6

Als Charles nach Hause kam, sass sein Vater allein am Küchentisch. Es roch nach angebratenem Speck und Kürbissuppe.

»Hat man dich vergessen?«, fragte Charles.

»Nein«, antwortete Jean-Baptiste, »ich habe darauf bestanden, auf dich zu warten. Du kannst mich nachher ins Bett bringen, aber zuvor will ich mit meinem Sohn ein Glas Wein trinken, denn ich bin stolz auf ihn.«

Charles setzte sich.

»Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du so lange weggeblieben bist«, sagte Jean-Baptiste leise. »Man hat mir schon alles berichtet, einiges ging schief, aber das war nicht deine Schuld. Du hast entschlossen gehandelt und die Beamten der Justiz dadurch beeindruckt.«

»Ich bin auch verantwortlich für die Fehler der anderen.«

»Soubise ist immer besoffen, das war schon vor zehn Jahren so. Ich frage mich, ob er zwischenzeitlich einmal nüchtern war.«

Charles nahm die Weinkaraffe und schenkte zwei Becher ein. Die beiden Männer prosteten sich zu. Als Charles sah, dass sein Vater auch ohne seine Hilfe trinken konnte, trank er seinen Becher in einem Zug leer.

»Wenn du nach getaner Arbeit nach Hause kommst, kannst du Stricke schmieren oder das Schwert schleifen. Das hilft auch. Ich habe immer Stricke geschmiert. Und wenn es nicht gereicht hat, habe ich die alten, gebrauchten Stricke zerschnitten. Du kriegst dafür zehn Sou. Für ein kleines Stück Strick. Da kommt eine Menge zusammen. Ich kenne viele Leute, die mit einem Stück Galgenstrick in der Hosentasche herumlaufen. Sie behaupten, es bringe Glück. Ich weiss nicht, warum. Ich habe ja eine ganze Sammlung von Stricken, und es hat mir kein Glück gebracht. Auf jeden Fall bringt es Frieden in deine Seele, wenn du nach getaner Arbeit Stricke schmierst.«

Charles nickte. Er glaubte Jean-Baptiste kein einziges Wort. Aber er liess ihn reden, schliesslich war er sein Vater. Er schaute kurz auf und hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm ins Gesicht zu schlagen, denn er hatte ihm alles zerstört. Henker zu werden war schlimm genug, sinnierte Charles, aber Dan-Mali zu verlieren, das war zu viel. Sein Vater hatte gut reden, er hatte seine Wünsche durchgesetzt und dadurch das Leben seines Sohnes zerstört.

Jean-Baptiste schien plötzlich betrübt. Er blickte Charles in die Augen, dann senkte er den Kopf und sagte: »Manchmal, wenn ich keine Ruhe fand, ging ich ins Bordell.« Als Charles nicht reagierte, fuhr er fort: »Der Henker von Marseille hat mir einmal erzählt, dass er nach einer Hinrichtung immer ins Bordell geht. Der Druck ist einfach zu stark.« Er zeigte auf die Weinkaraffe auf dem Tisch. »Gib uns noch mal Wein, mein Sohn. Es war für alle nicht einfach. Deine Grossmutter hat mir gesagt, ich solle auf dich warten und dir sagen, dass der Wein für dich ist. Du hast ihn dir verdient. Die Henker von Orléans und Lyon sind renommierte Henker, und sie haben gesagt, dass du einmal ein Grosser wirst. Du hättest die Stärke und die Entschlusskraft, die anderen Menschen fehlen. Die Kraft des Handelns.«

Charles füllte die Becher erneut.

»Aber nicht zu viel, sonst muss deine Grossmutter nachts aufstehen.« Jean-Baptiste lachte. »Sie hat mir schon gedroht, dass sie mich ins Bett pinkeln lässt, wenn ich mir nicht angewöhne, nach dem Abendessen nichts mehr zu trinken. Aber das wäre schlecht für die Nieren.« Er lachte erneut, und jetzt war ihm die ganze Erleichterung über die geglückte Aktion anzusehen. Er war richtig stolz. Aber Charles lachte nicht. Sein Vater hatte gut lachen. Auch dafür hasste er ihn. Und noch mehr hasste er sich selbst, weil er im Bordell gewesen war. Wie sein Vater. Er hatte das getan, was alle Sansons vor ihm getan hatten. Und er hatte es nicht gewusst. War er also doch ein Sanson?

»Lass mich aus deinem Becher trinken«, sagte Jean-Baptiste jovial, »so haben es die Sansons immer getan.«

»Ich will immer noch Arzt werden«, entgegnete Charles trotzig, »vergiss das nicht. Das ist meine Bestimmung.«

Jean-Baptiste trank aus Charles’ Becher. Dann sagte er: »Charles, wir kennen die Pläne Gottes nicht. Wenn es deine Bestimmung ist, wirst du Arzt werden. Doch vorläufig bist du Monsieur de Paris.«

»Kommissarisch«, sagte Charles und trank mit einem gewissen Widerwillen aus dem Becher seines Vaters.

In den frühen Morgenstunden brachte Charles seinen Vater ins Bett. Dieser schlief im gleichen Zimmer wie Grossmutter Dubut und vier von Charles’ Geschwistern. Die alte Frau war noch wach, sprach aber kein einziges Wort. Jean-Baptiste bat Charles, der Grossmutter gute Nacht zu sagen. Charles ging zu ihr hinüber. Ihr Bett war massig und thronte auf hohen Holzfüssen. Er blieb davor stehen. Es roch nach Rosenöl. Die alte Frau kämpfte gegen den Schlaf. Ihr Atem war flach, ihre Haut aschgrau und glänzend vom vielen Bienenwachs, das sie zur Schonung der Haut abends auftrug.

»Von heute an«, flüsterte sie, »ist der König in Gefahr. Alle Welt hat gesehen, wie zerbrechlich die Monarchie ist. Wenn der erste Faden reisst, löst sich der Stoff auf. Es kommt immer einer, der wieder daran reisst, bis das königliche Wams zerrissen ist und der König nackt dasteht.«

Alte Menschen glauben immer, dass die Welt nach ihnen untergeht, dachte Charles, dabei ist es ihr eigenes Leben, das langsam erlischt, der eigene Körper, der langsam zerfällt. Es hat keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge. Er wollte das alles nicht hören. Er hoffte, sie würde noch etwas zu ihm sagen, ihn beglückwünschen, ihm danken, dass er fortan für die Familie sorgte. Doch sie sprach über den König. Sie hatte keine Empfindung für die Seelennöte ihres Enkels. Sie hätte nicht mal einer kranken Katze frische Milch gegeben. Sie hatte das Reich der Sansons gerettet und glaubte wohl, alle Nachfahren müssten ihr auf ewig dankbar sein und ihren Namen ehren. Sie murmelte noch etwas über den König und schlief dann ein. Sie hatte gegen den Schlaf gekämpft, weil sie die Rückkehr ihres Enkels hatte abwarten wollen. Jetzt waren alle zurück. Jetzt konnte sie schlafen. Sie hatte die Herrschaft gesichert. Jetzt brauchte sie nicht mehr zu wachen. Charles schwor sich, am Tage ihres Todes ihrem Bett die Beine zu kürzen.

Die Sonne blendete Charles. Er hatte verschlafen. Als er aufstand, erschien der vergangene Tag in neuem Licht. Er hatte den Applaus zwar durchaus genossen, aber nicht seine Meinung geändert. Sobald einer seiner Brüder alt genug war, wollte er das Henkeramt abgeben und Arzt werden. Er wunderte sich über die plötzliche Klarheit, war ihm doch in der Nacht noch alles unlösbar erschienen. Nur für Dan-Mali gab es keine Lösung. Mit Wehmut dachte er an die kleine Siamesin und ärgerte sich fürchterlich, dass sie ihn beim Ausüben seines Amtes beobachtet hatte. Dann kam ihm Grossmutter Dubut in den Sinn. Merkwürdig, dass sie nicht nach ihm gerufen hatte. Er trat in den Hof hinaus, wo die Geschwister spielten, und wusch sich am Trog. Einer seiner Brüder sagte, dass Grossmutter heute kein Frühstück gemacht habe.

»Oh«, scherzte Charles, »sie vergisst ihre Pflichten. Dann muss sie aber todkrank sein.«

Er ging ins Haus zurück und klopfte an die Schlafzimmertür. Jean-Baptiste lag im Bett und las eine medizinische Schrift. »Sie schläft noch«, flüsterte er, »lass sie schlafen.«

Charles trat an ihr Bett. Sie lag noch genauso da wie letzte Nacht. Die Augen waren offen. Er berührte ihre Hand. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Die Hand war eiskalt. Ohne zu zögern, fühlte er den Puls an ihrer Halsschlagader, wie er es an der Universität Leiden gelernt hatte. Sie hatte keinen Puls mehr. Sie war tot. Er wünschte, sie wäre früher gestorben. Er empfand keine Trauer. Er hatte sie nie gemocht, und sie hatte seine Träume zerstört. Man kann Scheunen abbrennen und Katzen ersäufen, aber man sollte keine Träume zerstören, dachte er und ging zu seinem Vater hinüber.

»Sie schläft nur«, sagte Jean-Baptiste und legte das Buch beiseite. Es trug den Titel Nostalgia und war von einem Arzt namens Nicolai fünf Jahre zuvor publiziert worden. Charles setzte sich auf die Bettkante und starrte auf seine Füsse. »Vater«, sagte er, »Grossmutter ist tot.«

Jean-Baptiste war über den Tod seiner übermächtigen Mutter sehr betrübt. Zum Glück hatte sich die Küchenmagd ihre Kochkünste angeeignet. Essen und Lesen waren das Einzige, was dem kranken Mann noch Freude bereitete. Er stellte eine weitere Magd ein, aber der Geist von Grossmutter Dubut war verflogen.

Am folgenden Tag erhielt Charles Glückwünsche der Justiz. Ein Bote überbrachte ein Schreiben und eine Sonderprämie für seine ausserordentliche Leistung. Sein erstes eigenes Geld. Auch die Zeitungen lobten die würdevolle und souverän inszenierte Hinrichtung, die vornehme Zurückhaltung. Besonders Gorsas war voll des Lobes. Charles’ Name sei nun auf immer mit dem des Königs Louis XV und dessen Attentäter verbunden, schrieb er.

Charles war hin- und hergerissen: Einerseits war er stolz, die Aufgabe bewältigt zu haben, andererseits schämte er sich. Er freute sich, zum ersten Mal in seinem Leben eigenes Geld zu verdienen, doch er wollte nicht als Henker Berühmtheit erlangen. Er war über Nacht zum Oberhaupt der Familie Sanson aufgestiegen, aber er hatte Dan-Mali verloren.

Dieser Gedanke quälte ihn so sehr, dass er eines Abends, als er mit Dominique am Klavier sass, von Dan-Mali zu erzählen begann. Seine Schwester schien amüsiert.

»Lach mich bitte nicht aus«, bat er vorwurfsvoll.

»Mein grosser Bruder hat sich verliebt, das ist doch wunderbar.«

»Aber sie weiss es nicht«, sagte er betrübt, »und jetzt, da sie weiss, dass ich Henker bin, will sie mich bestimmt nicht mehr.«

Dominique umarmte ihn. »Charles, hör zu, viele Menschen scheitern bereits in Gedanken. Besuch sie doch einfach und frag sie! Vielleicht war es gar nicht sie. Hast du selber gesagt.«

Sie spielten ein weiteres Stück. Als sie fertig waren, fragte Dominique: »Magst du noch?«

Er schüttelte den Kopf und sagte leise: »Ich muss dir noch was sagen: Sie stammt aus dem Königreich Siam.«

Dominique machte ein langes Gesicht. »Kannst du nicht wie andere Leute auch eine Frau aus Paris nehmen? Muss es jemand vom anderen Ende der Welt sein? Die haben doch ganz andere Sitten und Bräuche und sprechen andere Sprachen. Wie verständigt ihr euch denn?«

»Wir reden eigentlich nicht«, sagte er sichtlich verlegen und setzte leise hinzu: »Wir schauen uns einfach an.«

»Charles«, seufzte Dominique, »dann kennt ihr euch ja gar nicht.«

Charles suchte mehrfach das Jesuitenkloster auf, wagte es aber nicht, sich an der Pforte zu melden. Zwar wollte er Pater Gerbillon wiedersehen, an seinem Wissen teilhaben, doch insgeheim hoffte er, Dan-Mali zu begegnen. Pater Gerbillon war nur ein Vorwand, musste er sich eingestehen.

Eines Morgens nahm er all seinen Mut zusammen und klopfte an die Pforte. Ein älterer Pater bat ihn hinein. Das Kloster kam Charles noch imposanter vor als bei seinem letzten Besuch. Es war ein herrschaftlicher Bau mit hohen Gewölben, grossen Fenstern und breiten Treppen aus weissem Stein. Hier wohnen also die Diener Gottes, die Armut predigen und in Saus und Braus leben, dachte Charles. Der alte Pater klopfte im ersten Stock an eine doppelflügelige Holztür und öffnete. Er bat Charles hinein. Vor ihm lag das luxuriös ausgestattete Arbeitszimmer mit der gigantischen Bibliothek, das Charles bereits hatte betreten dürfen. Es erinnerte an ein königliches Kabinett in Versailles. Hinter dem massigen Eichentisch sass Pater Gerbillon. Er war mit dem Verfassen eines Briefes beschäftigt und blickte nur kurz hoch. Er schien nicht erstaunt, ihn zu sehen. »Ich habe dich erwartet, Charles. Nimm doch Platz. Ich bin gleich so weit.«

Charles setzte sich. Er konnte sich kaum sattsehen in diesem Tempel des Wissens. Überall Bücher, Zeitungen, Schriften, Zeichnungen, Gemälde und eine gigantische Weltkugel am Fenster, die jedem Besucher klarmachte, dass die Welt nicht in Marseille oder in der Normandie endete.

»Wurden Sie unterrichtet, oder hatten Sie eine Vorahnung?«, fragte Charles misstrauisch.

»Nein, nein«, Gerbillon lachte, »Erfahrung und gesunder Menschenverstand. Du bist ein Suchender. Hier in Paris wirst du kaum jemanden finden, der dir helfen kann. Hier gibt es nur Papageien. Hast du schon einmal einen Papagei gesehen?«

Charles schüttelte den Kopf und rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.

»Bei uns werden sie von verschrobenen Adligen als Haustiere gehalten, aber im Königreich Siam sind es Schädlinge. Sie sind nebst den Raben die wohl intelligentesten Vögel. Diese Viecher können sich Worte und ihre Bedeutung merken und nachplappern. Wenn du mich fragst, ist das eine Verhaltensstörung. Aber was führt dich zu mir?«

»Glauben Sie, dass Gott für jeden von uns einen Plan hat, den wir erfüllen müssen? Dass es ein vorbestimmtes Schicksal gibt und Flüche, die auf Menschen lasten?«

Pater Gerbillon lachte herzlich und machte dann ein ernstes Gesicht. »Charles, du kommst am frühen Morgen zu mir, um mir eine derart existentielle Frage zu stellen. Dafür brauche ich einen Krug Bordeaux. Aber es ist noch zu früh.«

»Ist diese Frage denn so schwierig zu beantworten?«

»Charles, benutz deinen gesunden Menschenverstand. Glaubst du im Ernst, dass Gott für Millionen von Menschen individuelle Pläne hat? Wenn er schon nur für uns zwei einen Plan hätte, würde das ganze Hefte füllen. Es gäbe auf der Welt zu wenig Bäume, um all diese Pläne auf Papier festzuhalten. Es gibt keinen Plan, Charles, aber es gibt das Bedürfnis der Menschen, eine grössere Bedeutung und Bestimmung zu haben als ein dümmlicher Papagei in den Wäldern Siams. Wärst du Mathematiker, Charles, würdest du an den Zufall glauben, aber wir Menschen sind keine Mathematiker. Mathematik bietet keinen Trost. Deshalb suchen wir nach göttlichen Zusammenhängen. Wenn einem armen Tropf dreimal die Ehefrau stirbt, glauben wir, eine Struktur in seinem Schicksal zu erkennen. Wir nennen es Fluch. Aber es ist nichts dahinter, Charles. Kein Gott, kein Plan, kein Ziel.«

»Und somit auch kein Fluch. Ich bestimme allein über mein Schicksal?«

»Nicht ganz, es gibt Sachzwänge, familiäre Zwänge, finanzielle Zwänge, politische Zwänge. Aber der Mensch hat die Wahl. Wenn er nicht daran glaubt, hat er keine Wahl.«

Charles schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Ich würde mich gerne mit der jungen Frau aus Siam unterhalten. Sie heisst Dan-Mali.«

Pater Gerbillon zog die Augenbrauen hoch. »Oh, das lässt sich einrichten, aber im Augenblick betet sie in der Kapelle. Trotzdem werden wir sie nicht von ihrem Buddha erlösen können. Sie hält unseren Christus für eine weitere Erscheinung Buddhas. Ich kann sie durchaus verstehen. Buddha ist die bessere Geschichte. Buddha ist tolerant. Buddhisten können sich der Liebe hingeben, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Wir hingegen, wir starren ständig auf das Jesuskreuz über dem knarrenden Bett und kriegen keinen mehr hoch.«

Charles starrte ihn ungläubig an.

»Ich bedaure, wenn ich dich schockiert habe, Charles, aber das Reisen in fremde Kontinente hilft dir, dein bisheriges Weltbild zu relativieren. Wenn du das Königreich Siam gesehen hast, siehst du alles mit anderen Augen.«

»Wann kann ich mit Dan-Mali reden?«, insistierte Charles. Das Gerede des Paters interessierte ihn jetzt nicht.

»Das wird schwierig. Ihre Französischkenntnisse sind noch sehr bescheiden, und sie kehrt mit der nächsten Expedition nach Siam zurück. Aber sie kommt wieder. Sie liebt Paris, und ich mag die junge Frau. Ich hätte sie gerne in unserem Kloster. Sie kocht wunderbar. Lass uns einfach in Kontakt bleiben, Charles. Eines Tages wirst du Dan-Mali wiedersehen.«

»Ich dachte, ich könnte sie gleich sehen.«

»Das ist keine gute Idee«, sagte Pater Gerbillon.

Damit war die Angelegenheit für Charles endgültig erledigt. Im Nachhinein war es ihm peinlich. Wahrscheinlich bedeutete er dieser jungen Frau nichts. Er hatte sich alles eingebildet. Wünsche, Hoffnungen, Träume, er schämte sich für seine Naivität. Um zu vergessen, wollte er sich fortan jenen Leuten zuwenden, die ihm applaudierten. In dieser Zeit gab es keine spektakulären Hinrichtungen, und sie dauerten nie lange, da Charles die Länge des Seils stets richtig berechnet hatte. Kleinkriminelle – Diebe, die aus Hunger und Verzweiflung stahlen, ein paar Eier auf dem Markt, ein Brot oder einen Apfel – wurden mit dem glühenden Eisen gebrandmarkt. Nach jeder Vorstellung verneigte sich Charles-Henri Sanson, der Henker von Paris, vor seinem Publikum. Immer mehr genoss er die Bewunderung von Leuten, die ihm eigentlich nichts bedeuteten. Man kann sich gegen vieles schützen im Leben, aber selten gegen Lob. Gegen Lob ist kaum jemand immun. Und Charles genoss die Bewunderung aus Trotz. Wenn Dan-Mali ihn wegen seines Berufes ablehnte, dann wollte er erst recht ein grosser Henker werden. Er wollte sich nicht länger verstecken und sein Amt verleugnen. Ja, er war Henker, der Henker von Paris. Und verdiente recht gut. Wenn jemand in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und ein Leben lang sehr bescheiden gelebt hat, ist dies ein besonderes Gefühl. Er wusste, dass Leute wie Antoine dies nie begreifen würden. Einige Menschen behaupten, Geld mache nicht glücklich. Das konnte er nicht bestätigen. Unglücklich machte es bestimmt nicht. Geld bedeutete Freiheit und Unabhängigkeit. Und war es nicht ein grosses Glück, wenn man einen Arzt aufsuchen konnte? Charles gewann eine gewisse Ruhe. Oder war es schon Übermut? Er gab bei einem Schneider in der Rue de la Reine einen eleganten Anzug aus hellem Tuch in Auftrag. Fortan flanierte er wie ein stolzer Pfau durch die Parkanlagen von Paris und genoss die schmachtenden Blicke der jungen Damen und die Bewunderung der einfachen Leute. Manchmal, wenn er allein zu Hause in der Pharmacie sass, schämte er sich für seinen Wandel. Es fiel ihm schwer, sein Verhalten zu verstehen, geschweige denn zu akzeptieren. Aber zu sehr hatte er darunter gelitten, dass man ihn und seine Familie all die Jahre derart geschnitten hatte. Dass er das Amt des Henkers in feinem Tuch ausüben wollte, war ein Akt der Rache. Er war Monsieur de Paris und trug die gleichen teuren Kleider wie die Leute, die ihn verachteten. Er war nicht bereit, wie sein Vater das Amt in aller Stille auszuführen und sich ansonsten unsichtbar zu machen. Die Stadt Paris sollte ihn sehen. Er war ihr Henker und tötete für sie. Und zu Hause wartete eine frisch gedruckte Encyclopédie auf ihn. Wer in Paris konnte sich schon Diderots Encyclopédie leisten?

Charles machte oft Spaziergänge im Jardin du Palais Royal und lernte mit den Jahren die geheime Sprache der Frauen. Eines Tages fiel ihm im Café eine Dame aus adligem Hause auf, die mit ihrem Fächer spielte und immer wieder zu ihm herüberblickte. Sie war nicht mehr ganz jung. Er verstand die kokette Sprache des Fächers durchaus und folgte der Einladung, sich an ihren Tisch zu setzen. Sie plauderten vergnüglich über Diderots Encyclopédie. Damit demonstrierte man nicht nur, dass man lesen konnte, sondern auch, dass man Geld hatte und eine gewisse Bildung. Diskret liess man Worte und Stichworte fallen, die mehr über den eigenen Stand verrieten, erwähnte beiläufig einen Jagdausflug, eine Theateraufführung oder ein Diner mit einflussreichen Persönlichkeiten. Die Dame war eine Marquise, das liess sie Charles sehr rasch wissen. Er entgegnete lediglich, er sei Beamter der Justizbehörden. Dann kam sie rasch zur Sache und fragte, ob ihn eine Frau zum Abendessen erwarte. Als er verneinte, schien sie erleichtert und bat, sie doch nach Hause zu begleiten. Die Stühle in diesem Café würden ihr Rückenschmerzen verursachen. Und lächelnd fügte sie hinzu, sie müsse sich etwas hinlegen. Sie nahmen eine Kutsche und fuhren zu ihrem Stadtpalast. Sie sagte der Dienerschaft, sie wolle nicht gestört werden. Dann durchquerten sie den üppig ausgestatteten Salon und betraten das Schlafzimmer.

»Verstehen Sie etwas von Massage?«

»Ja«, antwortete Charles, »ich bin mit der menschlichen Muskulatur vertraut. Soll ich Sie massieren, Madame?«

»Würden Sie das tun?«, fragte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Natürlich«, sagte Charles schmunzelnd, »ich kann es nicht ertragen, wenn schöne Frauen leiden.«

Nun musste auch die Marquise schmunzeln. »Worauf warten Sie, Monsieur?«, seufzte sie und legte sich aufs Bett. »Ist es besser, wenn ich das Kleid ausziehe?«

»Viel besser«, sagte Charles und beugte sich über sie.

Sie küsste ihn, nur ganz kurz, und benässte mit ihrer Zunge seine Lippen. Sie fuhr sich mit der Hand zwischen die Schenkel und flüsterte: »Sie quälen mich, Monsieur, ich dachte, Sie wollen mein Leid lindern.« Dann griff sie Charles in den Schritt und sagte mit energischer Stimme: »Ziehen Sie endlich Ihre Hose aus, Monsieur. So wird das nichts.«

Charles zog sich aus, während sie ihn dabei beobachtete. »Ich mag Männer wie Sie. Jeder Bildhauer würde sich freuen, Sie als Modell zu haben. Was hat sich der liebe Gott wohl dabei gedacht, als er Sie erschaffen hat?«

»Er hat an Sie gedacht, Madame«, scherzte Charles.

»Sie meinen, er wollte uns Frauen verrückt machen? Oder sind Sie der Apfel im Garten Eden? Bringe ich Sie in Verlegenheit?« Sie drehte sich abrupt auf den Bauch. Charles begann Nacken und Schulterblätter zu massieren.

»Ich mag’s von hinten, Monsieur, wie unsere Vorfahren vor zehntausend Jahren. Und tun Sie es heftig, als würden Sie ein Verbrechen begehen oder eine kleine Schlampe bespringen. Und wenn Sie mich dabei noch lauthals beschimpfen, könnten Sie mein zukünftiger Liebhaber werden.«

Als Charles die grosszügig geschwungene Treppe hinunterstieg, begegnete er einem jungen Mann, der sichtlich erschrak, als er ihn sah. Er hatte den jungen Henker ohne Zweifel erkannt. Charles blieb auf der Treppe stehen und schaute zum oberen Stock hinauf. Dort stand die Marquise lächelnd in ihrem rosafarbenen Morgenmantel.

»Meine Schwester, Madame la Marquise, trinkt Tee mit dem Henker von Paris?«

Die Marquise reagierte irritiert und schaute Charles fragend an. Sein Schweigen deutete sie als Bejahung. Der junge Mann ging an Charles vorbei, ohne ihn zu beachten, und nahm amüsiert die letzten Stufen, bis er seine Schwester erreicht hatte.

»Sie haben mich getäuscht!« Ein unterdrücktes Kreischen entfuhr der Marquise, und ihre Stimme überschlug sich: »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie der Henker sind, mon Dieu!«

»Ist Ihnen denn dadurch ein Schaden entstanden, Madame?«, fragte Charles galant, wenngleich mit einem unverkennbar süffisanten Unterton in der Stimme und setzte seinen Weg fort.

»Mein Anwalt wird es Ihnen sagen, seien Sie gewiss, Monsieur de Paris«, warf sie ihm hochnäsig nach und verschwand von der Brüstung.

Wieder zu Hause, fühlte Charles sich schäbig und hohl. Es kam ihm vor, als hätte er auch dies nur aus Trotz getan. Um sich an den Adligen zu rächen, die ihn verachteten. Das Abenteuer mit der Marquise enttäuschte ihn im Nachhinein. Er hatte sich mehr Befriedigung erhofft, mehr Freude und Genugtuung.

Charles verkroch sich regelmässig in der Pharmacie und las die Bücher, die er in den Pariser Druckereien kaufte. Es war ein erhabenes Gefühl, die Möglichkeit zu haben, Wissen zu kaufen. Und immer wieder vertiefte er sich in Diderots Encyclopédie. Er versank in der Welt der Pflanzen und Heilstoffe und vergass, was ihn zuvor noch gequält hatte. Doch seine Träume erinnerten ihn daran, dass er sich tagsüber etwas vormachte. Er träumte nachts noch immer von Dan-Mali und konnte sich am nächsten Morgen sogar daran erinnern, worüber sie gesprochen hatten. Es war merkwürdig, denn er wusste durchaus, dass die Worte in seinem Traum seiner Phantasie entsprungen waren.

Mit der Zeit vergass Charles den Zwischenfall mit der Marquise und verrichtete mit immer grösserer Routine seine Arbeit auf dem Schafott. Als Jean-Baptiste sah, dass Charles mit seiner neuen Rolle klarkam, beschloss er, zusammen mit der Magd und den minderjährigen Kindern nach Brie-Comte-Robert zu ziehen, auf ein kleines Gut auf dem Lande. Er glaubte, der Tod stehe unmittelbar bevor. Er hatte schreckliche Visionen. Von Zeit zu Zeit verlor er sich in wirren Gedanken. Er sagte, wenn das Schicksal einem übel mitspielen wolle, genüge es nicht, einen Menschen zu lähmen, man müsse ihn danach noch möglichst lange leben lassen, damit er lerne, zu hadern und sich zu grämen.

Auch Dominique war ausgezogen. Sie hatte geheiratet und wohnte bei ihrem Mann, einem Eisenwarenhändler, in Beaune. Charles blieb mit den Henkersgehilfen Barre, Firmin, Desmorets und Gros allein im Haus zurück. Die vier kümmerten sich um die Pferde, das Werkzeug, verrichteten Reparaturen und machten Besorgungen. Und Gros kochte. Er kochte schlecht, aber er war der Einzige, der für diese Arbeit in Frage kam, da er früher in einer Bäckerei tätig gewesen war. Er war ein freundlicher, kleingewachsener Mann mit rundem Gesicht, ein gutmütiger Kerl, der für alle im Haus stets aufmunternde Worte fand.

Barre und Firmin waren junge Metzger, die in einem Schlachthaus gearbeitet hatten. Die beiden verbrachten ihre ganze Freizeit zusammen. Barre war ebenfalls kleingewachsen, aber breit gebaut, mit mächtigen Oberarmen wie ein Matrose. Er wirkte oft sehr verbissen, so dass man den Eindruck hatte, er sei auf irgendetwas wütend. In Wirtshäusern lauerte er geradezu darauf, dass ihm jemand den Respekt verweigerte. Dann schlug er unvermittelt zu und begann eine wüste Rauferei. Firmin dagegen war mager wie ein Skelett und hatte ein auffallend schmales Gesicht mit einer fliehenden Stirn, was ihn ein bisschen dümmlich aussehen liess. Barre und Firmin zankten sich oft, hingen aber trotzdem wie Pech und Schwefel zusammen, wenn es darauf ankam. Sie erinnerten manchmal an ein Ehepaar nach der goldenen Hochzeit.

Desmorets schliesslich war der Enkel des Scharfrichters von Bordeaux und der Jüngste von allen. Da er vorzüglich rechnen und schreiben konnte, hatte ihm Charles die Buchführung über alle Einnahmen und Ausgaben im Haus anvertraut. Desmorets erstellte auch die Inventare der Kleider, die man den Gehängten oder Geköpften abgenommen hatte, und erledigte die Korrespondenz mit den Justizbehörden.

Charles hatte Glück gehabt mit seinen Gehilfen, war es doch in diesen Tagen schwierig, anständige Leute zu finden, denen man auch vertrauen konnte. Dennoch war, vielleicht mit Ausnahme von Desmorets, mit ihnen kein anspruchsvolles Gespräch möglich, und sie waren Charles oft zu derb. So begann er wieder, seine Gedanken seinem Tagebuch anzuvertrauen. Er schrieb viel, korrigierte nichts. Er las die alten Einträge kein zweites Mal. Er schrieb sich das viele Blut vom Leib. Schreiben wurde für Charles zur rituellen Reinigung. Wenn er das Tagebuch geschlossen und sorgfältig zwischen zwei dicke medizinische Ratgeber geklemmt hatte, trank er Wein – wie immer vor dem Zubettgehen. Er schlief dann zwar rasch ein, aber sein Schlaf war weder lang noch erholsam.

Am Morgen widmete er sich den Menschen, die bei ihm Linderung ihrer Schmerzen suchten. Zu seiner Überraschung hatte es sich herumgesprochen, dass er noch fähiger war als sein Vater. Selbst Ärzte schickten manchmal hoffnungslose Fälle zu ihm. Er galt schon bald als Koryphäe hinsichtlich der Heilung von Gelenkschmerzen und Schultersteife. Die Nachmittage verbrachte er mit dem Studium von Diderots Encyclopédie, in seinem Kräutergarten, wo er Kräuter für Arzneien pflanzte, oder mit längeren Ausritten in die nahen Wälder. Das Haus war seit dem Tod von Grossmutter Dubut und Jean-Baptistes Wegzug öde geworden. Er vermisste plötzlich die lärmenden Geschwister. Die vertrauten Stimmen waren allesamt verstummt.

Eines Freitags hatte Charles einen Kammerdiener aus Versailles zu hängen. Als er dem Verurteilten die Haare schnitt, gestand dieser, dass er sich mit einer der Mätressen des Königs vergnügt hatte. »Wieso hat mich der Herrgott derart gut bestückt, wenn ich es nicht nutzen darf?«, fragte er Charles.

»Ich bitte Sie, ruhig zu sitzen, sonst werde ich Sie noch schneiden.«

Der Kammerdiener lachte. »Mit dieser kleinen Schere?« Er zog ein Büchlein aus seiner Tasche. »Ich habe es geschrieben, Monsieur de Paris, im Auftrag unseres Königs.« Das Büchlein war sorgfältig gestaltet und in rotes Leder gebunden. Es war ein Bordellführer durch Paris. »Das werde ich jetzt wohl nicht mehr brauchen«, sagte der Verurteilte mit melancholischer Stimme, aber Sie, wer weiss, vielleicht kommen Sie auf den Geschmack. Ich habe mir sagen lassen, dass Henker nach besonders grausamen Hinrichtungen ins Bordell gehen, um die Anspannung loszuwerden. Aber Vorsicht, wenn Sie zu oft hingehen, verblassen die Reize! Am Ende braucht es ein ganzes Opernhaus nackter Leiber, damit sich der kleine Mann noch regt. Und falls Sie eines Tages einen Anwalt suchen, an diesem Ort werden Sie einen finden. Hier trifft sich alles, was Rang und Namen hat. Mich wollte leider niemand verteidigen.«

Charles steckte den Führer in sein Wams und bedankte sich mit einem Nicken.

»So ist mein Leben doch nicht sinnlos gewesen«, sagte der Kammerdiener mit einem bitteren Lachen.

»Sie meinen, manchmal hat das Leben einen Sinn? Bitte stehen Sie auf, damit ich Ihnen die Hände binden kann.«

Als Charles dem Kammerdiener zwei Stunden später auf dem Schafott die Schlinge um den Hals legte, flüsterte dieser noch: »Ich war bestückt wie ein Hengst.« Dann öffnete sich unter ihm die Falltür.

Als Charles am Abend nach Hause kam, legte er das Buchgeschenk zu den Raritäten, die bereits sein Vater gesammelt hatte. Er hatte wenig Lust, darin herumzustöbern.

Einige Tage später erhielt Charles eine Vorladung des Gerichts. Die Marquise hatte ihn tatsächlich angeklagt. Sie verlangte, dass Charles-Henri Sanson dazu verurteilt würde, sie mit einem Galgenstrick um den Hals um Verzeihung zu bitten. Weiter verlangte sie, dass er in Zukunft durch seine Kleidung und durch ein Abzeichen an der Brust als Henker erkennbar sein müsse. Die Öffentlichkeit müsse besser geschützt werden.

Nun benötigte Charles in der Tat einen Anwalt, und er entsann sich des Bordellführers, den ihm der Kammerdiener von Versailles geschenkt hatte. Darin hatte er auch notiert, in welchen Bordellen die besten Anwälte von Paris verkehrten. Aber etwas in Charles sträubte sich gegen diese Vorstellung, und er nahm das Büchlein nicht einmal hervor. Er wollte einen seriösen Anwalt und keinen, der sich in solchen Häusern herumtrieb. In seiner Not sprach er beim Abendessen davon. Desmorets meinte, in der Taverne zum Goldenen Fass verkehre ein Anwalt. Der sitze jeden Morgen am hintersten Tisch und trinke Kaffee. Man könne sich einfach zu ihm setzen und sein Anliegen vorbringen.

Am anderen Morgen betrat Charles die Taverne.

»Setzen Sie sich, junger Mann, womit kann ich Ihnen helfen?« Der Mann am hintersten Tisch war in mittlerem Alter. Es musste schon lange her sein, seit er das letzte Mal ein Bad genossen hatte. Er schlürfte seinen dunklen Kaffee und liess dabei Charles nicht aus den Augen. Seine Wangen war tief eingefallen, die Haut faltig und grau. Und der Geruch, der aus seinem Mund entwich, war übel und liess vermuten, dass die Gärungsprozesse in seinem Magen gestört waren.

»Ich suche einen Anwalt«, begann Charles und setzte sich auf die abgewetzte Bank.

»Jaja, das nehme ich an. Also hören Sie mir zu, ich berechne für jede angebrochene halbe Stunde vierzig Sou. Der Kaffee geht auf Ihre Kosten. Können Sie sich das leisten? Haben Sie Arbeit?«

Charles nickte.

»Welche Art Arbeit?«

»Ich bin der Henker von Paris«, sagte Charles ohne Umschweife.

»Nicht weitersprechen«, sagte der Anwalt, »bis hier ist das Gespräch kostenlos. Stehen Sie auf und gehen Sie. Wenn sich herumspricht, dass ich den Henker von Paris verteidige, bin ich meine Kundschaft los.«

»Können Sie mir jemanden empfehlen?«

»Selbst eine Empfehlung kann mich ruinieren. Was glauben Sie eigentlich, was die Kollegen von mir halten, wenn ich sie dem Henker empfehle? Zum Henker mit Ihnen.«

Charles erhob sich und begab sich zur Tür.

»Versuchen Sie es im Château der Madame Gourdan«, rief der Anwalt ihm nach.

Das besagte Château befand sich in der Rue des Deux-Portes. Vermögende Unternehmer trafen sich dort mit einflussreichen Politikern, Anwälte, Journalisten, Adlige, Künstler und Geistliche zählten zum umfangreichen Kundenstamm, und es gab an diesem Ort nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass sich das Volk in Royalisten und Republikaner aufgeteilt hatte. Alle wollten das Gleiche, nämlich das eine. Die Bordelle der Madame Gourdan erstreckten sich über mehrere Häuser. Kein Etablissement auf der Welt war grösser und luxuriöser. Charles besuchte das Hauptbordell, in dessen Vorhalle eine Riesenauswahl an kunstvoll geschnitzten Lustspielzeugen präsentiert wurde. Madame Gourdan führte den weltgrössten Versand sogenannter Godemichés. Zu ihren treusten Kundinnen gehörten die Nonnen und Äbtissinnen der Klöster Europas. Bijoux religieux war der Code für dieses Accessoire.

Marie-Luce, ein sehr leichtbekleidetes Mädchen, führte Charles in einen kleinen Salon, dessen Wände mit erotischen Gobelins geschmückt waren. Die Teppiche waren schwer und dämpften jedes Geräusch. Hier thronte die einflussreichste Bordellbesitzerin Frankreichs. »Monsieur«, sagte sie, »es freut mich, dass Sie uns mit Ihrem Besuch beehren. Wir werden alles tun, um Ihre Wünsche zu befriedigen. Marie-Luce wird Ihnen gleich die Mädchen vorstellen. Und unsere Preise. Wir führen auch Ausgefallenes im Angebot, beispielsweise die satanischen Kammern.« Sie lächelte. »Unser Haus hat einige Regeln: Dazu zählt vor allem Diskretion. Sie werden in den Salons bekannte Persönlichkeiten treffen. Sie bewahren Stillschweigen, so wie auch die anderen Gäste Stillschweigen bewahren. Sie verletzen unsere Mädchen nicht. Anal und Peitschen sind nur mit deren Einverständnis und gegen Aufpreis erlaubt.«

Marie-Luce führte Charles in einen grossen, kreisrunden Saal, der von einer hohen gläsernen Kuppel überdeckt war, durch die man den Sternenhimmel sehen konnte. Im Saal waren kleine Tische mit bequemen roten Sofas kreisförmig angeordnet. Die Tische hatten einen gebührenden Abstand voneinander, so dass man ungestört vertrauliche Gespräche führen konnte. Die Gäste fühlten sich wie zu Hause. Einige trugen seidene Morgenmäntel, andere waren in Strassenkleidung und schienen nur hergekommen zu sein, um Pfeife zu rauchen, Gespräche zu führen und halbnackte Mädchen zu sehen. Die jungen Frauen standen verführerisch entlang eines mit schwarzem Stoff überzogenen Tresens und suchten mit eindeutigen Blicken den Kontakt zu den Gästen. Charles zeigte auf eine Frau in blauer Unterwäsche und gleichfarbenem durchsichtigem Umhang.

»Geniessen Sie Ihren Aufenthalt, Monsieur«, sagte Marie-Luce und übergab ihn der Frau in Blau. Diese führte ihn hinter den Tresen, wo einer Wand entlang zahlreiche schwere Vorhangstoffe in roter Farbe die Eingänge zu den Séparées verhüllten. Die Frau in Blau wählte das letzte Zimmer. Wände und Decke waren mit schönen Spiegeln ausgekleidet. Charles blieb vor einem Spiegel stehen. Es sah so aus, als sei er Teil eines Gemäldes geworden, denn die Spiegel waren mit ornamentierten goldfarbenen Rahmen versehen. Ansonsten war der Raum spärlich eingerichtet. Ein Waschbecken, ein Handtuch, ein Bett, alles goldfarben. Eine Öllampe warf ihr Licht an die Spiegelwände.

»Ich suche einen Anwalt«, sagte Charles.

»Marie-Jeanne, aber nenn mich einfach Jeanne.«

»Ist das dein richtiger Name?«

Marie-Jeanne lachte. Es war ein bezauberndes Lachen. »Marie-Jeanne Bécu, aber hier bin ich Marie-Jeanne.«

Sie war achtzehn, hatte einen grossen Busen und ein rundliches, warmherziges Gesicht. Der Mund war etwas klein und die Lippen zu schmal für dieses volle Gesicht, aber sie war eine der Lieblingskurtisanen von Madame Gourdan.

»Was sind Sie von Beruf, Monsieur? Oder sind Sie reich geboren?«, fragte Marie-Jeanne lachend. »Ich hoffe, hier eines Tages meinen Prinzen zu treffen. Wenn er mich heiratet, spart er eine Menge Geld, das er ansonsten in unserem Etablissement lässt. Und zudem kann ich hervorragend kochen.« Sie löste ihren blauen Umhang und liess ihn über ihre Schultern zu Boden fallen.

»Ich suche einen Anwalt, Mademoiselle. Mehr nicht.«

»Sie haben doch nicht etwa Angst?«

»Nein«, sagte Charles ungeduldig, »aber ich brauche einen Anwalt, der mich vor Gericht vertritt.«

»In der Kuppelhalle sitzen einige. Ich führe Sie hin.« Marie-Jeanne legte ihren Umhang um die Schultern und begleitete Charles wieder in den Saal zurück. »Und mit uns beiden wird es wohl nichts heute Abend?«, sagte sie enttäuscht.

Charles schüttelte freundlich den Kopf. »Nein, Mademoiselle, es tut mir leid.«

»Aber vergessen Sie meinen Namen nicht. Marie-Jeanne!«

»Charles!«, hörte er plötzlich eine Stimme rufen. Ein Mann erhob sich von einem der Sofas im hinteren Teil des Saals. Charles erkannte ihn nicht. Der Mann kam auf ihn zu. Er hielt ein Glas Champagner in der Hand. »Lass dich ansehen, mein Junge.«

»Antoine?«, fragte Charles ungläubig. Er war immer noch schmächtig und sehr hager. Die langen Koteletten liessen das Gesicht noch schmaler erscheinen, die markante Adlernase war noch ausgeprägter. »Antoine Quentin Fouquier de Tinville«, sagte Charles leise.

»Was führt dich zu uns? Ist es so weit, dass ich dir eine warme Suppe offerieren darf?« Antoine lachte und musterte Charles von oben bis unten. »Du bist noch grösser geworden. Und sonst? Bist du Arzt geworden?«

»Nein«, sagte Charles, »und du?«

»Ich bin Anwalt, wie du es mir vorhergesagt hast.« Dann fügte er voller Verachtung hinzu: »Ich habe nicht gerne blutige Hände, Monsieur de Paris.«

»Ich suche einen Anwalt, der mich vor Gericht vertritt.«

»In welcher Sache?«, fragte Antoine und mimte den Interessierten. Er führte Charles zu einem freien Tisch. Sie setzten sich. Charles erzählte ihm die Geschichte mit der Marquise. »Habt ihr es denn getan?« Antoine grinste.

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Charles ernst.

»Ich kenne die Marquise, jeder kennt sie, also habt ihr es zusammen getrieben.« Antoine prustete vor Lachen. »Die Marquise mit dem Henker im Bett, das ist ja ein tolles Ding!«

»Kannst du mich vor Gericht vertreten?«

»Aber sicher. Die Verhandlung findet am nächsten Freitag statt.«

Charles war überrascht. »Woher weisst du das?«

»Wenn du in die richtige Familie hineingeboren wirst, gibt es für dich in Paris keine Geheimnisse. Das lernt man nicht in Rouen, dafür braucht man einen Stammbaum, Charles, altes blaues Blut.«

Charles nickte. Wenigstens hatte er einen Anwalt gefunden, auch wenn ihm Antoine noch unsympathischer war als früher.

»Es ist schon tragisch«, heuchelte Antoine, »da will ein junger, gutaussehender Mann Arzt werden, er hat Talent, er hat Ambitionen, und dann endet er auf dem Schafott.«

»Bist du verheiratet?«, fragte Charles, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

»Noch nicht, aber bald. Ich werde meine Cousine heiraten. Sie ist sehr vermögend. Vermögen zieht Vermögen an. Und sie hat die schönsten Füsse von Paris. Ich stehe auf Füsse, Charles, das erregt mich unheimlich. Und du? Verheiratet?«

»Ich bin nicht verheiratet.«

»Dürfte auch schwierig sein für einen Henker. Aber vielleicht findest du hier eine. Für diese Weiber ist selbst ein Henker noch eine erträgliche Partie, meinst du nicht auch?«

Antoine Quentin Fouquier de Tinville erschien pünktlich im Gerichtssaal. Charles ging sofort auf ihn zu. »Wie sieht es aus?«, flüsterte er.

Antoine strahlte übers ganze Gesicht. »Du wirst verlieren, Charles.« In diesem Augenblick betrat die Marquise mit ihrer Entourage den Gerichtssaal. »Weil ich die Marquise vertrete«, fügte Antoine hinzu. »Bekenne dich schuldig, dann kommst du mit einem blauen Auge davon. Wenn du Widerstand leistest, zerdrücke ich dich wie eine Laus. Dafür werde ich bezahlt, Charles, nichts Persönliches. Ich habe mit der Marquise noch einiges vor. Eine derart streitsüchtige Zicke findet man nicht alle Tage.«

Charles konnte es nicht fassen. Konsterniert starrte er Antoine an.

»Die Welt ist schlecht, Charles. Ich habe am Tag nach unserem Treffen gleich die Marquise besucht und ihr meine Dienste angeboten. Ich meine«, flüsterte er, »meine juristischen Dienste.« Er ging auf die Marquise zu und begrüsste sie mit einer galanten Verbeugung. Gemeinsam nahmen sie in der vordersten Reihe Platz.

Charles war immer noch sprachlos. Er hatte sich ganz auf Antoine verlassen. Er setzte sich und wartete ungeduldig auf die Eröffnung der Verhandlung.

Zwei Treppen führten zu einem langen Tisch, der auf einem hölzernen Podest stand. Dahinter sassen die Richter und ein Schreiber. Sie schienen gelangweilt. Nach einer Weile klopfte der Gerichtspräsident mit seinem Hammer auf die Tischplatte und gab den beiden Soldaten, die neben dem Eingang standen, das Zeichen, die Türen zu schliessen und niemandem mehr Einlass zu gewähren. Die Bänke für die beiden Parteien und das Publikum waren wie in einem Kirchenschiff angeordnet. Links, in der vordersten Sitzreihe, sass die Klägerpartei, die stolze Marquise, ihr Bruder und Antoine. Charles sass rechts, allein. Hinter den Parteien sassen Dutzende von Schaulustigen, die entweder mit der Marquise bekannt waren oder den Henker aus der Nähe sehen wollten. Zum Tatbestand sagte die Marquise nur, dass sie zusammen Tee getrunken hätten. Das Publikum lachte leise.

Charles bestritt den Tatbestand nicht, verschwieg aber, ganz Gentleman, das amouröse Abenteuer. Er hatte sich wieder gefasst. Er bestand darauf, Grundsätzliches über sein Amt vorzutragen, und trat nun vor die Richter. Charles war in der Tat eine imposante Erscheinung, grossgewachsen, stolz, selbstsicher, unerschrocken, und er strahlte Gelassenheit und Ruhe aus. »Warum töte ich?«, fragte er mit lauter Stimme. »Aus persönlichen Motiven? Zum Vergnügen? Nein, Messieurs les juges, ich vollstrecke ein Urteil, das Sie gemäss unseren Gesetzen gefällt haben. Und was würde geschehen, Messieurs, wenn ich Ihre Strafurteile nicht vollstrecken würde? Das Gesetz würde zum Gespött der Gesellschaft, weil niemand da wäre, ihm Genüge zu tun. Ich erlaube mir die Bemerkung, und dies bei allem Respekt, den ich Ihnen schulde, dass die Kriminellen, die Sie verurteilen, nicht Ihren Urteilsspruch fürchten und auch nicht die Tinte, mit der Sie die Urteile schriftlich festhalten, sondern sie fürchten meine Hand, die Hand des Henkers. Und wer, meine Herren, gibt mir das Recht, dieses Amt auszuüben? Seine Majestät, der König höchstpersönlich. Es ist die historische Aufgabe eines jeden Königs, in seinem Reich das Verbrechen zu sühnen und die Unschuld zu schützen. Im Auftrag des Königs vollstrecke ich Ihre Urteile. Ich bin somit ein Beamter des Königreichs. Ja, ich töte, aber im Gegensatz zum Soldaten töte ich keine Soldaten in fremden Uniformen, ich töte Verbrecher, die Sie überführt und gemäss unseren Gesetzen zum Tode verurteilt haben. Während der Soldat den äusseren Frieden zu bewahren hat, bewahre ich den inneren Frieden. Während unser König Hunderttausende von Soldaten braucht, um den äusseren Frieden zu wahren, braucht er nur einen einzigen Menschen, um den inneren Frieden zu wahren: den Henker. Während der Soldat fürs Töten ausgezeichnet wird, werde ich fürs Töten geächtet. Ich bin nicht hergekommen, um mich gegen die absurden Unterstellungen der Madame la Marquise zu verteidigen. Ich bin hier, damit man mir bestätigt, dass ich Beamter der Justiz bin, und zwar im Rang eines Offiziers.«

Ein Raunen erfasste die Richter. Mit grossem Befremden tauschten sie vieldeutige Blicke aus. Es gab Unruhe unter den Zuschauern. Antoine schien irritiert. Auf jeden Fall war ihm sein spöttisches Grinsen vergangen.

»Ich beantrage hiermit, dass es mir, gestützt auf die adlige Herkunft meines Vaters, des Chevaliers Sanson de Longval, gestattet sei, den Adelstitel de Longval fortan in meinem Namen zu tragen, und dass dies auch allen meinen Nachkommen gestattet sei.«

Das Gericht war konsterniert. Sie hatten einen kleinmütigen Henker erwartet, der sich um Kopf und Kragen redet, stattdessen hatten sie einen selbstbewussten jungen Mann vor sich, der nicht hergekommen war, um zu betteln, sondern um zu fordern. Wenn ihn das Schicksal schon gezwungen hatte, Henker zu werden, dann wollte er ein Henker sein, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Zum Schluss rief Charles den Richtern zu: »Wenn Sie mich verurteilen, verurteilen Sie Ihre eigenen Taten.«

»Monsieur Charles-Henri Sanson«, sagte der Gerichtspräsident, »der Saal ist nur für eine Stunde reserviert. Sind Sie fertig mit Ihren Ausführungen?« Er schien genervt.

Charles nickte respektvoll.

»Ihre Ausführungen«, fuhr der Richter fort, »sind nicht Gegenstand der Anklageschrift und deshalb ohne Relevanz.«

»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Ihnen widerspreche, aber Madame la Marquise würde heute nicht hier sitzen, wenn ich Offizier der königlichen Garde wäre. Deshalb sind diese Ausführungen durchaus von Bedeutung.«

Der Richter erwiderte monoton: »Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Die Urteilsverkündung erfolgt in einer halben Stunde. Die Urteilsbegründung folgt schriftlich.« Die Richter erhoben sich und verliessen den Saal.

Charles wurde in allen Anklagepunkten freigesprochen. Die Marquise konnte es nicht fassen. Sie tobte im Gerichtssaal und herrschte Antoine an, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Als Charles den Saal verliess und in die Eingangshalle hinaustrat, stand plötzlich Dominique vor ihm und umarmte ihn stürmisch. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder vor Freude jauchzen sollte. Ihre Augen waren voller Stolz.

»Du bist in Paris?«, fragte Charles erstaunt.

»Natürlich, Charles, ich begleite meinen Mann, er ist geschäftlich hier. Charles, die Menschen im Saal waren so beeindruckt«, flüsterte sie, »sie sprachen voller Bewunderung von dir, wie klug und elegant du deine Worte wählst, wie sicher und gelassen du vor dem Gericht auftrittst und sachlich, aber ohne jede Scheu deinen Standpunkt darlegst. Du hast sie alle überzeugt, Charles.«

Charles drückte seine Schwester fest an sich. In diesem Augenblick trat die Marquise mit ihrem Anwalt in die Halle hinaus. Sie suchte nach Worten, doch Antoine nahm sie am Arm und führte sie sanft, aber bestimmt Richtung Ausgang. Als sie an Charles vorbeigingen, flüsterte Antoine ihm zu: »Das war erst der Anfang, nicht das Ende.«

Nun verliess ein eher kleingewachsener Mann in hellbraunem Frack, teurer Piquéweste und senfgelber Hirschlederhose den Gerichtssaal. Charles erkannte die grelle Aufmachung sofort. Es war Gorsas, der Mann von der Zeitung.

»Brillant«, sagte Gorsas anerkennend und nahm seine Pfeife aus der Tasche. Er klopfte sie an einer der Säulen aus. »Aber Sie kommen hundert Jahre zu früh mit Ihrem Anliegen. Die Zeit ist nicht reif. Eher wird die Todesstrafe abgeschafft, aber das wollen wir mal nicht annehmen. Ihre Frau Gemahlin?«

»Nein«, erwiderte Charles, »das ist meine Schwester Dominique.«

Dominique verneigte sich kurz und ging dabei höflich in die Knie.

»Sie sind ein interessanter Mann, ich habe ein Auge auf Sie«, sagte Gorsas und verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken.

Einige Wochen später gab Charles bei seinem Schneider einen neuen Anzug in Auftrag, diesmal in Königsblau. Als er ihn zum ersten Mal trug und zufrieden im Jardin du Palais Royal promenierte, kreuzte er prompt den Weg der Marquise, die gerade mit einem sehr jungen Mann turtelte. Sie blieb stehen und rief: »Monsieur, Blau ist die Farbe des Adels, und es steht Schauspielern, Juden, Henkern und dem einfachen Gesindel nicht zu, diese zu tragen.«

»Danke«, sagte Charles lächelnd, »ich sollte Sie wohl als Kindermädchen einstellen, dann könnten Sie mir am Morgen bei der Kleiderwahl behilflich sein.«

»Sind Sie mit dem Degen genauso gewandt wie mit Ihrem losen Mundwerk?«

»Ich dachte, Sie wollten sich bei mir für meine Diskretion vor Gericht bedanken, Madame la Marquise. Wir haben schliesslich damals bei Ihnen nicht nur Tee getrunken.«

Ihr Gesicht wurde rot vor Zorn. Sie nahm den Arm ihres Begleiters und gab ihm einen derartigen Ruck, dass er verstand, dass er weiterzugehen hatte. »Soll ich ihn zum Duell auffordern?«, fragte der Junge mit bebender Stimme.

»Im Bett sind Sie nützlicher, Monsieur«, flüsterte sie, aber so, dass es Charles hören konnte.

Charles hatte wieder Zeit, über seine Zukunft nachzudenken. Er beschloss, endlich wieder das Jesuitenkloster zu besuchen. Er musste es tun. Es war ein innerer Zwang. Pater Gerbillon empfing ihn jovial und freundlich und führte ihn gleich in die Pharmacie. Dort waren einige Siamesinnen damit beschäftigt, getrocknete Kräuter im Mörser zu zerstampfen. Charles entdeckte Dan-Mali auf Anhieb, er war ausser sich vor Freude. Pater Gerbillon nahm es mit einem Schmunzeln zur Kenntnis und sagte, er sei gleich wieder zurück. Charles fasste sich ein Herz und ging auf Dan-Mali zu. Sie lächelte und senkte zur Begrüssung den Kopf respektvoll über den aneinandergelegten Händen. Dann standen sie sich einfach gegenüber und schauten sich an. Obwohl sie kein einziges Wort sprachen, kam es Charles so vor, als würden sie sich gegenseitig mit einem Redeschwall übergiessen.

Nach einer Weile sagte sie, dass sie seit ihrer Rückkehr fleissig Französisch lerne. Er würde ihr gerne dabei behilflich sein, erwiderte er freudig. Wenn sie jemanden zum Reden habe, würde sie viel leichter lernen. Sie nickte eifrig. Offenbar hatte sie alles verstanden. Dann blickte sie über seine Schulter, und ihr Lächeln gefror. Pater Gerbillon war zurück. Er zeigte nun Charles die neuen Gewürze aus Siam, doch Charles hatte nur Augen für Dan-Mali.

»Was glauben Sie, Pater Gerbillon, wäre es eine gute Idee, wenn ich einmal pro Woche mit Dan-Mali Französisch üben würde?«

Pater Gerbillon zögerte. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte er schliesslich.

Einige Tage später traf ein Schreiben des Gerichts ein. Charles erwartete ein Vollstreckungsurteil, doch es war eine Vorladung für eine erneute Gerichtsverhandlung, die von der Marquise angestrengt worden war. Antoine hatte recht gehabt. Die gelangweilte Dame, die ihren Tag in Vergnügungsparks vertrödelte, würde ewig weiterprozessieren. Sie hatte genug Zeit und Geld.

Rechtzeitig liess sich Charles einen weiteren Anzug aus grünem Stoff schneidern und erschien in dieser Aufmachung vor Gericht. Antoine kam gleich auf ihn zu. »Daraus wird noch eine Freundschaft«, scherzte er, »aber sag mal, Charles, die Marquise sagte, du trägst Blau. Hat sie Mühe mit den Farben?«

»Es gibt Leute, die Rot nicht von Grün unterscheiden können. Die sind farbenblind. Aber dass man Blau nicht von Grün unterscheiden kann, das wäre mir neu.«

»Und das wüsstest du natürlich«, sagte Antoine mit ernster Miene, »du bist nämlich gescheiter als ich.« Dann klopfte er Charles gönnerhaft auf die Schulter. »Ich bin dir nicht böse, Charles, dank dir habe ich eine neue Klientin. Sie ist vermögend und maliziös, und sie braucht jeden Tag juristische Beratung. Weisst du, mit der Zeit entsteht so eine Art Beziehung zwischen Anwalt und Klientin. Die Marquise kniet sich in eine Materie rein und beginnt dann, ihre Freundinnen zu beraten. Und dafür braucht sie immer mich. Und das verdanke ich dir, Charles. Ach, übrigens: Lass mich heute gewinnen, sonst krieg ich sie nach der Verhandlung nicht ins Bett.« Er lachte lauthals. Es war kein spontanes Lachen, eher verkrampft und niederträchtig.

Die Marquise betrat den Saal und ging sofort auf Antoine zu, ohne Charles eines Blickes zu würdigen.

Der Gerichtspräsident gähnte bereits vor der Eröffnung der Verhandlung. Mit monotoner Stimme verlas er die Beschwerde der Marquise und bat anschliessend Charles um eine kurze Stellungnahme. Charles erklärte dem Gericht, dass er adliger Herkunft sei, dass sein Vater der Chevalier Sanson de Longval sei und dass das Amt des Scharfrichters wohl kaum den Verlust dieses Adeltitels nach sich ziehen könne. Also dürfe er Blau tragen. Er erklärte ferner, dass er unabhängig vom Urteil kein Blau mehr tragen wolle, da es nicht zu seiner Gesichtsfarbe passe. Das löste im Publikum tumultartiges Gelächter aus. Viel Adel war anwesend, darunter auch der Marquis de Létorières, der sich vorzüglich zu amüsieren schien. Mit einem Lächeln drehte sich Charles zum Publikum, doch es gefror sofort, als er in der dritten Sitzreihe Pater Gerbillon entdeckte. Nun bestand kein Zweifel mehr daran, dass der Jesuitenpater wusste, dass Charles Monsieur de Paris war. Und wenn er es wusste, wusste es das ganze Kloster. Nie im Leben würde Gerbillon Charles in die Geheimnisse der Pharmazie einweihen. Nie im Leben würde er erlauben, dass der Henker von Paris Dan-Mali Französischunterricht erteilte. Das Gericht erklärte die Klage wegen Nichtigkeit für abgewiesen. Für Charles war es ein Pyrrhussieg.

Pater Gerbillon wartete am Ausgang auf Charles. »Ich dachte, du hattest den Beruf deines Vaters gehasst und wolltest Arzt werden«, sagte er sichtlich enttäuscht.

»Das will ich immer noch«, erwiderte Charles trotzig, »aber ich musste es tun. Man zwang mich dazu. Ich wollte es nicht.«

Der Pater nickte nachdenklich. Schliesslich fasste er ihn an beiden Schultern. »Du stehst abseits der Gesellschaft, Charles, das wird kein einfaches Leben.«

»Ich werde Sie nie mehr belästigen«, sagte Charles.

Pater Gerbillon lächelte versöhnlich. »Auch ich stehe abseits der Gesellschaft. Wie sollte ich dich also verurteilen?«

»Ein Jesuitenpater steht doch nicht abseits der Gesellschaft.«

»Manchmal eben doch.«

»Darf ich Sie noch besuchen?«

»Du meinst, ob du Dan-Mali noch besuchen darfst?«

Charles fuhr sich verlegen mit den Fingern durchs Haar, als hätte man ihn gerade beim Lügen erwischt.

»Vielleicht ist es besser, wenn du eine Weile nicht kommst«, sagte der Pater, »du bist jetzt bekannt wie ein bunter Hund. Und wir kehren bald nach Siam zurück. Diese zweite Auseinandersetzung wäre nicht nötig gewesen, Charles, du trägst ja neuerdings eh Grün. Man sollte wissen, wann es genug ist.«

Kurz darauf liess sich der Marquis de Létorières in einem identischen grünen Anzug in der Öffentlichkeit blicken, und bald schon nannte man diese Kreation mode à la Sanson, und Hunderte, ja Tausende von Pariser Männern liessen sich grüne Anzüge schneidern, als wollten sie kundtun: Wir alle sind wie Charles-Henri Sanson. Wir vollstrecken mit ihm. Er ist einer von uns. Wir sind Charles-Henri Sanson. Aber in Wirklichkeit war es nichts von alledem. Es war bloss ein modischer Spleen der gelangweilten saturierten Oberschicht, und vielleicht wollten einige adlige Sprösslinge ihre Verwandten schockieren, aber niemand wollte allen Ernstes ein Sanson sein.

Charles wollte Pater Gerbillons Aussage überprüfen und wartete geduldig auf der Strasse vor dem Collège Louis-le-Grand. Als die Turmuhr fünf schlug, strömten die Schülerinnen und Schüler aus dem Gebäude. Die Siamesinnen waren nicht zu übersehen. Sie waren wesentlich kleiner als ihre Mitschülerinnen und stets beisammen. Dan-Mali führte die kleine Gruppe an. Als sie Charles sah, lief sie sofort auf ihn zu. Doch plötzlich schien es ihr peinlich, dass sie ihre Gefühle derart offen gezeigt hatte, und sie verlangsamte ihren Schritt. Ihre Freundinnen warteten.

»Ich wollte dich wiedersehen«, sagte Charles.

Dan-Mali strahlte übers ganze Gesicht.

»Seit ich dich damals das erste Mal gesehen habe …« Charles suchte nach Worten. »Ich möchte dich öfter sehen, jeden Tag.«

Dan-Mali nickte und berührte zaghaft seinen Arm. »Ich muss zu meinem König zurück. Nach Siam.«

»Du sprichst unsere Sprache schon ganz gut.«

»Sprache ist wie Musik. Wenn man die Töne kennt, kann man sprechen.«

»Du könntest bei mir bleiben. Bei mir wohnen.«

»Vielleicht in einem anderen Leben.«

Charles rang nach Worten. Die wartenden Siamesinnen kicherten.

Dan-Mali schüttelte den Kopf. »Ich gehöre Pater Gerbillon. Ich habe es Mutter versprochen. Der Pater hilft meiner Familie in Siam. Ich bin dankbar. Ich bin immer da für Pater Gerbillon. Ohne mich hat meine Familie Hunger. Meine Familie braucht mich. Buddha sieht alles. Buddha weiss alles.«

»Ist Buddha ein guter Gott?«, fragte Charles.

Dan-Mali kreuzte die Arme vor der Brust und senkte ehrfürchtig den Kopf. »Buddha hat viele Gesichter.«

»Verflucht er manchmal Menschen?«

»Buddha kann bestrafen. Wenn du Schlechtes tust.«

»Verflucht er dich? Belegt er Menschen ein Leben lang mit einem Fluch?«

»Buddha kann Menschen ein ganzes Leben lang bestrafen.« Dan-Mali machte Anstalten, zu ihren Freundinnen zurückzukehren.

»Warte«, rief Charles, »wann können wir uns wiedersehen?«

»In einem anderen Leben. Ich gehe nach Siam.«

»Dann werden wir uns nie mehr sehen?«

Dan-Mali schüttelte heftig den Kopf. Sie schien verzweifelt. Dann lief sie in Richtung Jesuitenkloster davon. Ihre Freundinnen holten sie ein und begannen sie zu trösten. Sie blickte nicht zurück.

Charles brauchte niemanden, der ihn tröstete. Mehrfach hatte er schon erfahren müssen, dass das Leben hart war und das Schicksal kein Erbarmen kannte. Es nährt das Leben vom Leide sich. Er wusste nicht mehr, wo er den Satz gelesen hatte. Aber in diesem Augenblick kam er ihm in den Sinn. Mag sein, dass es in Paris Menschen gab, die heiter und unbeschwert durchs Leben gingen, aber das war nicht das normale Leben. Das Leben war voller Entbehrungen, geplatzter Träume und blutender Seelen.

Charles brauchte Monate, um darüber hinwegzukommen. Je mehr er sich damit abfinden wollte, dass ein Leben mit Dan-Mali nicht möglich war, desto mehr sehnte er sich danach. Er quälte sich. Doch irgendwann, nach zahllosen schlaflosen Nächten, überwog die Einsicht, dass es kein Leben mit ihr geben würde. Er tröstete sich damit, dass die kulturellen Unterschiede zu gross gewesen wären. Gleichzeitig wusste er, dass er sie liebte, wie er noch nie jemanden geliebt hatte. Sie war nach seiner frühverstorbenen Mutter der erste Mensch, dem er sich bedingungslos hingegeben hätte. Für Dan-Mali hätte er sein Leben gegeben.

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