Gegen Mitternacht – man schrieb das Jahr 1737 – fegte ein gewaltiger Sturm über die Normandie. Es regnete in Strömen. Krachend schlug der Blitz in einen bewaldeten Hügel ein und erhellte für einen Sekundenbruchteil den Reiter, der durch die Nacht preschte. Er schlug seinen Rappen wie von Sinnen, als wollte er dem sintflutartigen Regen entkommen, der sich über die Landschaft ergoss. Nun spaltete ein Blitz nach dem andern den Nachthimmel und entlud sich krachend über den Hügeln. Bäume knickten ein wie Streichhölzer. Der schwarze Hengst heulte kurz auf, als sie ein kleines Gehöft passierten. Der verwitterte Anstrich schien blutrot. Der Reiter gab dem geschundenen Tier erneut die Sporen. Es riss unwillig den Kopf hoch. Weisser Schaum spritzte durch die Nacht und wurde sogleich weggewaschen. Der Reiter preschte weiter auf der überfluteten Landstrasse nach Neufchâtel im Pays de Bray, während der Regen tosend auf ihn niederprasselte. Plötzlich sah er ein gelblich flackerndes Licht zwischen den Bäumen, die Umrisse eines Gasthofes. Im gleichen Augenblick knickte sein Pferd mit den Vorderbeinen ein, und er flog in weitem Bogen über den Kopf des Tieres hinweg. Sein Körper klatschte in eine Pfütze und schlitterte noch einige Meter weiter, bis er schliesslich mit dem Kopf gegen einen vom Sturm abgeknickten Baumstamm krachte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er bemerkte, dass er den Sturz unverletzt überlebt hatte. Dann kamen die Schmerzen. Sein Rappe lag erschöpft und wimmernd am Wegrand und versuchte vergeblich, sich zu erheben. Hilflos ruderte das Tier mit den Beinen und warf dabei den Kopf wiehernd in die Höhe. Ein letztes Mal. Dann klatschte er in den Schlamm und regte sich nicht mehr. Es war stockfinster.
Der Reiter erhob sich langsam und verharrte eine Weile in gebückter Haltung. Keuchend schaute er zu seinem Pferd. Dann bemerkte er die Satteltasche: Sie hatte sich offensichtlich vom Ledergurt losgerissen und lag ihm zu Füssen. Er öffnete sie und entnahm ihr eine schwere doppelläufige Pistole mit Radschloss. Er hatte sie beim Pharospiel gewonnen. Plötzlich glitt er aus und rutschte erneut über den schlammigen Erdboden. Auf den Knien suchte er nach seiner Waffe, die ihm aus der Hand geflogen war. Er fand sie. Erleichtert näherte er sich auf den Knien dem Rappen. Fast zärtlich fuhr er ihm über die Nüstern. Er setzte die Pistole an die Schläfe des Pferdes und drückte ab. Man hörte kein Aufschlagen des Hahns. Das Zündpulver war nass. Erneut zerriss ein kräftiger Donner die Stille der Nacht. Krachend schlugen weitere Blitze in der Nähe ein. Der Reiter erhob sich. Kübelweise ergoss sich der Regen über seine durchnässte Uniform. Doch er war nicht den langen Weg geritten, um hier aufzugeben.
Er stampfte über den aufgeweichten Lehmboden und näherte sich Schritt für Schritt dem gelblichen Licht. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Hatte Gott seine Gebete erhört? Er stiess die Tür des Gasthofes auf. Im Innern sassen einige düstere Gesellen an einem langen Tisch. Die anderen Tische waren leer. Bis auf einen: An einem kleinen, runden Tisch in der Ecke sass ein Hüne von Mann allein vor einem hölzernen Becher.
Der Reiter schloss die Tür hinter sich. Nun waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Denn auch er war von ungewohnt hohem Wuchs. Er hatte eine aufrechte, stolze Körperhaltung und halblanges braunes Haar. Jetzt bemerkte er den Wirt hinter dem Tresen. Dieser sah ihn nicht gerade freundlich an. Die Gesellen am langen Tisch musterten die Hose des späten Gastes. Sie war vom Schlamm verschmutzt. Dennoch konnte man die Farben des Regiments des Marquis de La Boissière erkennen, die sich vom Gurt bis hinunter zu den schlammverspritzten Stiefeln abzeichneten. Es war eine Offiziershose.
»Wo sind wir hier?«, fragte der Reiter.
Niemand gab ihm eine Antwort.
Er wandte sich an den Wirt: »Gib mir was zu trinken.«
»Das haben wir nicht«, sagte der Wirt nach einer Weile.
»Wein. Rotwein.«
Der Wirt nahm eine Flasche und füllte einen Becher voll. Der Reiter kramte eine Münze aus seiner Tasche und legte sie auf den Tresen. Der Wirt musterte das Geldstück. Es war ihm unbekannt.
»Sie wurde in Nouvelle-France geprägt«, sagte der Offizier, und als wollte er sich endlich die gebührende Autorität verschaffen, fügte er hinzu: »Ich bin Leutnant Chevalier de Longval, Jean-Baptiste Sanson de Longval.«
Der Wirt senkte verunsichert den Kopf. Respektvoll wich er einen Schritt zurück. Langsam schob er den Becher über den Tresen und fragte: »Hast du in Indien gekämpft?«
»Wir nennen es Amerika, aber die Eingeborenen, die nennen wir Indianer. Ich weiss nicht, was richtig ist. Hauptsache, wir verstehen uns.«
Der Wirt nickte und sagte nach einer Weile: »Wir mögen hier keine Fremden.«
»Ich war nie wirklich weg. Ein Jahr vielleicht.«
Der Wirt schüttelte den Kopf. »Ich habe schon einige gesehen, die drüben waren. Das sind nicht mehr die gleichen Leute, wenn sie zurückkommen. Die reden dann dummes Zeug. Denn drüben, da gibt es keine Könige. Da ist jeder sein eigener König. Das habe ich mal gehört.«
»Ja«, murmelte Leutnant Sanson, »es gibt sogar welche, die sich von Frankreich abspalten wollen. Dafür ziehen sie in den Krieg und sterben. Sie wollen Freiheit.«
Der Wirt musterte ihn skeptisch und wandte sich dann von ihm ab. Er brachte den Gästen am langen Tisch einen neuen Krug Wein.
»Wo ist der Rest deiner Armee?«, stichelte einer der Gesellen und zeigte seine schwarzen Zahnstummel. Nun lachten die Saufkumpane. Es war ein raues, respektloses Lachen. Wie eine verschworene feindliche Truppe sassen sie an ihrem Tisch und lauerten auf seine Antwort.
»Desertiert«, fragte einer, »oder bringst du uns den Krieg?«
Der Leutnant trank seinen Becher in einem Zug leer und trat an den langen Tisch. »Messieurs, mein Regiment ist in der Nähe von Dieppe stationiert. Es ist das Regiment des Marquis de La Boissière. Ich bin im Auftrag meines Kommandanten unterwegs. Ich habe eine dringende Depesche für Paris.« Er nahm Haltung an und legte seine rechte Hand auf den eisernen Korb seines langen Degens. »Ich brauche ein frisches Pferd.« Er schaute den Wirt fordernd an.
»Siehst du hier irgendwelche Pferde?«
»Er hat nur uns«, grölte einer der Gesellen. Die anderen kicherten besoffen vor sich hin.
»Wie bist du denn hergekommen?«, fragte der Wirt.
»Mein Pferd liegt draussen im Schlamm. Es hat sich das Bein gebrochen.« Er wurde allmählich ungeduldig. »Ich wollte ihm den Gnadenschuss geben, aber das Zündpulver ist nass.«
Nun schauten alle zu jenem Gast hinüber, der einsam am kleinen, runden Tisch in der Ecke sass. Doch dieser blickte nicht auf. Er starrte in seinen Becher. Sein Haupt war kahl.
»Frag ihn«, sagte der Wirt unwirsch, »vielleicht hat er ein Pferd für dich. Bei uns kannst du eh nicht bleiben. Wir haben keine Gästezimmer.«
»Ich brauche auch eine Waffe, mein Pferd muss erlöst werden.«
»Sehe ich aus wie ein Waffenhändler?«, brummte der Wirt. »Frag ihn. Er kennt sich aus mit Tieren. Er weiss, wie man ein sterbendes Pferd erlöst.«
Die Männer am langen Tisch lachten erneut.
»Fünf Sou«, brummte der Hüne in der Ecke.
Leutnant Sanson kramte einige Münzen aus der Tasche und legte sie auf den Tresen.
»Gib es ihm selber«, sagte der Wirt mit einem seltsam verächtlichen Unterton.
»Nein«, erwiderte der Hüne, »lass es auf dem Tresen. Er soll mir dafür nochmals Wein bringen.«
Der Leutnant schob einen leeren Becher über den Tresen. »Gib ihm Wein.«
Der Wirt nahm den Becher und stellte ihn wieder auf den Kopf. »Er trinkt aus seinem eigenen Becher.«
Der Leutnant blickte hinüber zu den Gesellen am langen Tisch. Sie schwiegen. Stumm starrten sie ihn an. Er nahm die Weinkaraffe und ging langsam zu dem Mann in der Ecke. Er blieb vor seinem Tisch stehen und schenkte ihm Wein nach.
»Wo liegt das Tier?«, fragte dieser mit leiser, rauer Stimme.
»Gehen Sie in Richtung Wald, dann werden Sie es sehen.«
Der Mann nickte. »Ich kümmere mich um dein Pferd. Aber der Kadaver gehört mir. Lauf den Weg zurück. Du hast das kleine Gehöft gesehen? Es ist rot gestrichen. Dahinter findest du eine Kapelle. Dort findest du mich. Du kannst in meiner Scheune übernachten, Chevalier.«
Der Leutnant schaute den Mann irritiert an.
»Geh schon voraus, ich werde den Wein trinken und mich nachher um dein Pferd kümmern.«
»Können Sie es nicht sofort erledigen?«
Der Mann schaute nun zu ihm hoch. Sein Blick war stechend, seine Augen erloschen. Er hatte ein Gesicht wie ein Amboss, hart, kantig, unnachgiebig, als könnte man reinschlagen, ohne dass sich das Geringste in diesem Gesicht bewegte. Der Leutnant ging mit der Weinkaraffe wieder zum Tresen zurück und sagte zum Wirt: »Ich will mich waschen.« Er zeigte seine schmutzigen Hände. Erst jetzt sah er das Blut an der linken Hand.
»Hinten im Hof findest du einen Trog.« Der Wirt wies mit dem Kopf zur Tür hinter dem Tresen. Draussen lagen Bretter auf dem matschigen Boden. Der Leutnant wusch sich Hände und Gesicht und reinigte notdürftig seine Uniform. Er wusste nicht, woher das Blut kam.
Als er in den Gasthof zurückkehrte, war der Hüne nicht mehr da.
»Dann werde ich jetzt gehen und in diesem roten Gehöft übernachten.«
Die Männer am langen Tisch lachten. Einer posaunte: »Wir nennen es das verwunschene Gehöft.« Alle prusteten.
»Na ja«, brummte der Wirt, »da ist halt keiner gerne zu Gast.« Erneutes Gelächter. Einer ergänzte: »Es ist sehr, sehr ruhig dort, besonders in der Scheune.« Nun grölten die Gesellen und donnerten mit den Fäusten auf die Tischplatte. Der Wirt verzog keine Miene.
Jean-Baptiste Sanson trat ins Freie hinaus und zog den Kragen seines Mantels hoch. Entschlossen marschierte er in der Dunkelheit zurück. Es schüttete noch immer. Unterwegs sah er sein Pferd. Es war tot. Es lag in einer Blutlache, die sich stets erneuerte und immerzu vom Regen aufgelöst wurde. Jetzt kam ihm die Satteltasche in den Sinn. Er suchte eine Weile, doch in der Dunkelheit konnte er sie nicht finden.
Nach einer Viertelstunde erreichte er das verwunschene Gehöft. Er sah, dass im Innern ein Licht flackerte. Das Haus war tatsächlich rot gestrichen. Es glänzte wie frisches Blut im Regen. Er ging daran vorbei und fand hinter einer Scheune eine kleine Kapelle. Der Eingang war von einer Laterne erleuchtet. Sie schepperte im Wind. Er stieg die kleine Steintreppe hinunter. Vorsichtig setzte er einen Fuss nach dem anderen auf die schlüpfrigen Stufen. Er blieb eine Weile im Eingang stehen und schaute zum kleinen Marienaltar, auf dem Kerzen flackerten. Er spürte, dass er nicht allein war. Dann sah er den Schatten. Langsam schritt er über die knarrenden Holzdielen und kniete neben dem Mann nieder, den er zuvor im Wirtshaus angesprochen hatte. Er stützte die Ellbogen auf der Gebetsbank ab und faltete die Hände. Er versuchte zu beten. Aber kein Gebet wollte ihm einfallen. Die Jahre hatten ihn ermüdet. Vielleicht hatten seine Gebete auch Gott ermüdet. Der Hüne drehte sich nach ihm um und schaute ihn an. Das Gebet in der Kapelle schien ihn verändert zu haben. Er wirkte nun sanft und ruhig. Vielleicht war es auch der Wein. Beten oder saufen, beides hat fast die gleiche Wirkung, dachte Sanson.
»Haben Sie meine Satteltasche gefunden?«, fragte er und fixierte den Mann mit stechendem Blick, als wollte er ihm drohen, ihn ja nicht anzulügen.
»Chevalier, deine Satteltasche liegt drüben in der Scheune. Ich habe sie geöffnet. Schliesslich will ich wissen, wer in meiner Scheune übernachtet. Aber in der Satteltasche war keine Depesche für Paris. Ich fürchte, du reitest in eigener Sache. Ich sehe die Not, die dich zerreisst, in deinen Augen. Das Unglück ist dir auf den Fersen. Vielleicht ist es ein Fluch. Manche Menschen sind verflucht. Sie verbringen ihr Leben damit, diesem Fluch zu entkommen. Aber der Fluch folgt ihnen wie ein Schatten. Sie verlieren den Segen Gottes. Gott verfluchte die Schlange, die Eva verführte, er verfluchte Kain, der seinen Bruder ermordete, und er verfluchte die Erde und die Menschen.«
»Hören Sie auf mit dem Unsinn, ich glaube nicht an Flüche!«
»Wieso reitest du dann wie ein Verrückter durch die Nacht? Bei diesem Unwetter. Wenn du an Gott glaubst, glaubst du auch an den Teufel, und wenn du an Gott und den Teufel glaubst, glaubst du auch an Flüche. Wovor fliehst du?«
Jean-Baptiste Sanson schwieg.
»Manch einer erkennt sein Schicksal, aber er kann ihm dennoch nicht entrinnen. Das ist der Fluch.«
Jean-Baptiste fasste sich an die rechte Seite. Als er die Hand vor die Augen führte, sah er, dass sie voller Blut war.
»Komm in die Scheune«, sagte der Hüne, »wir müssen die Wunde säubern. Sonst wirst du Paris nie sehen.«
Er beleuchtete den Weg mit einer Laterne. Die Pferde in den Boxen wurden unruhig. Einige erhoben sich und hielten den Kopf in die Höhe. Sie rochen den fremden Duft und das Blut. Hinter der letzten Box legte der Hüne frisches Stroh aus. Er warf eine braune Pferdedecke darüber und forderte Jean-Baptiste auf, seinen Oberkörper frei zu machen. »Ich hole sauberes Wasser«, sagte er und stellte die Laterne auf den Boden.
Jean-Baptiste legte sich hin und wartete. Nur das Scharren der Hufe war zu hören. Nach einer Weile kam der Mann zurück. Er hatte frische Tücher bei sich. Ihm folgte eine junge Magd mit einem Mörser in der Hand. Sie kniete nieder und zerstampfte einige Kräuter. »Das ist Symphyti radix«, erklärte der Mann, »es lindert Entzündungen und verhindert die Eiterbildung.«
»Sind Sie Arzt?«, fragte Jean-Baptiste.
Der Hüne schwieg und schien sich auf die Säuberung der Wunde zu konzentrieren.
»Ja, er ist Arzt«, sagte die junge Frau nach einer Weile, »er ist ein guter Arzt.« Sie legte erneut Kräuter in den Mörser und zerstampfte sie mit geübter Hand. Dann mischte sie die Paste mit Wasser und gab die Mixtur Jean-Baptiste zu trinken. Es schmeckte fürchterlich, aber er liess es geschehen.
»Dieses Kraut wird dir helfen«, flüsterte der Hüne, »Rauwolfia serpentina nimmt dir die Furcht. Sie beruhigt deinen Körper und deine Sinne. Du wirst keinen Schmerz mehr verspüren und schlafen.«
»Ich habe keine Furcht, ich habe in der Neuen Welt gekämpft. Ich habe viel gesehen.«
Der Hüne schien nicht beeindruckt. »Wenn du morgen aufwachst und dich in der Scheune umsiehst, wirst du vielleicht Furcht empfinden. Noch hast du nicht alles gesehen, was das Schicksal dir bescheren wird.«
Jean-Baptiste wollte sich aufbäumen, aufstehen, vielleicht sollte er besser diesen Ort verlassen, dachte er, doch die Kraft war aus seinem Körper gewichen, und er blieb regungslos liegen. Seine Gedanken verloren sich in einem finsteren Gefühl. Er spürte noch die aufkommende Angst, dann schlief er ein.
Draussen wurde es allmählich Tag. Ein neuer Tag. Die ersten Sonnenstrahlen schienen durch die grosse Öffnung im Dachboden. Jean-Baptiste Sanson war aufgewacht. Er erhob sich langsam und musterte seine Umgebung. Er hatte neben der letzten Pferdebox geschlafen. Es gab insgesamt vier Boxen. Darin standen Pferde und warteten ungeduldig, dass man sie auf die Weide liess. Neugierig und ungeduldig stiessen sie ihre Köpfe gegen die Boxentüren. Er musterte sie, er mochte Pferde. Aber als Kavalleriepferde hätten sie kaum getaugt. Sie waren ausgemustert und dienten wohl nur noch zum Ziehen des Fuhrwerks, das im Hof stand. Er schaute sich in der Scheune um. Sie war sehr geräumig. An einer Holzwand hing Pferdegeschirr. An Haken waren eiserne Gegenstände aufgehängt: Feuerzangen, Fuss- und Handfesseln, Brechstangen, am Boden Weidenkörbe voller Lederriemen, ein Rost, mittelgrosse Holzfässer, in denen Fette, Salben, Puder, Kohle, Schmiere, Seife, Kleie, Sand und Sägespäne aufbewahrt wurden, und ein riesengrosses Rad. In der Ecke stand ein Tisch, unter dessen Decke etwas lag. Er zog an einem Zipfel der Decke. Bläulich gefärbte Finger kamen zum Vorschein. Er riss das Tuch weg und sah einen Arm, Unter- und Oberarm bis zum Schultergelenk. Der Ellbogen war gehäutet worden, so dass man die freigelegten Knochen, Sehnen und Gelenke sehen konnte.
Er wurde von einer entsetzlichen Angst gepackt. Erneut dachte er an den Fluch. Er musste diesen Schuppen verlassen. Mochte sein, dass sein Leben verflucht war, aber dieser Ort war es ganz bestimmt ebenso. Kaum hatte er sich entschlossen zu fliehen, geriet er in Panik und fürchtete, in letzter Minute aufgehalten zu werden. Eilig schritt er zum Scheunentor. Draussen auf dem Hof erschallte Hufgetrampel. Es mussten mindestens ein halbes Dutzend Reiter sein. Als er einen Torflügel einen Spaltbreit öffnete, sah er, dass die Reiter leichtbewaffnete Dragoner waren. Sie trugen Musketen und weisse Uniformröcke. An den Farben der Kragen, Ärmelaufschläge und Rabatten erkannte man ihre Zugehörigkeit zum Regiment des Marquis de La Boissière. Die Tür des gegenüberliegenden Wohnhauses öffnete sich, und der Hüne trat in den Hof hinaus.
»Braucht ihr Wasser für eure Pferde?«
»Wir suchen einen Deserteur. Hast du einen gesehen, der sich rumtreibt?«
»Niemand verirrt sich hierher. Und freiwillig sucht niemand dieses Gehöft auf.«
Der Anführer riss die Zügel herum. Er hatte es eilig. Dann drehte er sich noch mal um. »Wir reiten weiter nach Paris. Auf dem Rückweg werden wir dich nochmals besuchen. Sei also wachsam.«
Der Dragoner gab seinem Pferd die Sporen. Er preschte über den Hof. Die anderen folgten ihm. Sie ritten Richtung Wald.
Jean-Baptiste hatte den Atem angehalten. Als die Dragoner weg waren, öffnete er das Scheunentor ganz. Doch der Hüne versperrte ihm den Weg. Sein mächtiger Oberkörper verdeckte die Sonne und verfinsterte das Innere der Scheune. »Tu es nicht«, sagte er, »nur hier bist du sicher. Du solltest den Winter über hierbleiben. Du kannst mir helfen, das Dach zu erneuern.«
Jean-Baptiste wühlte im Stroh. »Wer sind Sie?«
»Suchst du deine Satteltasche?«, fragte der Hüne und trat ins Stroh. Er schob die Tasche mit dem Fuss zu Jean-Baptiste, der sie sofort öffnete. Sie war leer. Wütend starrte er den Hünen an. »Die Tasche ist leer.«
»Und wo ist mein Offizierspatent?«
Der Hüne nahm ein Dokument aus seiner Brusttasche und zerriss es. Er hatte grosse, kräftige Hände.
Dieser Mann verdient sein Geld nicht an einem Schreibtisch, dachte Sanson.
»Das war dein Offizierspatent, Chevalier. Du wirst es nicht mehr brauchen. Du bist ein Deserteur. Du wirst nirgends Arbeit finden, keine warme Suppe, kein Dach über dem Kopf. Du hilfst mir, und ich helfe dir. Bald fällt der erste Schnee, dann wird das Stroh in der Scheune nass und faulig. Ich werde dir helfen, aber du musst schwören, dass du bis zum Frühling hierbleibst.«
»Ich schwöre Ihnen …«
»Mir musst du nichts schwören, Chevalier. Schwöre vor Gott. Ich würde dich töten, wenn du deinen Schwur brichst, aber Gott würde dich bestrafen. Und Gottes Strafe ist übler als der Tod.«
»Ich schwöre vor Gott. Ich werde alles tun, was Sie verlangen, wenn ich mich hier verstecken kann, bis mein Regiment abgezogen ist.«
»Das sagt sich so leicht, aber würdest du auch einen Pakt mit dem Teufel schliessen?«
»Ja«, sagte Jean-Baptiste mit schwerer Zunge, »aber Sie sind nicht der Teufel. Sie können Schmerzen lindern.«
Der Hüne neigte nachdenklich den Kopf und musterte ihn eindringlich. Nach einer Weile sagte er: »Ich kann Schmerzen lindern, weil ich auch Schmerzen zufügen kann. Ich bin wie das Feuer. Es kann eine Wunde heilen, aber es kann auch eine Wunde zufügen, Schmerz verursachen. Wenn du in meine Welt eintrittst, betrittst du die Welt des Schmerzes.«
Jean-Baptiste starrte auf den abgetrennten Arm. Der Hüne nahm es mit einem Lächeln zur Kenntnis und ging zum Tisch hinüber. Der junge Mann folgte ihm. »Ich werde dir helfen, das Dach zu erneuern, bevor der erste Schnee fällt.«
»Du wirst an meinem Tisch essen und unter meinem Dach schlafen. Dafür sollst du mir als Geselle dienen. Bis die ersten Bäume Blüten tragen. Falls dein Regiment dann noch in der Gegend ist, kannst du auch länger bleiben. Ich brauche dringend einen Gesellen.«
»Ist es denn so schwierig, einen Gesellen zu finden? Die Menschen leiden Not und Hunger. Jeder Mensch wünscht sich nur eins in diesen düsteren Tagen: Arbeit.«
»Aber nicht diese Art von Arbeit«, antwortete der Mann, »wir werden nicht nur das Dach erneuern.«
»Welcher Art ist denn Ihre Arbeit?«, fragte Jean-Baptiste. Das Misstrauen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ich bin Beamter der Justiz. Und du bist jetzt mein Geselle, Chevalier. Ich bin geächtet. Dich werden sie auch ächten.«
Jean-Baptiste wurde kreidebleich. Allmählich schöpfte er einen unheimlichen Verdacht. »Wieso wird ein Beamter der Justiz geächtet?«
Der Hüne griff im Dunkeln nach einem Gegenstand, der an der Wand hing. Als er ins Licht trat, sah Jean-Baptiste, dass es ein Zweihänder war. Der Hüne stach die Schwertspitze in den hölzernen Boden und stützte sich mit beiden Händen auf dem Griff ab.
»Ich bin Meister Pierre Jouenne, Scharfrichter von Caudebec-en-Caux. Ich arbeite für die Stadt Rouen und die Vizegrafschaft Dieppe.«
»Nein!«, brüllte Jean-Baptiste verzweifelt. »Nein! Nein! Nein!«
Er stürmte an Jouenne vorbei ins Freie. Im Hof stand ein Pferd an der Tränke. Er ergriff die Zügel und schwang sich auf den Rücken. Gerade wollte er dem Pferd die Sporen geben, als ein schriller Pfiff über den Hof schallte. Das Pferd blieb sofort wie angewurzelt stehen. Jean-Baptiste stürzte über den Kopf des Pferdes nach vorn und blieb nach einem Aufschrei auf dem harten Steinpflaster liegen.
Jouenne pflanzte sich vor ihm auf. »Tu das nicht noch mal, ich würde dich bis nach Paris verfolgen und dir ungeheuerliche Schmerzen zufügen. Ich weiss, wie man peinigt, ohne zu töten. Zwing mich nicht. Nicht jetzt. Ich beginne gerade, dich zu mögen.«
Jean-Baptiste rappelte sich auf und stöhnte. Instinktiv griff er nach der Stelle, die Jouenne am Abend zuvor gesäubert hatte. Sie blutete erneut. »Ich bin nicht in die Neue Welt geflohen, um dann doch noch Henker zu werden«, keuchte er. »Ich bin zur Armee gegangen, um dem Fluch, der auf meiner Familie lastet, zu entkommen. Mein Vater, mein Grossvater, alle meine Vorfahren waren Henker. Sie stammen aus Abbeville in der Picardie.«
»Du solltest stolz sein, in eine solche Familie geboren worden zu sein.«
»Das ist nicht meine Welt!«
»Es gibt nur eine Welt, und jeder hat den Platz einzunehmen, den ihm Gott zugewiesen hat. Es gibt keine andere Welt. Du musst erfüllen, was vorbestimmt worden ist.«
»Es gab einen Vorfahren, der war Kartograph …«
»Nicolas Sanson«, sagte Jouenne.
Jean-Baptiste war erstaunt.
»Dachtest du etwa, ich sei dumm und ungebildet, nur weil ich Scharfrichter bin?«
»Nein, Meister Jouenne«, log Jean-Baptiste.
»Hör mir jetzt gut zu, Chevalier, du meinst, auf deinem Geschlecht lastet ein Fluch. Du wolltest ihm entkommen. Du hast deine Familie verlassen, du hast dich bei der Armee verpflichtet, du bist in die Neue Welt gefahren und hast dort gekämpft. Du hast überlebt und bist zurückgekehrt. Du bist desertiert. Du wolltest dem Fluch deiner Familie entkommen, und jetzt bist du mein Geselle. Erkennst du den Fluch? Er folgt dir wie dein eigener Schatten. Du kannst dein Schicksal erkennen, aber du kannst ihm nicht entrinnen. Die Kiefer stemmt sich gegen den Sturm und wird entwurzelt, doch die Weide biegt sich und überlebt. Nimm dieses verfluchte Leben an, und lerne zu vergessen. Der Schmerz entsteht, wenn man zurückblickt, die Angst beginnt zu keimen, wenn man an die Zukunft denkt. Versuch, nur den heutigen Tag zu sehen. Heute fehlt dir nichts. Komm, ich zeig dir etwas.«
Jouenne ging in die Scheune zurück, nahm den losen Arm vom Tisch und zeigte ihn Jean-Baptiste, der einen Schritt zurückwich.
»Schau dir das genauer an: Hier beginnt das Schultergelenk. Es besteht aus Oberarmknochenkopf und Schulterblatt. Es wird kaum durch knöcherne Strukturen blockiert, sondern vorwiegend durch Muskulatur gehalten. Ein Faszinosum. Das kannst du nur wissen, wenn du den Teil sezierst. Und helfen kannst du nur, wenn du weisst, wie das Gelenk funktioniert. Eine einfache Entzündung kann beim Anschwellen so viel Raum einnehmen, dass man das Gelenk nicht mehr bewegen kann. Also muss man die Entzündung abschwellen lassen und nicht an diesem Arm herumreissen. Jeder Henker weiss besser Bescheid über die Anatomie des menschlichen Körpers als so mancher Arzt in Versailles.«
Jean-Baptiste nickte.
»Ich kann dir vieles beibringen, Chevalier, aber du musst es wollen.«
»Ich werde Ihr Geselle sein, Meister Jouenne. Aber wenn mein Regiment im Frühjahr die Gegend verlässt, werde auch ich Sie verlassen.«
Jouenne lächelte kurz und trat dann in den Hof hinaus. Jean-Baptiste blieb in der Scheune. Er ging zu seinem Strohlager und hob die Satteltasche auf. Im Innern war eine kleine Tasche eingenäht. Er tastete sie ab. Auch sie war leer. Er rannte in den Hof hinaus und schrie Jouenne nach: »Da war noch etwas in der Tasche! Sie haben es gestohlen!«
»Nein«, sagte Jouenne, ohne sich umzudrehen, »ich habe es als Pfand behalten.«
Wütend stampfte Jean-Baptiste in die Scheune zurück, warf die Satteltasche ins Stroh und legte sich hin.
»Meister Jouenne beschäftigt sich mit anatomischen Studien«, sagte eine freundliche Frauenstimme. Jean-Baptiste drehte sich um und blinzelte. Vor ihm stand die Magd mit einem Krug Rotwein. Sie mochte knapp dreissig sein und trug schäbige Kleider. Unter dem Stoff zeichneten sich die Konturen ihrer Brüste ab. Sie hatte lange, zierliche Beine und war von hohem Wuchs. Er stand auf und näherte sich ihr. Letzte Nacht hatte er sie gar nicht richtig wahrgenommen. Sie war sehr schön.
»Am Morgen empfängt er Patienten«, sagte sie, »er betreibt eine kleine Pharmacie. Er kennt sich aus mit den Heilkräften der Natur, doch gegen Abend vollstreckt er Kriminalurteile.«
Jouenne betrat erneut die Scheune. »Ohne mich würde die Ordnung dem Chaos weichen, ohne mich würden die Throne untergehen.«
Jean-Baptiste stützte sich an einem Bierfass ab. Darin schwammen undefinierbare Dinge, die aussahen wie menschliche Finger. Sie waren mit einer Schnur befestigt.
»Es ist genau das, was du siehst«, sagte die Magd, »Finger. Finger von Gehenkten. Sie verbessern das Aroma des Biers. Alle abgeschnittenen Gliedmassen verfügen über magische Kräfte, auch Pflanzen, die unter dem Galgen wachsen, sofern sie nachts bei Vollmond gepflückt werden.«
Jean-Baptiste blickte sie entsetzt an. »Das ist doch Magie.«
»Ich heisse Joséphine. Ich bin keine Hexe«, erwiderte sie schmunzelnd, »ich bin die Magd von Meister Jouenne. Es gibt viele Dinge, die wir uns nicht erklären können. Wir glauben sie einfach. Wir glauben an ein Leben nach dem Tod, obwohl noch keiner zurückgekehrt ist, wir glauben an die Unbefleckte Empfängnis, obwohl es das in unserer Welt nicht gibt, wir glauben an die Auferstehung der Toten …«
»Und wir glauben an Verwünschungen, an den Segen Gottes, an Wunder und an Flüche«, sagte Jouenne und sah ihn streng an. »Du kannst noch einen Tag saufen, Sanson, dann erwarte ich dich draussen im Hof. Punkt zwei. Um vier Uhr haben wir auf der Place du Puits-Salé ein Urteil zu vollstrecken. Im Auftrag des Königs. Ich bin der Rächer des Volkes, und du bist ab morgen mein Geselle. Streng dich an. Die Menschen werden sehr zahlreich sein. Sie erwarten ein würdevolles Spektakel. Es gibt einen ersten, einen zweiten und einen dritten Akt. Und am Ende kommt der Hauptdarsteller ums Leben. Kein Pariser Theater kann diese Dramatik überbieten.«
Der Trommelwirbel über der Place du Puits-Salé verstummte. Dichtgedrängt standen die Menschen um das zwei Meter hohe Holzpodest, in dessen Mitte der Galgen thronte. Wie Fledermäuse hingen einige in den Bäumen oder an den Fassaden, um einen Blick auf das Geschehen zu ergattern. Majestätisch stieg Meister Jouenne die Stufen zum Schafott hinauf und schritt langsam die Bretter ab. Das war seine Bühne. Er trug ein hautenges Wams aus dunkelrotem Tuch, darüber einen ärmellosen ledernen Überrock, den er wie einen Brustpanzer über den Oberkörper gebunden hatte. Die schwarzen Reitstiefel reichten bis zu den Knien. Zudem trug er einen langen, weiten blutroten Mantel. Der Kragen war hochgeschlagen, so dass man nur einen Teil des kantigen Gesichts sehen konnte. Die Menge applaudierte. Dann setzte der Trommelwirbel wieder ein. Jouenne liess sich Zeit. Er nahm das schriftliche Urteil aus der Tasche und liess seinen Blick gebieterisch über die Köpfe der Menge schweifen. Man spürte förmlich die Spannung auf dem Platz. Die Zuschauer fürchteten ihn. Aber sie liebten das Schaudern, das dieser Zweimeterhüne bei ihnen auslöste. Als der Trommelwirbel erneut verstummte, brachte Jean-Baptiste Sanson den unglücklichen Bouvier die Treppen zum Schafott hoch. Der Verurteilte trug ein rotes, ärmelloses Hemd und hatte die Hände auf den Rücken gebunden. Der Geselle des Henkers trug eine schwarze Kapuze mit zwei Schlitzen auf Augenhöhe und einer kleinen Öffnung für Nase und Mund. Sie hatten sich zu dieser freiwilligen Maskerade entschlossen, weil es die Darbietung aufwertete, aber auch damit Jean-Baptiste unerkannt blieb. Natürlich war es unwahrscheinlich, dass ihn einer der Gaffer erkennen würde, aber wenn ein Fluch auf ihm laste, sei alles möglich, hatte Jouenne gesagt und gedankenverloren den düsteren Wolken nachgeschaut, die langsam über das verwunschene Gehöft hinweggezogen waren.
Mit einer unheimlichen Donnerstimme verlas nun Jouenne das Urteil. Bouvier sollte gebrandmarkt und anschliessend gehängt werden. Er hatte Brot gestohlen und dann den wütenden Bäcker erschlagen, der ihm durch das ganze Städtchen gefolgt war. Erneut wurde die Trommel geschlagen. Auf dieses Zeichen hin zerrte Jean-Baptiste den Verurteilten zum Pflock in der Mitte der Holzbühne. Er drückte Bouvier nieder, zwang ihn in die Knie und zerriss das rote Hemd. Das Markeisen glühte bereits im Kohlenbecken. Meister Jouenne ergriff das Eisen und drehte es mehrmals in der Glut. Dann drückte er es auf die rechte Schulter des Verurteilten. Zischend verbrannte die Haut. Der Gestank wehte über die Place du Puits-Salé, während Bouvier einen markerschütternden Schrei ausstiess und von Jean-Baptiste kaum noch zu bändigen war. Meister Jouenne schritt mit erhobenem Kopf das Schafott ab. Die Menge applaudierte. Jean-Baptiste packte Bouvier von hinten an den Oberarmen und stellte ihn auf die Beine. Es wurde plötzlich sehr still auf dem Platz. Dann legte er Bouvier die Schlinge um den Hals und zog sie fest. Bouvier stand beinahe apathisch auf der geschlossenen Falltür und schloss die Augen. Als Jouenne ihn laut fragte, ob er noch etwas zu sagen habe, schüttelte Bouvier energisch den Kopf. Er wollte es rasch hinter sich bringen. Jean-Baptiste vergewisserte sich, dass er nicht auch auf der Falltür stand. Als Jouenne ihm zunickte, ruhig, unaufgeregt, ohne emotionale Teilnahme an Bouviers Schicksal, löste Jean-Baptiste den Mechanismus aus. Die Falltür öffnete sich, und Bouvier sauste wie ein Sack Mehl in die Tiefe, bis das Seil den Fall ruckartig bremste. Das Gewicht des fallenden Körpers drückte auf den Adamsapfel und schnürte die Luftröhre zu. Dann brach das Genick. Bouvier strampelte noch einige Sekunden. Sein Körper erschlaffte, und er liess eine Menge Urin fliessen. Die Menge lachte und applaudierte erneut. Jouenne war sichtlich zufrieden mit der Darbietung. Seine Vorbereitung war tadellos gewesen: Er hatte die Länge des Seils mittels Körpergrösse und -gewicht berechnet. Ein kleiner Fehler hätte dazu führen können, dass Bouvier der Kopf abgerissen worden wäre. Das war in der Urteilsschrift nicht vorgesehen.
Am Rande des Platzes erschienen berittene Soldaten. Sie bahnten sich einen Weg. Es waren Dragoner, sie trugen die weissen Uniformröcke des Regiments des Marquis de La Boissière. Sie umringten das Schafott. Jean-Baptiste rührte sich nicht von der Stelle. Er stand vor der offenen Falltür. Darüber baumelte immer noch der leblose Körper des Gehängten. Jouenne ging dem Kommandanten entgegen, der gerade die Treppe heraufkam und das Schafott betrat.
»Wir haben eine Bekanntmachung zu verlesen«, sagte der Kommandant kurz angebunden und ging an Jouenne vorbei. Er entrollte ein Pergament und las der Menge die Botschaft vor. Die Dragoner suchten Deserteure. Einige waren bereits in der Neuen Welt geflohen, andere erst als sie französischen Boden erreicht hatten. Einigen wurde unterstellt, sie hätten in der Neuen Welt die Regimentskasse gestohlen und zwei Wachsoldaten getötet. »Für Hinweise, die zur Festsetzung der Gesuchten führen, hat der Marquis de La Boissière persönlich ein Kopfgeld von zwei Louisdor ausgesetzt.«
Der Kommandant rollte das Pergament wieder zusammen und warf dem vermummten Gesellen einen prüfenden Blick zu. Dann sah er Jouenne fragend an.
»Das ist mein Sohn«, sagte dieser mit fester Stimme.
Der Kommandant verliess das Schafott und schwang sich wieder auf sein Pferd. Er gab den anderen Dragonern ein Zeichen, ihm zu folgen. Langsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menge und verliessen den Platz.
Schweigend sassen Jouenne und Jean-Baptiste auf der Holzbank des Fuhrwagens. Als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, fragte Jouenne: »Hast du die Regimentskasse gestohlen?«
»Nein«, antwortete Jean-Baptiste. »Mag sein, dass das jemand getan hat am Tag, als ich heimlich die Armee verliess. Aber ich war’s nicht.«
»Und woher hast du die Goldmünzen, die ich in deiner Satteltasche gefunden habe?«
»Sie meinen das Gold, das Sie mir gestohlen haben? Ich hab’s beim Kartenspiel gewonnen.«
»Darauf wär ich nicht gekommen«, brummte Jouenne. Er glaubte ihm kein Wort. »Und wieso hast du die Armee verlassen?« Als Jean-Baptiste nicht antwortete, warf ihm Jouenne einen strengen Blick zu.
»Ich war in der Neuen Welt stationiert. Am Bœuf-Fluss. Gemeinsam mit den französischen Missionaren versuchten wir, den Handel der englischen Kaufleute mit den Indianern zu unterbinden. Wir nahmen die Indianer gefangen und verschifften sie als Sklaven auf unsere Plantagen in der Karibik. Schliesslich erhielten wir den Befehl, sie wie Kaninchen abzuschiessen. Es waren einfach zu viele. Dann kamen die Engländer und verbündeten sich mit einigen Stämmen. Wir kämpften gegen die Chickasaw, gegen die Natchez. Die Engländer schickten neue Schiffe mit Soldaten und bauten Forts. Wir bezahlten andere Stämme, um sie abzufackeln. Doch dann wurden viele krank. Sie starben wie die Fliegen. Kopfgeldjäger zogen ihnen die Kopfhaut ab. Für einen englischen Skalp zahlten die Geistlichen hundert Livre. Es war Sodom und Gomorrha. Unsere Regimenter wurden grausam dezimiert, und die Überlebenden wurden zu Kopfgeldjägern oder Goldschürfern, oder sie desertierten und kehrten nach Frankreich zurück. Ich hatte zu viele Gräuel gesehen.«
»Dann hast du die Vorstellung heute gut vertragen?« Jouenne grinste.
»In der Neuen Welt feuerst du Gewehrsalven auf fliehende Indianer ab, zündest ihre Dörfer an, aber du weisst nie, ob du einen tödlich verwundest hast, und du siehst nie ein brennendes Kind. Aber auf Ihrem Schafott, Meister Jouenne, riechst du sogar die Pisse, wenn das Genick bricht.«
»Es gibt noch einen Unterschied«, sagte Jouenne. »In der Neuen Welt kriegt ihr fürs Töten Auszeichnungen, Orden, aber als Henker wirst du verschmäht und geächtet, obwohl du nur ausführst, was dir das Gericht befohlen hat. Wie kann man nur einen Menschen ächten, der genau das tut, was ihm die Gesellschaft abverlangt? Sie wollen die Raubmörder hängen sehen, aber sie wollen nicht selbst Hand anlegen.«
»Danke«, sagte Jean-Baptiste nach einer Weile.
»Ich hab es nicht für dich getan«, log Jouenne, »aber wenn sie meinen Gesellen hängen, hab ich keinen mehr. Und ich denke, dass mein Geselle nun endgültig eingesehen hat, dass er nur bei mir in Sicherheit ist, bis der Marquis de La Boissière sein Regiment auflöst.«
»Ich werde bei Ihnen bleiben und die schwarze Kapuze tragen.«
Jouenne lachte. »Den Leuten hat es gefallen. Die haben hier sonst nichts. Für ein Stück Brot arbeiten sie mehrere Tage. Die einzige Zerstreuung sind die Hinrichtungen. Deshalb sind die Erwartungen hoch.«
Jean-Baptiste nickte. Er spürte immer noch den Schrecken in seinen Gliedern wegen der Dragoner. »Wieso nehmen wir den Leichnam nicht mit?«, fragte er dann.
»So will es die Stadtverwaltung, es soll der Abschreckung dienen. Erst wenn der Körper verwest, hängen wir ihn ab und begraben ihn. Aber nicht auf dem Friedhof.«
Jean-Baptiste überlegte, ob es nicht doch einen Weg gab, dem Schicksal zu entrinnen. Er könnte doch jetzt einfach vom Fuhrwagen hinunterspringen. Doch dann kamen ihm wieder die Dragoner in den Sinn, und er hatte plötzlich den Eindruck, als füge sich alles zu einem Ganzen. Er konnte davonlaufen, sich verstecken, alles Mögliche versuchen, am Ende landete er immer auf dem Schafott. Er hatte keine Wahl. Dieser furchtbare Gedanke betrübte ihn, und er starrte wie benommen auf den Feldweg, der unter den Hufen der Pferde verschwand.
»Wenn wir zu Hause sind, zeige ich dir, wie man die Länge des Seils berechnet. Das ist Mathematik.«
Jean-Baptiste schwieg.
Mehr als für die Sektion der Gehenkten interessierte sich Jean-Baptiste Sanson für die Pharmazie, für die Pflanzenheilkunde und die Herstellung von Arzneimitteln. Vielleicht lag es daran, dass Joséphine sich meistens in der Pharmacie aufhielt. Sie wusste einiges über die Heilkraft der Pflanzen und gab ihr Wissen bereitwillig an Jean-Baptiste weiter. Manchmal gingen sie zusammen in den Wald und pflückten Kräuter. Joséphine zeigte ihm, wo man die Pflanzen suchen musste, woran man sie erkannte und wie man sie aufzubewahren hatte, damit sie ihre Wirkung nicht verloren. Er war gern mit ihr zusammen. Er mochte ihre stille Art. Sie gab ihm Ruhe, Frieden. Es machte ihm auch nichts aus, dass sie nichts über ihre Vergangenheit erzählte. Er hakte nie nach. Vielleicht fürchtete er, seinen Frieden erneut zu verlieren. Manchmal hörte er gar nicht richtig zu. Er lauschte der Melodie ihrer Stimme, ohne die Worte aufzunehmen.
Die langen Winterabende verbrachten Jouenne, Joséphine und Jean-Baptiste am Kaminfeuer beim Kartenspiel. Es waren schöne Abende, bei denen auch Wein getrunken wurde. Jean-Baptiste fiel auf, dass Jouenne und Joséphine ein sehr vertrautes Verhältnis hatten. Aber er wurde nicht schlau daraus. War es eine Art väterlicher Fürsorge – für eine Magd? Oder war sie gar seine Mätresse? Er machte sich darüber nicht allzu viele Gedanken, denn er wartete nur darauf, dass der Marquis de La Boissière endlich sein Regiment auflöste. Und manchmal überkam ihn der Drang, einfach zu verschwinden, doch irgendetwas in seinem Innern sperrte sich dagegen. Er fürchtete, gegen eine höhere Regel zu verstossen. Er hatte sein Schicksal anzunehmen. Und da gab es noch Joséphine. Immer wieder Joséphine. Er wusste nicht einmal, ob sie ihn mochte. Vielleicht war ihr das Dasein als Magd lieber als eine ungewisse Zukunft mit einem Deserteur. Und es war gar nicht so sicher, ob sie jemals Meister Jouenne verlassen würde. Sie gehörte zu jenen Menschen, die ihr eigenes Leben opferten, um anderen zu dienen. Sie verzichten auf ein eigenes Leben und können es nicht erklären. Offenbar gab es auch den Fluch, Gutes zu tun.
»Die Karten«, unterbrach Jouenne seine Gedanken. Jean-Baptiste realisierte, dass er seit einer Ewigkeit die Karten mischte. Er lächelte verlegen und teilte sie aus. Sie spielten stets bis gegen Mitternacht. Dann prostete man sich ein letztes Mal zu, und der junge Mann kehrte in die Scheune zurück und schlief rasch ein.
Im Frühjahr erhielt Jouenne aus dem Pays d’Auge ein Angebot für eine Hinrichtung mit dem Schwert. Er war sehr stolz darauf. Insgeheim war er beseelt von dem Gedanken, ein grosser Henker zu sein, der wie ein berühmter Schauspieler Gastauftritte in anderen Städten und Regionen absolvierte. Gegen gutes Geld, versteht sich. Da er Joséphine nicht allein in diesem angeblich verwunschenen Gehöft zurücklassen wollte, hatte er der Stadtverwaltung mitgeteilt, dass er an Ort und Stelle Henkersknechte verpflichten und die Gerätschaften des schwer erkrankten Henkers des Pays d’Auge ausleihen würde. So konnte Jean-Baptiste bei Joséphine auf dem Hof bleiben.
Bevor er wegfuhr, zog sich Jouenne in seine Pharmacie zurück und zerstampfte zwei Artischocken. Er gab Apfelschnaps und pulverisierte Rinde des Yohimbebaumes dazu, die einige Soldaten aus der Neuen Welt mitgebracht hatten. Zu guter Letzt fügte er noch das Pulver der Macawurzel hinzu, einer heiligen Pflanze der Inkas, die spanische Seefahrer nach Marseille gebracht hatten. »Probier es heute Abend aus«, sagte Jouenne zu Jean-Baptiste, »und gib mir Bescheid, wie schnell und wie stark es wirkt. Es ist gut für Galle und Leber und fördert die Durchblutung.« Als er die Skepsis in Jean-Baptistes Gesicht sah, lachte er kurz auf. »Du kannst daran nicht sterben, Chevalier. Es wird dir nicht schaden. Im schlimmsten Fall wird es nichts nützen.«
Jouenne hielt in einem kleinen schwarzen Buch genau fest, wie er den Drink gemixt hatte, und verabschiedete sich dann.
Als Jean-Baptiste am Abend die Pferde versorgt hatte, betrat Joséphine die Scheune. Sie schien heiter und ausgelassen. Er wusste nicht, woran es lag. Irgendwie war sie schöner als sonst. Oder es fiel ihm erst jetzt auf, wie schön sie eigentlich war.
»Jetzt sind wir allein«, sagte sie unvermittelt und blieb vor ihm stehen. Sie bat ihn dann wie üblich in die Küche. Sie hatte Bohnen gekocht und mit Speck und Zwiebeln angebraten. Sie assen, ohne ein Wort zu sprechen.
»Wir verstehen uns ohne grosse Worte«, sagte Joséphine. Er nickte.
Nach einer Weile reichte sie ihm den Artischockenschnaps. »Trink das«, sagte sie lächelnd. »Für die Wissenschaft.«
Jean-Baptiste trank den Becher in einem Zug leer. Es schmeckte ein wenig bitter, aber der Alkohol machte das Getränk recht bekömmlich. Als er den Becher wieder abstellte, streckte sie ihre Hand aus. Er ergriff sie, und sie sagte: »Schlaf doch im Haus, Jean-Baptiste.« Er zögerte. »Die Nächte sind immer noch kühl«, sagte sie, lächelte etwas unbeholfen und erhob sich. Sie hielt noch immer seine Hand. Behutsam führte sie Jean-Baptiste hinter die Leinensäcke, die an der Decke hingen und die Küche vom Nachtlager trennten. Sie löste die Bänder ihrer Schürze. Dann zog sie ihr Hemd aus und schaute ihn erwartungsvoll an. Fast synchron hatte auch er begonnen, sich zu entkleiden, zuerst zaghaft, vorsichtig, dann immer rascher und voller Leidenschaft. Nach jedem abgelegten Kleidungsstück hatte er innegehalten und gewartet, bis auch sie so weit war. Ihre Zielstrebigkeit gefiel ihm.
Sie sassen gemeinsam in der Küche und assen Kohlgemüse und die Taube, die Jouenne vor seiner Abreise mit einem Spaten erschlagen hatte.
»Ich fühle mich so satt«, sagte Joséphine.
Jean-Baptiste antwortete mit einem Lächeln und schaute sie lange an.
»Ich wäre dir eine gute Frau«, flüsterte sie, als könnte sie seine Gedanken erraten.
»Ich weiss«, sagte er. »Du bist sehr tüchtig und auch sehr lieb. Und du hast ein gutes Herz.«
Joséphine lächelte zufrieden. »Du auch, wir würden gut zusammenpassen.«
»Vielleicht ist es noch zu früh«, sinnierte er.
»Zu früh?«, empörte sie sich. »Kinder muss man in jungen Jahren gebären. Worauf willst du noch warten?«
»Auf einen Wink des Schicksals.«
»Ich glaube nicht an das Schicksal. Alles liegt in deiner Hand. Du entscheidest über den Weg, den du gehen willst.«
Ihre Worte erstaunten ihn. Er ergriff ihre Hand und nickte. Zärtlich fuhr er über ihren Handrücken.
Ihre Liebe blieb nicht ohne Folgen. Joséphine wurde schwanger. Als sie eines Morgens beim Brunnen zwischen Haus und Scheune ohnmächtig wurde, rannte Meister Jouenne ihr zu Hilfe und trug sie ins Haus, in ihre Kammer. Nach einer Weile trat er wieder ins Freie und stampfte zur Scheune hinüber. Er riss das knarrende Holztor auf. Das Licht blendete Jean-Baptiste. Er lag noch auf seinem Strohlager. Jouenne ergriff die grosse Streitaxt hinter dem Tor und ging auf ihn zu.
»Joséphine ist schwanger. Wirst du sie heiraten?«
Jean-Baptiste schwieg.
»Hör mir jetzt gut zu, Chevalier, ich kümmere mich um meine Gesellen und Hilfskräfte. Wenn sie krank werden, wenn sie alt und gebrechlich sind, behalte ich sie bei mir und gebe ihnen ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit, das ist die Tradition der Henker. Wir köpfen und hängen Verbrecher, aber wir übernehmen Verantwortung für das Schicksal der Unsrigen.«
Jean-Baptiste fühlte sich bedroht und genötigt nachzugeben. In diesem Augenblick hasste er Jouenne. Schon wieder wollte jemand sein Schicksal bestimmen. Auch die Satteltasche kam ihm wieder in den Sinn. Jouenne hatte ihn bestohlen. »Ja«, hörte er sich sagen, »ich werde sie heiraten.« Und dann fügte er mit gepresster Stimme hinzu: »Nach der Geburt werde ich mit Joséphine und dem Kind nach Paris ziehen.«
Jouenne legte die Axt auf den Boden. Er war sichtlich irritiert. »Es ist gut, dass du sie heiraten willst, aber es ist nicht gut, dass du das Gehöft verlassen willst. Was willst du in Paris? Hungern? Stehlen? Paris ist eine Kloake, Dreck, Unrat, nachts sind die Gassen unsicher, die Menschen haben keine Arbeit, zu wenig Brot, sie verhungern. Bleib hier. Du könntest mein Nachfolger werden, und eines Tages würde dein Sohn dein Nachfolger sein.«
»Ich will meinen Nachkommen den Fluch ersparen. Sie sollen frei sein. Es ist nicht jedermanns Sache, das Leben eines Geächteten zu leben.«
»Fass keine voreiligen Beschlüsse, Chevalier, denk darüber nach. Nach einigen Nächten wirst du vielleicht deine Meinung ändern. Henker werden gut bezahlt. Und hier auf dem Land findest du immer ein paar Kartoffeln. Aber die wirst du nicht brauchen. Weil du der Henker bist. Hier erlaubt uns das Gesetz die Havage: Du darfst auf dem Markt so viel Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch an dich nehmen, wie du mit zwei Armen fassen kannst. Sogar Eier. Alles umsonst.«
»Ich weiss. Haben Sie etwa vergessen, dass ich einer Henkersdynastie entstamme? Und haben Sie vergessen, dass ich mein bisheriges Leben damit verbracht habe, diesem Schicksal zu entkommen?«
»Chevalier«, sagte Jouenne in ungewöhnlich väterlichem Ton, »ich würde dir alles beibringen über die Pflanzenheilkunde. Wir würden nicht nur Urteile vollstrecken, wir würden sogar Kartoffeln anpflanzen.«
»Ich dachte, die gibt es nur in der Neuen Welt.«
»Nein«, sagte Jouenne und lachte. »Im Burgund pflanzen sie bereits Kartoffeln an. Ich habe einige in meinem Garten. Sie schmecken sehr gut, und die Schale lindert Brandschmerzen.« Seine Gesichtszüge wurden weich und sanft. Er wünschte sich so sehr, dass Jean-Baptiste blieb und sie alle zusammen eine Familie würden. »Chevalier, vergiss nicht, was ich dir damals in der Kapelle gesagt habe. Du kannst dein Schicksal erkennen, aber du kannst ihm nicht entrinnen. Das ist der Fluch. Wenn du dich dagegen aufbäumst, wird das Leben dich brechen.«
»Nein, nein«, insistierte Jean-Baptiste, »wenn ein Mensch sein Schicksal erkennt, kann er ihm entrinnen. Der Mensch ist frei, Meister Jouenne.«
»Der Mensch war noch nie frei«, sagte Jouenne mit unheilvoller Stimme, »der Mensch tut ein Leben lang Dinge, ohne zu verstehen, wieso er sie tut. Er ist wie ein Tier, das eine Fährte aufgenommen hat und nie mehr davon ablässt.«
Im Februar 1739 setzten die ersten Wehen ein. Jouenne bat Jean-Baptiste, in die Stadt zu reiten und eine Hebamme zu holen.
»Ich dachte, der Henker kann das auch«, sagte Jean-Baptiste erstaunt.
»Mir fehlt die Übung«, erwiderte Jouenne. »Wenn es irgendeine Frau wäre, würde ich es tun, aber nicht bei Joséphine. Sie braucht die beste Hebamme der Stadt.«
Jean-Baptiste ritt in das Nachbarstädtchen, wo sie die Urteile auf der Place du Puits-Salé vollstreckten. Das Blutgerüst war, wie üblich, einige Tage nach der letzten Hinrichtung abmontiert worden. Jetzt besetzten Marktstände mit einer kläglichen Auswahl an Obst und Gemüse den Platz. Zahlreiche Männer lungerten auf dem Platz herum. Die meisten waren bereits betrunken. Sie hatten frühmorgens ihren Sold erhalten und waren ehrenhaft aus der Armee entlassen worden. Es waren Männer aus dem Regiment des Marquis de La Boissière. Der Marquis hatte es endlich aufgelöst. Jean-Baptiste versuchte zu begreifen: Er war frei! Er musste nicht auf das verwunschene Gehöft zurück. Er konnte wählen, sich entscheiden. Frei.
Die beste Hebamme der Stadt hiess Monique. Sie wohnte zusammen mit ihrem wesentlich älteren Bruder in einem neueren Fachwerkhaus, wie sie die Siedler aus der Neuen Welt nach ihrer Heimkehr in Frankreich bauten. Das tragende Gerüst bestand aus dunkel gebeizten Sichtbalken. Die Zwischenräume waren aus Lehm und Ziegelwerk. Im Gegensatz zu den deutschen Fachwerkhäusern, die beinahe geometrisch angeordnete Sichtbalken aufwiesen, hatten die Häuser in dieser Stadt chaotisch anmutende Anordnungen, als wären die Baumeister permanent betrunken gewesen.
Jean-Baptiste klopfte an die Tür. Er konnte sich nicht erklären, wie eine Hebamme sich ein solches Haus leisten konnte. Ein Hausmädchen öffnete die Tür.
»Ich suche die Hebamme Monique. Sie wohnt hier?«
»Ja, sie wohnt hier zusammen mit dem Herrn Doktor. Er ist ihr Bruder.«
Er wurde ins geräumige Wohnzimmer geführt. Dort sass ein vornübergebeugter alter Mann in einem hölzernen Stuhl, der an den Beinen mit Rädern versehen war. Ein raffinierter Mechanismus erlaubte ihm die selbständige Fortbewegung.
Jean-Baptiste verneigte sich kurz. »Guten Tag, ich suche eine Hebamme für die Magd von Meister Jouenne.«
»Meister Jouenne«, sagte der alte Mann grinsend, »wohnt er immer noch in dem verwunschenen Gehöft?«
Jean-Baptiste nickte.
»Seit wann hat der eine Magd?«, liess sich eine schrille Frauenstimme hinter ihm vernehmen. Jean-Baptiste drehte sich um. Vor ihm stand ein korpulentes Weib: Monique. Sie war so fett, dass sie beim Sprechen in Atemnot geriet. »Wie heisst denn diese Magd?«
»Joséphine.«
Der alte Mann begann zu lachen, doch sein Lachen ging in einen üblen Husten über.
»Beeilen Sie sich!«, schrie Jean-Baptiste. »Die Wehen haben bereits eingesetzt.«
»Unsere Joséphine ist also schwanger.« Monique lachte. »Und wer ist der Vater?«
»Ich.« Jean-Baptiste wurde allmählich ungeduldig.
»Ich habe die kleine Joséphine seinerzeit zur Welt gebracht.« Der alte Arzt schüttelte jovial den Kopf und winkte seiner Schwester zu. »Gib mir einen Absinth und dem jungen Mann auch.«
»Kommen Sie jetzt, oder kommen Sie nicht?«, insistierte Jean-Baptiste.
»Ich werde keinem Henker zum Leben verhelfen«, sagte Monique.
»Recht so, Schwester, wenn du den Nachwuchs einer Henkerstochter zur Welt bringst, wird niemand mehr dieses Haus betreten. Also trinken Sie Ihren Absinth und gehen Sie.« Das Hausmädchen brachte zwei Gläser.
»Wollen Sie andeuten, dass Joséphine die Tochter von Meister Jouenne ist?«
»Andeuten? War das nicht klar genug? Der alte Fuchs wartet seit Jahren darauf, dass einer seine Tochter schwängert. Ich kenne die Familie der Jouenne. In dieser Sippe werden alle Frauen schwanger, sobald sie es nur einmal getrieben haben. Als wüsste die Natur, dass ihr Geschlecht nur einen Schuss frei hat. Und die Männer, ja, die Männer werden in dieser Familie alle Henker. Sie werden das Amt übernehmen müssen, Monsieur, und nach Ihnen Ihr Sohn. Das sind die Gebräuche der Menschen, unter denen Sie leben.«
»Sie irren sich, Monsieur!«
»Nein«, sagte der alte Arzt und hob sein leeres Glas hoch, damit man ihm nachschenke. »So wie ich in den Augen eine Gelbsucht erkenne, erkenne ich in Ihren Augen das viele Blut, das Sie schon gesehen haben. Nein, junger Mann, niemand wird dieses Haus verlassen, um einen Henker zur Welt zu bringen.«
Jean-Baptiste schubste Monique beiseite und verliess den Ort fluchtartig.
Er eilte in den Hof und stieg auf sein Pferd. Als er auf dem Heimweg an einer Gruppe ehemaliger Soldaten vorbeiritt, hörte er seinen Namen rufen. Einige wollten ihm folgen, doch sie waren zu betrunken. Sie grölten und johlten, und Jean-Baptiste hoffte, sie würden ihn schon bald wieder vergessen haben. Er ritt, so schnell er konnte, zum verwunschenen Gehöft zurück. Bereits auf dem Hof vernahm er ein klägliches Wimmern. Er eilte ins Haus und trat an Joséphines Bett. Sie schlief, das Gesicht schweissgebadet. Am Fuss des Bettes blutige Laken und ein mit heissem Wasser gefüllter Holzzuber. Meister Jouenne sass auf einem Stuhl und hielt ein kleines Bündel in seinem Arm. Er flüsterte: »Ich habe einen Enkel.«
»Ich weiss, Meister«, sagte Jean-Baptiste. Er wollte seinen Sohn in den Arm nehmen, aber Jouenne wandte sich ab und behielt das Neugeborene in seinen Armen. »Ich habe einen Enkel«, murmelte er. Das gefiel Jean-Baptiste überhaupt nicht. Er war schliesslich der Vater und nicht irgendein Zuchthengst, der dem alten Jouenne den Fortbestand seiner Dynastie sicherte.
»Ich will jetzt meinen Sohn«, sagte er mit schneidender Stimme.
Jouenne warf ihm einen fragenden Blick zu. So kannte er den Chevalier gar nicht. Mit eisiger Miene übergab er Jean-Baptiste den Säugling.
Jean-Baptiste und Joséphine heirateten wenige Tage später.Es war eine stille Hochzeit, ohne Gäste.
Ihr Leben war sehr harmonisch und von grosser gegenseitiger Zuneigung geprägt.
Für Meister Jouenne waren alle Träume in Erfüllung gegangen. Seine Tochter hatte einen Ehemann gefunden und ihm einen Enkel geschenkt: Charles-Henri, genannt Charles. Der Fortbestand der Dynastie war gesichert. Jouenne wusste, dass sich sein Schwiegersohn sein Leben anders vorgestellt hatte, doch er glaubte, dass die Menschen nicht auf Erden waren, um glücklich zu sein und sich irgendwelche Träume zu erfüllen. Nein, das Leben bestand aus Schmerzen und Qual und das Glück darin, seinen Platz im Leben zu finden und diesen auszufüllen.
»Ich werde mit Charles ausreiten und ihm den Fluss zeigen«, sagte Jean-Baptiste, als er Jouennes Pharmacie betrat. Der kleine Charles sass am Boden und spielte mit Holztieren, die ihm sein Grossvater geschnitzt hatte.
»Lass den Jungen doch hier«, sagte Jouenne, ohne sich umzudrehen, »er spielt gerade.«
»Ich will mit meinem Sohn ausreiten«, wiederholte Jean-Baptiste.
Nun drehte sich Jouenne um und schüttelte den Kopf. »Was ist los mit dir? Dem Jungen gefällt es hier. Er will jetzt nicht ausreiten.«
»Muss ich dich um Erlaubnis bitten, wenn ich mit meinem Sohn ausreiten will?«
»Sei doch nicht so empfindlich«, sagte Jouenne und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Jean-Baptiste hob den kleinen Charles auf. »Es ist mein Sohn«, sagte er, »und damit es so bleibt, werden wir nach Paris gehen.«
»Er ist ein Jouenne«, herrschte ihn der Alte an, »in ihm fliesst mein Blut.«
»Er ist ein Sanson«, widersprach Jean-Baptiste, »in ihm fliessen mein Blut und das Blut von Joséphine. Und wir werden alle drei nach Paris ziehen. Vielleicht kriege ich dann endlich den Inhalt meiner Satteltasche zurück!«
Eine ganze Weile sprachen die beiden nicht mehr miteinander. Joséphine versuchte zu schlichten und nötigte die beiden Männer nach einigen Wochen, einen Abend beim gemeinsamen Kartenspiel zu verbringen. Wie in alten Zeiten. Die Stimmung war gedrückt. Sie spielten stumm. Kurz vor dem Schlafengehen schenkte Joséphine Wein aus.
»Ich weiss«, brummte Jouenne nach einer Weile, »es ist dein Sohn. Aber er ist auch mein Enkel.«
Joséphine machte ein besorgtes Gesicht und beobachtete die beiden Männer mit zunehmender Nervosität. »Was ist denn mit euch los?«, fragte sie bekümmert.
»Wir werden nach Paris ziehen«, antwortete Jean-Baptiste.
Jouenne zog erschreckt die Augenbrauen hoch. Damit hatte er nicht gerechnet. Wie die meisten Menschen fürchtete er die Veränderung. »Ich dachte, das Thema sei erledigt. Wir haben doch bereits darüber gesprochen. Wenn du nach Paris gehst, wählst du die Armut. Was willst du in Paris?«, fragte er sichtlich erbost. »In Paris kannst du Henker werden, Chevalier, aber dann kannst du genauso gut hierbleiben.« Aus Gewohnheit nannte er seinen Schwiegersohn noch immer Chevalier.
»Ich will irgendetwas werden«, entgegnete Jean-Baptiste trotzig, »Drechsler, Händler, Schuhmacher. Alles. Ausser Henker.«
Jouenne schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich sag’s dir ungern, Chevalier, aber du hast zwei linke Hände. Du bist ein Mann fürs Grobe. Du musst das machen, was andere nicht können. In den Strassen von Paris Dung einsammeln, das kann jeder Trottel. Und unter Trotteln ist die Konkurrenz am grössten. Du kannst noch vieles lernen, sei es in der Anatomie oder der Botanik, aber dafür musst du noch eine Weile hierbleiben. Ich werde nicht ewig leben, Chevalier. Dann könnt ihr nach Paris«, schloss er versöhnlich und schaute zum kleinen Charles hinüber, der auf dem Fussboden mit Holzsoldaten spielte. Doch der Gedanke, dass sein Schwiegersohn nicht lockerlassen würde, trieb ihn fast zur Verzweiflung. Er würde nie mehr für seinen Enkel kleine Tiere schnitzen. »Nein, nein«, sagte er laut, »du wirst hierbleiben und dich daran gewöhnen.«
Jean-Baptiste war sichtlich verärgert, er wollte nicht warten, vertröstet werden, womöglich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
»Meinst du im Ernst, die Leute in Paris wollen, dass ihnen ein Henker aus der Provinz Brot oder Wein verkauft?«, ereiferte sich Jouenne erneut.
»Er hat doch recht«, sagte Joséphine vorsichtig, »du wirst keine Arbeit finden, die besser bezahlt ist als das Amt des Henkers, Jean-Baptiste. Was soll aus unserem kleinen Charles werden? Du musst Henker werden. Deinem Sohn zuliebe.«
»Aber nicht hier!«, beharrte Jean-Baptiste. Er wusste genau, dass Jouenne nie im Leben nach Paris umsiedeln würde. »Wenn wir jetzt nicht gehen, wird meine Sehnsucht erlöschen. Ich kann mich nicht ein Leben lang nach den Wünschen anderer Menschen richten. Dafür bin ich seinerzeit nicht in die Neue Welt geflohen.«
Jouenne schmiss seine Karten auf den Tisch und trank seinen Becher leer. Er griff nach der Karaffe und verliess die Küche.
Jean-Baptiste wollte um jeden Preis nach Paris. Der Traum war nicht totzukriegen, er liess ihn nachts wach liegen. Mit offenen Augen starrte er in die Finsternis. Sein Verlangen war unersättlich.
Seit diesem Abend war es ruhiger geworden auf dem verwunschenen Gehöft. Jouenne war sehr bemüht, seinem Schwiegersohn neues medizinisches Wissen zu vermitteln. Es war das Opfer, das er bringen musste, damit sein Enkel die Tage in seiner Pharmacie verbringen konnte. Er weihte Jean-Baptiste in die Geheimnisse der Pflanzenheilkunde ein. Aber in Wirklichkeit lehrte er sie den kleinen Charles. Dieser hatte einen Bärenhunger nach Wissen. Und unendlich viele Fragen. Die Kräuter und ihre Wirkung übten eine enorme Faszination auf ihn aus. Er kannte sie bald alle, die heilbringenden Kräuter, und er wusste genau, wann und wo man sie pflücken konnte. Jean-Baptiste konnte es nur recht sein, aber er neidete seinem Schwiegervater sein Wissen. Er spürte bald, dass er in der Pharmacie nur ein Platzhalter war, damit Jouenne mit Charles zusammen sein konnte. Charles liebte seinen Grossvater. Da er in der Gegend keine gleichaltrigen Spielkameraden hatte, verbrachte er freiwillig die meiste Zeit in der Pharmacie und pulverisierte alles, was ihm sein Grossvater auf die Werkbank legte: Kräuter, Gewürze, Blätter, Stiele, Blüten, Wurzeln und Baumrinden. Und Charles hatte ein gutes Gedächtnis. Er merkte sich die Düfte, die Farben, die Konsistenz und vor allem die richtigen Dosen. Denn sein Grossvater predigte ihm bei jeder Gelegenheit, dass jede Mixtur heilen oder töten könne. Es komme ausschliesslich auf die Dosis an.
Grossvater Jouenne brachte ihm auch recht früh Lesen und Schreiben bei und zeigte ihm Bücher über Botanik und Pharmazie, insbesondere zwei grosse Werke mit wunderschönen Illustrationen. Charles schaute sich die beiden Bücher jeden Tag an. Stundenlang konnte er seiner Mutter davon berichten. Stolz und beinahe andächtig lauschte sie den Worten ihres Sohnes und liess ihn nicht merken, dass sie das alles kannte. Es war eine ruhige Zeit, in der Jouenne und Jean-Baptiste nicht sehr oft die Place du Puits-Salé aufsuchen mussten. Es war ruhig, aber für Jean-Baptiste unbefriedigend. Sein Wunsch, nach Paris zu ziehen, blieb konstant, die Sehnsucht stark und fordernd. Manchmal versuchte er, mit Joséphine über Paris zu sprechen. Sie umarmte ihn dann jeweils mit grosser Zärtlichkeit und lächelte. »Wir haben es doch gut hier. Es fehlt uns an nichts.« In solchen Augenblicken war ihm die Liebe zu Joséphine und die bedingungslose Fürsorge für Charles wichtiger als Paris. Er hatte Verständnis dafür, dass Joséphine selbst als verheiratete Frau ihrem Vater gehorchen wollte, sogar dann, wenn er nichts befohlen hatte. Er liebte sie viel zu sehr, als dass er irgendetwas hätte unternehmen können, das sie traurig gestimmt hätte. In gewissem Sinne war er ihr völlig ergeben. So stülpte er sich weiterhin die schwarze Kapuze über und wartete auf Jouennes Tod. Er realisierte, dass auch er dabei älter wurde, und eines Tages wünschte er sich sogar Jouennes Tod herbei. Er wollte endlich der Vater von Charles sein und Joséphine für sich allein haben. Doch der Alte wollte nicht sterben.
Es war Joséphine, die starb, völlig unerwartet im Sommer des Jahres 1744, kurz nach dem fünften Geburtstag des kleinen Charles. Auch Meister Jouenne wusste nicht, woran sie gestorben war. Wahrscheinlich wusste es selbst Gott nicht. Joséphine schien friedlich entschlafen zu sein. Jouenne meinte, vielleicht habe sie innere Blutungen gehabt. Manchmal platze eine Arterie im Körper, im Kopf oder beim Herzen, das komme in seiner Familie häufiger vor. Man werde schläfrig, schlafe ein, verliere das Bewusstsein und wache nie mehr auf.
Joséphine wurde hinter der Kapelle zu Grabe getragen. Charles sagte kein einziges Wort. Aber die Tränen liefen ihm in Strömen über die Wangen. Er umklammerte Jean-Baptistes Hand so stark, als wollte er sicher sein, dass sein Vater nicht auch zum lieben Gott heimkehrt, und Jean-Baptiste wunderte sich, dass sein kleiner Charles den lieben Gott noch lieben Gott nannte. Nur der Postbote erschien zur Beerdigung, aber nicht aus Anteilnahme, sondern weil er einen Brief für Jouenne hatte. Jouenne steckte ihn unter sein Wams, ohne ihn zu lesen. Er wollte Wein trinken. Am Morgen, am Mittag, am Abend und die ganze Nacht über. Meister Jouenne holte seine besten Weine aus dem Keller, und er und Jean-Baptiste wurden tagelang nicht mehr richtig nüchtern. Charles sass auf dem Sofa und blätterte in den kostbaren Pflanzenbüchern seines Grossvaters. Manchmal schaute er kurz auf. Er sah, dass die beiden Männer immer noch tranken, und las weiter.
Eines Morgens torkelte Meister Jouenne über den Hof und holte zwei Pferde aus der Scheune. Er spannte sie vor den Fuhrwagen und trat dann erneut in die Küche. Jean-Baptiste war über dem Tisch eingeschlafen. Als sich Jouenne setzte und den Weinkrug umkippte, schreckte er hoch. Sein Kopf brummte. Er wusste, dass irgendetwas geschehen war. Dann kam ihm in den Sinn, dass Joséphine gestorben war.
Jouenne nahm den Brief unter seinem Wams hervor und schob ihn seinem Schwiegersohn zu. »Ich hatte vor einiger Zeit dem Pariser Gerichtshof geschrieben und mich für eine Stelle in Paris beworben für den Fall, dass eine frei wird. Jetzt ist der Henker von Paris gestorben.«
Jean-Baptiste las das Schreiben sorgfältig durch. Er war sprachlos.
»Es sollte eine Überraschung sein«, brummte Jouenne, »ich dachte, es macht dich glücklich, wenn wir alle zusammen nach Paris ziehen. Ich hab’s für euch getan.«
»Die Königliche Kommission des Pariser Gerichtshofes hat dich zum neuen Henker von Paris berufen?«
»Ja, und mit mir hat sie auch dich berufen. Ergreife die Hand, die dir das Schicksal reicht. Zögere nicht.«
Für Jean-Baptiste kam das alles völlig unerwartet.
»Am 23. September musst du in Paris sein. Warte nicht! Im September wird es nass und kalt, und die Strassen weichen auf.«
Jean-Baptiste schenkte Wein nach und fragte: »Und du?«
»Ich erlebe den Herbst meines Lebens. Ich spüre, dass der Winter naht. Aber mach dir nichts draus. Und freu dich. Du wirst zehntausend Livre erhalten, das ist das Dreifache meines Verdienstes.«
Jean-Baptiste schwieg. Es hatte ihm die Stimme verschlagen.
»Denk an deinen Sohn. Die Mieten sind hoch in Paris, und du wirst eine Magd brauchen.« Der kleine Charles setzte sich auf Jouennes Knie und schaute ihn besorgt an. Jouenne setzte ihn wieder ab. »Jetzt, da du entschieden hast zu gehen, solltest du rasch gehen«, sagte er, ohne Jean-Baptiste anzusehen. »Der Fuhrwagen steht im Hof bereit. Ich habe die Pferde angespannt. Ich werde sie nicht mehr brauchen. Und vergiss die Bücher nicht, wenn du gehst. Sie sind für Charles. Er ist ein gescheiter Kopf. Schick ihn auf eine Schule, wenn die Zeit gekommen ist. Jeder Fluch findet eines Tages sein Ende. Ich denke nicht, dass er in deine Fussstapfen treten will. Gewähre ihm, was dir verwehrt blieb.«
Jouenne nahm die Weinflasche und verliess die Küche. Dann steckte er noch mal den Kopf zur Tür herein. »Deine Goldmünzen liegen auf Joséphines Nachttisch. Die Satteltasche ist in der Scheune. Jetzt kannst du mir ja sagen, woher du dieses Gold hast. Gestohlen?«
»Nein, ich habe es einem toten Offizier auf dem Schlachtfeld Terre Rouge in der Neuen Welt abgenommen.«
»Leichenfledderer«, sagte Jouenne abschätzig.
»Das Totenhemd hat keine Taschen«, sagte Jean-Baptiste, »ich werde das Gold für Charles’ Schulausbildung brauchen.«
Jouenne wandte sich ab. Er überquerte den Hof und verschwand hinter der Scheune. Jean-Baptiste blieb mit Charles in der Küche. Er wärmte die Kartoffeln vom Vortag und briet sie mit frischem Knoblauch, Zwiebeln, Basilikum und Käse. Meister Jouenne kam nicht zurück. Da beschloss Jean-Baptiste, ihn suchen zu gehen. Sie würden ein letztes Mal zusammen essen.
Er ging über den Hof. Jouenne hatte bereits eine Pferdedecke auf der Ladefläche des Fuhrwagens ausgebreitet. Gut verschnürt lagen dort unter anderem seine pharmazeutischen Nachschlagewerke. Es roch nach Verbranntem. Zuerst dachte Jean-Baptiste an die Kartoffeln, aber dann erinnerte er sich, dass er die Kasserolle vom Feuer genommen hatte. Hinter der Scheune stiegen Rauchschwaden auf. Charles rannte aus dem Wohnhaus und schrie, dass es irgendwo brenne. Zusammen liefen sie hinter die Scheune. Der Rauch kam aus der Kapelle. Über dem Eingang war ein Querbalken mit einer Inschrift. An diesem Balken baumelte Meister Jouenne.
»Es ist der Fluch«, murmelte Jean-Baptiste und schloss Charles in die Arme. »Ich hoffe, dass du eines Tages nur Mädchen haben wirst. Bloss keinen Sohn. Der Spuk muss ein Ende haben.«
»Und ich? Muss ich denn auch Henker werden?«
»Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es wissen.«