dummen Geschwätz den Unmut von Monsieur de Paris auf sich ziehen. Charles nahm sich fest vor, eine Frau zu suchen. Er wollte eine Frau und Söhne. Und Töchter, wieso nicht auch Töchter.
Wenn Charles nachts nicht schlafen konnte, spielte er immer Klavier, mitten in der Nacht, und seine Gehilfen wussten, dass der Henker leidet. Doch bald war das Klavier so verstimmt wie er selbst. Da er aber unbedingt noch Klavier spielen wollte, liess er nach dem deutschen Orgelbauer Tobias Schmidt rufen, der das Klavier gebaut hatte.
Tobias Schmidt war ein stiller, diskreter Mensch, der in einer eigenen Welt lebte. Sie bestand aus Musik und merkwürdigen Maschinen, die er erfand und auch konstruierte. Wie alle wirklich kreativen Menschen hatte er nicht nur ein Talent. Es war ihm zu Ohren gekommen, dass der Mann, der es eines Tages fertigbringen würde, Nahrungsmittel haltbar zu machen, die Welt erobern würde. Er arbeitete an Destillationsmethoden und an harzhaltigen Klebstoffen, mit denen man Glasbehälter luftdicht verschliessen konnte. Er war um die vierzig und lebte allein in einem alten Fabrikgebäude hinter der Kathedrale Notre-Dame. Er war spindeldürr, beinahe kahl, und sein Gesicht war stets grau und blutleer, weil er sich schlecht ernährte und sein dunkles Fabrikgebäude kaum je verliess. Er war ein Nachtmensch, ein Tüftler, der seit seiner Erfindung einer hydraulischen Presse in Fachkreisen einen sehr guten Ruf genoss. Zum Henkersberuf hatte er sich nur ein einziges Mal geäussert: »Einer muss es ja tun, Monsieur.« Die Musik verband die beiden Männer und schaffte zwischen ihnen ein stilles Einverständnis. Sie brauchten nicht viele Worte. Als das Klavier gestimmt war, setzten sie sich nebeneinander auf die Klavierbank und spielten. Anschliessend tranken sie in der Küche noch ein Glas Wein. Die gemeinsame Musik hatte sie gesättigt wie eine üppige Mahlzeit.
»Sie sollten heiraten, mein Freund«, sagte Schmidt unvermittelt.
»Und Sie erst«, sagte Charles lachend.
»Ich bin mit meinen Maschinen verheiratet, mit hydraulischen Pressen, Klavieren, Orgeln und Maschinen, die noch keiner gesehen hat. Das Problem ist, dass ich nicht weiss, wozu die Maschinen gut sind, denn ich erfinde sie manchmal, bevor man sie braucht. Nur bei der Konservierung von Nahrungsmitteln bin ich mir ganz sicher. Einige Seefahrer haben bereits Gläser mit an Bord genommen, doch leider zerbricht das Glas oft auf hoher See. Wenn es mir aber gelingen sollte, Gemüse und Obst in Blechdosen zu konservieren, dann wird dies nicht nur der Menschheit helfen, nach schlechten Erntejahren zu überleben, sondern es wird auch die Kriegsführung revolutionieren. Man wird Feldzüge planen können bis ans Ende der Welt. Denn bisher wurden Armeen öfter von verfaulten Nahrungsmitteln gestoppt als von gegnerischen Soldaten. Mit Konserven im Gepäck kann jede Armee bis ans Ende der Welt segeln.«
»Es wird Weltkriege geben«, sagte Charles.
»Wenn eine Idee erst einmal ausgesprochen ist, gibt es kein Halten mehr. Aber Sie sollten sich wirklich eine Frau suchen. Sie sind fürs Alleinsein nicht geeignet. Ihr Beruf ist schwer genug. Sie brauchen eine Frau, die zu Hause auf Sie wartet.«
»Ich weiss«, antwortete Charles, »aber es ist für einen Henker nicht einfach, eine Frau zu finden.«
»Es muss nicht Liebe sein«, sagte Schmidt, »es kann auch Vernunft sein. Ich weiss, dass Sie Kinder lieben und Nachkommen wollen. Dafür brauchen Sie eine Frau.«
Charles wollte darüber nachdenken.
Einige Tage später erhielt er eine Einladung des Journalisten Gorsas für ein Treffen im Etablissement in der Rue des Deux-Portes. Die Frau in Blau, Marie-Jeanne, holte ihn im Entree ab und begleitete ihn in den grossen Saal mit der gläsernen Kuppel.
»Haben Sie Ihren Prinzen gefunden?«, fragte Charles neugierig. Marie-Jeanne hakte sich bei ihm unter und strahlte verträumt. »Ja, es ist der Graf du Barry. Er hat Grosses vor mit mir. Er will mich als Mätresse an den König vermitteln. Er hofft, dadurch seinen Stand in Versailles zu verbessern. Der König ist alt, aber wenn ich es tue, habe ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt und brauche keinen Ehemann mehr. Wieso soll ich also dafür dem Alten nicht jeden Morgen einen blasen? Das ist mir lieber als all die jungen Rammler, die mich mehrmals am Tag besteigen wollen. Und Ihr Amt, Monsieur, habe ich mir sagen lassen, ist ja auch nicht gerade ein Honigschlecken.«
Charles musste lachen. Irgendwie beeindruckte ihn dieser praktische Verstand. Doch er warnte sie: »Ohne Adelstitel bleiben die Tore von Versailles geschlossen, Mademoiselle.«
»Der Graf will mich mit seinem Bruder verheiraten, dann bin ich Gräfin du Barry.«
»Oh, das klingt gut, Gräfin du Barry.«
»Was sind Ihre Wünsche, Monsieur? Es ist meine letzte Nacht hier.«
»Ich bin mit dem Journalisten Gorsas verabredet«, flüsterte Charles, »ist er da?«
»Er steht hinter Ihnen. Madame Bécu, er gehört jetzt mir.« Gorsas lachte, und Marie-Jeanne entfernte sich mit einem adretten Knicks. »Kommen Sie mit«, sagte Gorsas leise und führte Charles zu einer hölzernen Tür mit steinernem Torbogen. Charles war skeptisch. »Vertrauen Sie mir.« Gorsas kicherte.
Gemeinsam stiegen sie eine Wendeltreppe hinunter. Von unten drangen Gestöhn und Lustschreie nach oben.
»Er hat es gerne, wenn jemand zuschaut«, flüsterte Gorsas und zwinkerte. Vorsichtig zog er den schweren schwarzen Vorhang beiseite. Vor ihnen lag ein Gewölbe, schmucklos wie ein Verlies oder wohl eher wie eine Folterkammer. Es erinnerte Charles an Damiens. An der Wand war ein grosses Kreuz befestigt. Daran war ein junger Mann gebunden. Nackt. Er war ungefähr in Charles’ Alter, schlank und auffallend hübsch, hatte dunkelblondes Haar und einen ansteckenden Schalk in den leuchtend blauen Augen. Das Gesicht war spitz und bleich, und der Mund drückte Ironie und Sarkasmus aus. Er schien ganz entspannt, hemmungslos und lachte genussvoll, wenn ihn die Peitsche der Peinigerin traf.
»Der am Kreuz, das ist Donatien Alphonse François de Sade, er schöpft neue Ideen für seine pornographischen Romane. Und der andere, das ist Sire de Fronsac, der uneheliche Sohn des Marquis.« Charles wollte wieder gehen, aber Gorsas hielt ihn zurück. »Wir sind hier eine grosse verschwiegene Familie, Sie können sich beteiligen. Niemand wird Sie jemals verraten.«
Zwei nackte Mädchen mit schwarzen Masken lösten de Sade vom Kreuz und zwangen ihn auf die Knie. Während die Mädchen an seinem Penis saugten, stiess Sire de Fronsac sein Glied in dessen After.
»Haben Sie mich dafür eingeladen?«, fragte Charles und drehte sich um. Er stieg die Wendeltreppe hoch und wollte zum Ausgang, als Gorsas ihn einholte: »Ich habe mit Ihnen etwas zu besprechen. Lassen Sie uns in einer ruhigen Ecke ein Glas Champagner trinken. Sie sind mein Gast.« Er winkte einem Mädchen zu und hob zwei Finger in die Höhe. Offenbar war er hier ein Habitué. Man kannte ihn. Sie setzten sich in zwei dicke Ledersessel. Zwischen ihnen war ein kleiner Tisch. Gorsas beugte sich konspirativ nach vorn. »Monsieur, unsere Gesellschaft braucht eine Kultur der Vernunft. Ihr vorausgehen muss die Entchristianisierung, denn ein vernünftiger Mensch braucht keinen Gott. Er vertraut dem, was er sieht. Anstelle von Gott käme die göttliche Sonne, der Ursprung aller Religionen, denn die Sonne ist das Licht, das Licht Gottes, das höchste Wesen. Was halten Sie von einem Kult des höchsten Wesens anstelle unserer Götterfiguren und Schutzheiligen? Wir huldigen fortan der Natur. Wir feiern die Natur. Aber dafür müssen wir den Klerus zerstören, sonst versucht er, das höchste Wesen für seine Zwecke zu domestizieren.«
»Ist das eine Verschwörung?«, fragte Charles misstrauisch. Ihm war sichtlich unwohl. Er wollte da nicht hineingezogen werden.
»Es gibt Menschen aus allen sozialen Schichten, die sich darüber Gedanken machen. Sie nennen sich Grand Orient de France und tagen im Verborgenen. Sie tragen dabei eine rote Mütze, die Mütze des Mithras, des Sonnengottes. Er ist der Gott der prähistorischen Jäger und der Ursprung aller Religionen. Er verkörpert die göttliche Natur. Die Brüder des Grand Orient de France glauben, dass alle Menschen von Geburt an gleich sind. Wir glauben an Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit.«
»Sie wollen eine Revolution?«, fragte Charles. »Oder wollen Sie lediglich meinen Standpunkt testen?«
»Nein, nein«, Gorsas wehrte ab, »ich habe Sie damals vor Gericht beobachtet. Man hat mich beauftragt, Sie zu kontaktieren. Sie sind Henker, das kümmert uns nicht. Sie haben Courage, Stehvermögen und einen scharfen, analytischen Verstand. Solche Männer brauchen wir. Dem Grand Orient de France können auch Frauen beitreten, denn Frauen und Männer sollen in der Welt von morgen die gleichen Rechte haben.«
»Ich werde darüber nachdenken, Monsieur Gorsas«, sagte Charles, um das Gespräch zu beenden und diesen Ort rasch verlassen zu können.
»Aber nicht zu lange. Sie müssen eine Entscheidung treffen. In Paris braut sich etwas zusammen. Jeder Sturm hat seine Vorboten, Monsieur de Paris. Ich habe die ersten gesehen, es liegt etwas in der Luft.
Charles nahm sich vor, dieses Haus nie mehr zu betreten. Er hatte sich auch vorgenommen, nie mehr zum Gärtnerhaus auszureiten. Und doch tat er es nun erneut. Er redete sich ein, dass er die Gegend mochte. Sein Ausritt in die Umgebung von Montmartre war ein Erfolg. Er schoss ein Reh. Auf dem Heimweg hielt er beim Gärtnerhaus an. Seine Hunde brauchten Wasser. Es war niemand da. Doch bei den endlosen Gemüsegärten standen einige Leute beisammen. Er erkannte Marie-Anne Jugier, die offensichtlich dabei war, den zahlreichen Saisonarbeitern Anweisungen zu erteilen. Er band sein Pferd an und vergewisserte sich, dass das tote Reh gut befestigt war. Dann setzte er sich an einen der Tische vor dem Haus.
Marie-Anne liess nicht lange auf sich warten. Sie kam auf Charles zu und fragte ihn, ob er ein Glas Wasser oder Wein möchte. Charles bat um Wein. Bei seinem Vorhaben konnte ein Glas Wein nicht schaden.
Marie-Anne kam mit einer Karaffe zurück, setzte sich Charles gegenüber und sagte: »Mein Vater ist letzte Woche gestorben.«
»Letzte Woche?«, wiederholte Charles. »Das tut mir leid.« Dann tranken sie wortlos ihren Wein.
Marie-Anne blickte verträumt in die Ferne. Sie schien den süssen Schmerz der Melancholie zu lieben. Als Charles sein Glas abstellte, schaute sie ihn kurz an. Sie wollte erneut den Blick in die Ferne schweifen lassen, doch er blieb an Charles haften. »Man kann nicht ewig leben«, sagte sie wie zu sich selbst. »Jetzt trinken wir seinen Lieblingswein, den er für besondere Gelegenheiten aufbewahrt hatte. Das ist wohl das Schicksal aller guten Weine. Sie sind stets zu kostbar und zu teuer, um sie aus nichtigem Anlass zu trinken. Deshalb werden sie schliesslich von den Erben getrunken. Aus nichtigem Anlass.«
»Dieser Anlass ist vielleicht nicht so nichtig«, sagte Charles und fragte nach einer Weile: »Haben Sie noch nie ans Heiraten gedacht?« Er schaute Marie-Anne mit offenen, freundlichen Augen an.
Sie lächelte verlegen. »Manchmal«, sagte sie. »Falls Gott will, wird er mir jemanden schicken. Jetzt hat er mir den Vater genommen, nun wird er mir vielleicht jemanden schicken.«
»Falls Gott Ihnen jemanden schicken würde, würden Sie ihn dann erkennen?«
»Ich weiss es nicht. Gott müsste mir noch ein Zeichen geben, sonst hat es ja keinen Sinn, dass er mir jemanden schickt.«
Charles nickte nachdenklich.
»Er müsste mir einen Heiratsantrag machen. Ich bemerke nie, wenn Männer mich mögen. Ich habe es stets Jahre später erfahren, wenn diese Männer bereits verheiratet waren und Kinder hatten. Und ich stehe immer noch inmitten meiner Gemüsebeete.«
»Vermissen Sie die Liebe nie?«
»Aber Monsieur, Sie sind doch nicht etwa hergekommen, um mit mir dieses seltsame Gespräch zu führen?«
»Eigentlich schon. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, einen Mann zu heiraten, der nicht Ihrem Stand entspricht, einen Mann, der rechtschaffen seine Arbeit tut, aber eben doch niemandes Stand entspricht.«
»Das müsste ein seltsamer Beruf sein, aber wenn mich dieser Mann aufrichtig liebt …«
»Das tue ich, Mademoiselle.«
Nun liefen beide rot an und wussten nicht so recht, wie weiter.
»Ich habe ein Reh geschossen«, sagte Charles ohne Übergang. »Ich werde jetzt nach Hause gehen, und mein Gehilfe Barre wird das Reh ausweiden. Wenn es nicht zu aufdringlich ist, würde ich Ihnen morgen früh gerne das beste Stück vorbeibringen. Den Rücken. Ich bin sicher, Sie können ihn wunderbar zubereiten.«
»Das könnte ich nur annehmen, wenn Sie das Mahl anschliessend mit mir und meiner Mutter teilen.«
»Gut«, sagte er, »dann kann ich gleich Ihre Mutter um Ihre Hand bitten.«
»Gibt es noch etwas, was Sie mir sagen möchten?«, fragte sie.
»Ja, ich bin der Henker von Paris.«
»Ich weiss, ich habe es immer gewusst.«
Charles-Henri Sanson heiratete am 20. Januar 1765 die sechs Jahre ältere Marie-Anne Jugier in der Kirche Saint-Pierre de Montmartre. Er war knapp sechsundzwanzig Jahre alt. Draussen lag dicker Pulverschnee. Charles wusste nicht, ob er nun aus Liebe oder aus Vernunft geheiratet hatte. Er liebte die Nähe zu Marie-Anne, ihre stille, sanfte Art, die stets von einer lieblichen Melancholie durchdrungen war, die Mitgefühl weckte. Er sehnte sich nach ihrer Umarmung, wobei er nicht wusste, ob er sie beschützen sollte oder ob er an ihrem Busen Frieden suchte. Sie sprach nicht sehr viel. Manchmal kam es ihm vor, als würde sie mit den Hunden, die sie im Hof hielt, mehr sprechen. Es war, als hätte sie mit diesen Jagdtieren eine stille Übereinkunft getroffen, die sie sehr glücklich machte. Ihre andere Leidenschaft galt den Kräutern und Gemüsebeeten, die sie mit Geduld und Liebe pflegte. Sie liebte auch Charles, durchaus, aber auf ihre Weise. Sie kochte, was er mochte, und wartete stets bis spätabends auf seine Rückkehr. Wenn sie ihn begehrte, verdunkelte sie das Zimmer und legte sich aufs Bett. Er tastete sich zu ihrem Körper vor und küsste sie. Sie schien es zu mögen, aber ihre Scham durfte er nicht küssen. Sie hielt dies für unrein. Überhaupt machte es den Eindruck, als schämte sie sich ihrer Nacktheit. Wenn sie ihren Höhepunkt erreichte, hörte man nur ein leises Wimmern, und ihre Fingernägel gruben sich tief in Charles’ Schultern. Einmal, als er am Morgen vor dem Wassertrog im Hof stand, fragte sie ihn erschreckt und ahnungslos, was mit seiner Schulter passiert sei, ob ein Falke ihn angegriffen habe. Zuerst hielt es Charles für einen Scherz, aber Marie-Anne hatte keinen Humor und sprach nicht gern über ihre Gefühle. Doch sie liebten sich oft. Charles lernte, dass er dabei nicht sprechen durfte. Es war beinahe ein sakraler Akt im Dunkeln.
Als sie schwanger wurde, freuten sich beide. Die Geburt aber war sehr schwierig. Es waren Zwillinge, der eine, Henri, ein grosser Brocken von beinahe fünf Kilo, der andere, Gabriel, ein schmächtiges Baby mit Untergewicht und seltsam verkrümmten Füssen. Die Hebamme meinte, das werde sich schon ergeben, aber es ergab sich nicht. Die Füsse blieben wie klumpige Sicheln, und Gabriel bewegte sich noch auf allen vieren, als Henri längst auf zwei Beinen herumwatschelte. Für Marie-Anne war es ein Schock. Sie bildete sich ein, sie habe versagt. Sie fühlte sich erniedrigt. Charles konnte das nie nachvollziehen. Er liebte seine beiden Söhne über alles. Marie-Anne aber entwickelte ein seltsam distanziertes Verhältnis zu Gabriel. Sie wollte diese Behinderung nicht akzeptieren.
»Du trägst keine Schuld«, sagte Charles immer wieder, »nicht jeder Baum wächst wie eine Kerze, das ist die Natur, Marie-Anne. Wir haben zwei Söhne. Freu dich darüber.«
Doch Marie-Anne konnte sich nicht freuen. Und insgeheim machte sie diesem unschuldigen Geschöpf mit den seltsamen Füssen Vorwürfe. Sie sprach es nicht aus. Aber es war nicht zu übersehen.
Die beiden Buben wuchsen heran, und Marie-Anne versuchte weiterhin, die perfekte Hausfrau und Ehefrau zu sein und Charles mit ihrer Küche zu verwöhnen. Doch sie mochte nicht mehr mit ihm schlafen. Am Anfang hatte sie allerlei Ausreden, bis er schliesslich begriff, dass sie nicht mehr wollte. Zu gross war ihre Angst, noch mal schwanger zu werden.
»Vielleicht ist das der Fluch«, murmelte sie eines Abends, als die Kinder im Bett waren und sie mit Charles Rotwein trank. Zuerst wusste er nicht, was sie meinte. Dann begriff er es. Offenbar liess sie dieser Gedanke nicht mehr los. »Weil du Henker bist. Das bringt kein Glück. Meine Mutter hat mich gewarnt. Sie sagte, Gott werde uns bestrafen.«
»Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob Gott alles planen kann. Man verliert doch recht schnell die Übersicht bei all den Menschen.«
»Spar dir deinen Spott!«, schrie sie und schenkte sich erneut Wein ein.
Charles nahm ihr den Krug aus der Hand. »Es ist der Wein, Marie-Anne, du solltest jetzt aufhören und ins Bett gehen.«
»Ich trinke so viel, wie ich will«, fauchte sie und riss ihm den Krug aus der Hand.
Wenn sie am Abend trank, war sie am Morgen verkatert und unausstehlich. Sie schrie herum und kümmerte sich kaum um die Kinder. Henri und Gabriel flohen meistens in die Pharmacie. Charles beendete dann seine Studien und brachte die beiden ins Wohnzimmer. Dort stand das Klavier. Er setzte sie auf die Bank und lehrte sie spielen. Henri hatte nicht so grosses Interesse, aber Gabriel war fasziniert von den Melodien, die er dem Instrument entlocken konnte. So begannen sie zu zweit am Abend zu musizieren, während Marie-Anne in der dunklen Küche sass und ihren Wein trank. Sie wollte kein Licht. Sie kultivierte ihre Melancholie wie eine Pflanze.
Charles war konsterniert. Er hatte die Einsamkeit gegen die Hölle eingetauscht. Immer öfter schlief er in der Pharmacie, denn er war es leid, in den frühen Morgenstunden in irgendwelche aggressiven Gespräche verwickelt zu werden. Jeder Versuch einer Versöhnung endete in einer Kaskade von Vorwürfen und gipfelte in der Behauptung, Charles sei daran schuld, dass Gabriel kaputte Füsse habe. Charles ertrug die Vorwürfe, das tägliche Geschrei, die Trinkerei, aber was er nicht ertrug, war, dass Gabriel und Henri die Worte ihrer Mutter durchs ganze Haus mithören konnten. Er wusste, dass Tiere manchmal ihre Jungen verstossen, dass dies auch unter den Menschen vorkam, war ihm neu. Umso intensiver kümmerte er sich um seine Söhne und begann, in der Pharmacie Schienen für Gabriels Füsse zu entwerfen. Er baute ein ledernes Gerüst, das die Füsse in die richtige Position brachte und genügend Halt gewährte. Henri war begeistert davon und half seinem Bruder auf die Beine. Stundenlang war er mit ihm im Hof und versuchte, ihm das Gehen beizubringen. Mit der Zeit wagten sie sich auf die Strasse hinaus, doch das Pflaster war derart uneben, und es fehlten so viele Steine, dass es für Gabriel fast unmöglich war, sich dort zu bewegen. Am sichersten fühlte er sich am Klavier. Und an der Hand seines Bruders.
Für Henri war die Situation keineswegs einfach. Immer wieder wollte seine Mutter ihm einreden, er sei schuld am Gebrechen seines Bruders, weil er ihm in der Gebärmutter zu viel Platz weggenommen habe. Mit der Zeit nahm er seine Mutter nicht mehr ernst, und wenn er wütend war, sagte er, dass weder Gabriel noch er jemals den Wunsch geäussert hätten, geboren zu werden. Dies reizte Marie-Anne umso mehr, und sie brüllte, sein Vater trage an allem die Schuld. Er habe sie geschwängert. Nein, vergewaltigt. Da er sie nie gefragt habe, ob sie Kinder wolle, sei dies eine Vergewaltigung gewesen. Henri ging ihr fortan aus dem Weg. Gabriel hatte diese Möglichkeit nicht. Er flüchtete in die Musik und entwickelte ein sehr feines Ohr. Hin und wieder bat er um einen Besuch von Tobias Schmidt, damit dieser das Klavier neu stimme. Marie-Anne mochte den Deutschen nicht. Sie hielt seine Arbeit für so überflüssig wie die Musik selbst. Doch Charles liess in dieser Beziehung nicht mit sich reden. Er hatte seine Forschung in der Pharmacie weitgehend aufgegeben, um sich in seiner freien Zeit um Gabriel zu kümmern. Er liess nach Tobias Schmidt rufen, sooft es Gabriel wünschte.
Eines Abends, als Schmidt wie üblich nach getaner Arbeit noch ein Glas Wein mit Charles trank, sagte er: »Monsieur de Paris, ich habe Gabriels Schienen gesehen. Das kann man besser machen. Lassen Sie es mich versuchen. Es wird Sie nichts kosten. Man muss das Leder verstärken, damit die Ferse mehr Halt hat. Mein Vater war Schuhmacher, er hat mir einiges beigebracht, aber ich hatte mehr Interesse daran, Neues zu erfinden. Doch ich kann Füsse lesen. Ich hab’s nicht verlernt. Gabriel hat einen Knick-Senkfuss, einen Hohlfuss und obendrein noch einen Spreizfuss. Wir sollten ihm spezielle Schuhe anfertigen, die den Fuss an der Innenseite anheben. Dann hätte er einen besseren Stand.«
Charles nickte.
»Ich müsste aber einen Schuhmacher beiziehen», sagte Schmidt. »Der wird etwas kosten.«
»Das spielt keine Rolle«, entgegnete Charles. Die Vorstellung, dass Gabriels Füsse in Ordnung kamen, begeisterte ihn so, dass er in dieser Nacht kaum Schlaf fand.
Nach diesem Abend zog sich Marie-Anne weitgehend zurück, und Gros übernahm wieder die Küche. Die meiste Zeit verbrachte sie bei ihrer kranken Mutter auf dem Gärtnerareal. Als sie eines Morgens zurückkam, wusste Charles, dass ihre Mutter gestorben war, obwohl Marie-Anne kein einziges Wort sagte. Sie zog sich in das Schlafzimmer zurück, schloss die Läden und verharrte in der Dunkelheit. Nur manchmal hörte er nachts ihre Schritte, wenn sie in der Küche Wein holte. Sie blieb in ihrer finsteren Welt. Charles nahm an, dass sich dies rasch geben würde. Aber es war nicht so. Es wurde schlimmer. Nach einigen Tagen verliess sie das abgedunkelte Zimmer und kümmerte sich um ihre Hunde. Sie war der Meinung, dass Charles nicht in der Lage war, ihre Hunde zu füttern. Sie sass nun meistens im Hof und sprach leise mit ihren Vierbeinern. Dann patrouillierte sie zwischen den Kräutern und Gemüsebeeten, zupfte hier ein abgestorbenes Blatt ab oder gab jener Pflanze etwas Wasser. Wenn Charles den Hof betrat, setzte sie ein grimmiges Gesicht voller Verachtung auf. Wollte einer der Hunde Charles begrüssen, zischte sie irgendeinen Befehl, um ihn zurückzuhalten. Dann lächelte sie still vor sich hin, weil der Hund gehorchte und Charles nicht begrüsste. Aber die Hunde wedelten trotzdem mit dem Schwanz. Charles versuchte einige Male, mit ihr zu sprechen. Aber sie wollte nicht. Er fragte sich, ob sie vielleicht krank geworden war. Im Hirn.
Einige Monate später wurde ihr Charakter wieder aufbrausend, und sie geriet immer öfter mit Nachbarn wegen irgendwelcher Bagatellen in Streit. Dann wieder machte sie Charles Vorwürfe, dass er sie zu wenig liebe, wenn er sie aber zärtlich berühren wollte, wich sie zurück, als hätte er eine Seuche. Marie-Annes unheimliche Verwandlung machte Charles traurig. Das hatte er nicht erwartet. Er konnte es nicht fassen, dass er sein Junggesellendasein gegen so etwas eingetauscht hatte. Marie-Anne besuchte nun immer öfter ihre Schwester, obwohl sie ständig mit ihr stritt. Wegen des Erbes. Der einzige Streitpunkt, den Charles in ihrer Ehe eigentlich erwartet hatte, war kein Thema: der Henkersberuf. Sie stand voll dahinter. Die gute Bezahlung war Grund genug. Geld konnte sie nie genug kriegen. Sie hortete es. Sie genoss nichts. Nicht einmal ihre beiden Buben, die prächtig gediehen. Charles liebte die beiden über alles. Für sie war er bereit, den Beruf noch eine Weile auszuführen, um ihnen später eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Das Wohl der beiden Söhne war ihm wichtiger als die Erfüllung seiner Träume. Henri überragte schon bald seine gleichaltrigen Kameraden deutlich. Er liebte das Schwimmen in der Seine, den Ausritt und die Jagd mit Charles. Er war richtig stolz auf seinen Vater und fühlte sich immer mehr zu ihm hingezogen, denn die Kälte seiner Mutter war sehr kränkend. Nie umarmte oder küsste sie ihre Söhne, wie sie es mit ihren Hunden tat. Mit den Jahren verlor sie ihre Söhne gänzlich an Charles.
Henri interessierte sich immer mehr für den Beruf seines Vaters. Der Anblick von Blut hatte ihn nie irritiert, es war nicht furchterregender als eine Weinlache. Und wenn Barre im Hof ein erlegtes Reh ausweidete, sah er interessiert zu, während seine Schulkameraden entsetzt die Hände vors Gesicht hielten. Die Mädchen schwärmten für Henri, denn er hatte ein schönes, männliches Gesicht und sehr breite Schultern, die sich durch das tägliche Schwimmen kräftig entwickelt hatten.
Gabriel hatte keine breiten Schultern. Die Spezialschuhe, Einlagen und Beinstützen, die ihm Tobias Schmidt nach monatelangen Anpassungen angefertigt hatte, erlaubten ihm nun, sich frei zu bewegen. Aber er nutzte diese neue Freiheit kaum. Er hatte sich daran gewöhnt, zusammen mit einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft am Klavier zu sitzen und zu spielen. Seine langjährige Behinderung hatte ihn zum ängstlichen Stubenhocker gemacht. Obwohl die Behinderung teilweise behoben war, war die Ängstlichkeit geblieben. Er hatte Angst vor grossen Tieren. Er hätte nie ein Pferd an den Nüstern berührt. Er hatte auch Angst vor dem Wasser und mied Flüsse und andere Gewässer. Sicher fühlte er sich nur zu Hause am Klavier.
Als Henri zum ersten Mal sagte, er wolle später auch Henker werden, wachte Charles in den Nächten danach schweissgebadet auf. Der Gedanke an den Fluch war zurückgekehrt. Marie-Anne unterstützte Henri in seiner Absicht. Charles war sich nicht ganz sicher, ob sie das aus Überzeugung tat oder nur, um ihn zu ärgern. Denn wie ihre verstorbene Mutter hatte sich Marie-Anne neuestens angewöhnt, stets die gegenteilige Meinung zu vertreten. Sie war streitsüchtig geworden, und kein Anlass war ihr zu nichtig, um nicht tagelang zu streiten oder kein einziges Wort mehr zu sagen. Sie schien nicht darunter zu leiden. Denn sie frass keinen Ärger in sich hinein. Die einst so melancholische Frau brüllte mittlerweile wie ein Bürstenbinder, wenn ihr etwas missfiel, zerschlug Geschirr oder schmiss das Essen in den Hof, wenn es ihr nicht passte. Mit Marie-Anne hatten sie einen Vulkan in den eigenen vier Wänden. Sie hätte nie behauptet, dass sie es schlecht habe. Nein, sie hatte keine finanziellen Sorgen, musste nie Hunger leiden, hatte vier Hunde, die sie über alles liebte. Was konnte man im hungernden Paris dieser Tage mehr wollen?
Marie-Anne brauchte keine Menschen. Wenn die Familie zusammen mit den Gehilfen die Mahlzeiten in der grossen Wohnküche einnahmen, sprach sie kaum ein Wort. Manchmal, wenn sie Charles mit stechendem Blick fixierte, hatte er den Eindruck, in die Augen von Grossmutter Dubut zu blicken. Ihn schauderte, aber je mehr sich Charles zurückzog, desto herrischer übernahm Marie-Anne das freigewordene Feld und übte eine Tyrannei aus, die der von Grossmutter Dubut in nichts nachstand. Charles tröstete sich damit, dass eines Tages sein Sohn Henri das Zepter übernehmen würde.
Charles widmete sich wieder vermehrt seiner Pharmacie und seinen Patienten. Seine Gehilfen übernahmen immer mehr Arbeiten im Haus. Das missfiel Marie-Anne. Sie begann wieder zu sprechen. Über Geld. Charles nutzte die Gelegenheit, um die Stimmung zu verbessern und die Beziehung zu normalisieren. Es schien fast so, als habe Marie-Anne die Zeit der Isolation gebraucht, um wieder zu sich zu finden. Die Zeit hatte ihr offensichtlich auch geholfen, zu akzeptieren, dass Gabriels Füsse so waren, wie sie nun mal waren. Sie begann wieder zu kochen und freute sich, wenn Charles, Henri, Gabriel und die Gehilfen das Essen lobten. Wenn Charles jedoch spätabends nach der Arbeit nach Hause kam, ihre Taille umfasste und sie küssen wollte, drehte sie den Kopf zur Seite. Sie sperrte sich gegen jegliche körperliche Nähe. Charles war gekränkt. Er verstand nicht, was mit Marie-Anne geschehen war. Irgendwelche Dämonen hatten sich in ihrer Seele eingenistet, und man wusste nie, welchem Dämon man am nächsten Morgen begegnen würde. Irgendwann beschloss Charles, es zu akzeptieren und in seine eigene Welt zurückzukehren.
Eines Abends fand er sein Kissen und eine Bettdecke auf der Couch in der Pharmacie. Von nun an schliefen sie in getrennten Zimmern. Die Entfremdung schritt voran. Charles vertiefte sich in seine Studien, während Marie-Anne ihren Ordnungssinn perfektionierte und in Rage geriet, wenn jemand diese Ordnung auch nur in Ansätzen durcheinanderbrachte. Da Charles gutmütig war und nicht gern stritt, nickte er alles ab. Seine Gutmütigkeit wurde zu ihrer Stärke. Keiner konnte ihr mehr widersprechen. Sie hatte die Meinungshoheit an sich gerissen.
Charles sah allerdings keinen triftigen Grund, sie zu verlassen, denn er begehrte keine andere Frau, und das Leben in seiner Pharmacie war angenehm, da Marie-Anne diese nie betrat. Sie mied eisern alle Orte, an denen er sich aufhielt. Wollte sie ihm etwas mitteilen, bat sie Desmorets, das Gewünschte auszurichten. Einmal, es war an einem Ostermontag, hatte sie nach zwei Gläsern Rotwein einen Anflug von Sentimentalität und berührte mit dem Zeigefinger Charles’ Schulter. Das war das Maximum an Leidenschaft und Zuneigung, das sie aufbrachte.
Es gab Tage, an denen Charles die Situation zu schaffen machte. Nach schwierigen Exekutionen war es nicht einfach, nach Hause zurückzukehren und diese Kälte zu spüren. In diesen deprimierenden Augenblicken sehnte sich Charles nach seinem Vater. Doch er war bereits ein paar Jahre zuvor gestorben, und so suchte er ihn an seiner letzten Ruhestätte auf, in der Kirche Saint-Laurent. Hinter der letzten Stuhlreihe war die Gruft. Auf den Steinplatten stand nichts geschrieben. Charles wusste aber, dass die Überreste seines Vaters unter einer dieser Platten lagen. Hier konnte er sich Klarheit über seine Gedanken verschaffen. Jeder Mensch braucht einen Freund, der ihm hilft, die Mitte zu wahren, dachte er. Es kann ein stummer Freund sein. Sogar ein toter Freund. Er muss nichts entgegnen, einfach da sein, so dass man in Gedanken zu ihm sprechen und seine Ratschläge anhören kann, auch wenn diese von einem selbst erfunden werden. Aber man muss sein Leid in Worte fassen können, und man kann es deshalb dem Fluss klagen, einem Pferd, einem hölzernen Kreuz, einem Tagebuch oder einem Blumenkohl. Nur wenn man sein Leid in Worte fassen kann, erhält es eine Form, die man wie ein Stück Tonerde bearbeiten kann. Denn in jedem Leid steckt auch die Lösung. Daran glaubte Charles.
Ein Obdachloser döste auf einer der Steinplatten. Er schreckte hoch, als er Charles sah.
»Weisst du, wer unter dir begraben liegt?«, fragte ihn Charles.
»Ein frommer Mann, Monsieur, der nie an mir vorbeiging, ohne mir ein Almosen zu geben.«
»Wie viel gab er dir denn?«
»Ein Livre«, sagte der Mann.
»Dann will ich dies auch tun«, sagte Charles und reichte ihm ein paar Münzen. »Mein Vater hätte es so gewollt.«
Jetzt realisierte der Alte, dass der Sohn des wohltätigen Henkers Jean-Baptiste vor ihm stand. »Monsieur«, klagte er, »die Menschen sterben vor Hunger, und niemand kümmert sich um sie. Ist denn Gott nur der Gott des Königs und der Adligen?«
»Ich weiss es nicht«, sagte Charles, »vielleicht ist Gott kurz mal weggegangen, irgendwohin.«
Charles verkaufte das Haus an der Rue d’Enfer. Er war jetzt Ende vierzig und wollte sich neu einrichten, einen Hausteil für sich allein haben. Ein weiterer Grund: Er verdiente am Verkauf des Hauses und konnte so Geld für Gabriel auf die Seite legen. Sie zogen in die Rue Neuve Saint-Jean. Das neue Haus war nicht so gross wie das alte, es hatte aber auch einen Hof, einem römischen Atrium ähnlich, über den man rechts in die grosse Wohnküche und in die Wohnstube gelangte. Links gab es einen separaten Eingang zum Empfangszimmer, wo Charles seine Patienten betreute. Hinter dem Empfangszimmer lag die Pharmacie, dahinter das Laboratorium, das kaum jemand betreten durfte. Dem Hofeingang gegenüber lagen Waschkeller, Gesindestube, Ställe, Schuppen und Holzkammern. In der oberen Etage waren sowohl zur linken als auch zur rechten Seite Schlafgemächer für Charles, Henri und Gabriel sowie für die Gehilfen. Marie-Anne hatte ihr eigenes Zimmer.
Charles war sehr zufrieden über seinen Entscheid und fühlte sich wohl am neuen Ort. Doch die Verhältnisse in Paris waren deprimierend. Die letzten Winter waren sehr hart gewesen, die Ernte weitgehend verfault, das Brot teuer und knapp. Sehr knapp. Paris hatte Hunger und kochte vor Wut. König Louis XVI und seine verschwenderische Gemahlin, die verhasste Österreicherin Marie Antoinette, der Adel, der Klerus: niemand nahm diese Wut zur Kenntnis. Bis zu dem Tage, an dem Jean-Louis Louchart qualvoll sterben sollte.