Während die Postkutsche über die staubige Landstrasse holperte, spürte Charles erneut diese unendliche Traurigkeit in sich hochsteigen. Das war die Krankheit der Sansons, ein Teil der Erbsünde. Zuerst wurden sie traurig und schwermütig, später erlitten sie Hirnschläge und wurden gelähmt. Und blieben am Leben, um zu leiden.
Von weitem sah Charles die graue Dunstglocke, die über Paris hing. Dutzende von Kirchtürmen ragten aus der düsteren Dreckwolke heraus, die Hunderttausende von Herdöfen in den Himmel pufften. Doch die monumentalen gotischen Türme der Kathedrale Notre-Dame überragten die weit über hundert Kirchtürme wie ein Papst seine Kardinäle.
Je mehr er sich der Stadt näherte, desto gewaltiger wurde diese Beklommenheit, die Charles die Kehle zuschnürte. Er hasste Paris. Leiden hatte er geliebt. Leiden war die Stadt der Kultur und der Wissenschaft. Rembrandt hatte dort gelebt, aber auch Antoni van Leeuwenhoek, der Entdecker des Bakteriums. Die offene, unkomplizierte Art der Holländer war ihm von Beginn weg sympathischer gewesen als die etwas rüde und eingebildete Art der Pariser. Er hasste Paris aber auch, weil es die Stadt seiner Grossmutter, Marthe Dubut, war, die wie diese grausamen, in Stein gehauenen Dämonen an der Balustrade von Notre-Dame darüber wachte, dass der Fluch, der auf der Sanson-Dynastie lastete, von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ihr Ehrgeiz sollte der Ehrgeiz aller Sanson-Kinder sein. Sie hatte die Hoheit über die Gedanken übernommen. Sie allein wusste, was richtig oder falsch war, obwohl sie noch nie ein Buch gelesen oder sich eine abweichende Meinung bis zuletzt angehört hatte. Das ist die Tragik der Menschen, die stets alles zu wissen glauben, dachte Charles. Sie ahnen nicht, wie wenig sie wissen.
Eines Märzmorgens im Jahre 1757 passierte die Postkutsche die Zollmauer der Stadt Paris und hielt im Handelshof dahinter an, inmitten von Hunderten von Tagelöhnern, Kriegsinvaliden, verarmten Bauern und abgemagerten Landmädchen. Sie suchten nicht ihr Glück in Paris, denn sie wussten, dass Leute wie sie kein Glück haben. Sie suchten dem Elend auf dem Land zu entkommen. Sie alle wurden von den sichtlich übermüdeten Soldaten rüde und lautstark zurechtgewiesen und wie Vieh sortiert und vorangetrieben. In diesen Zollhöfen kreuzten sich Kutschen aus allen Teilen Europas, und man tauschte Nachrichten und Gerüchte aus. An diesem Tag sprachen alle von Robert-François Damiens, der angeblich den König, Louis XV, mit einem Messer verletzt hatte. Eine für alle unfassbare Tat. Wie konnte es jemand wagen, königliches Blut zu vergiessen? Stand der König Gott nicht am nächsten?
Wer nach Paris wollte, musste eins der vierundfünfzig Zolltore passieren und sich von den Soldaten peinlich genau befragen und durchsuchen lassen. Zahlreiche Händler warteten vor ihren Kutschen, Karren und Fuhrwerken ungeduldig auf die Abfertigung ihrer Waren durch die Gehilfen der Steuerpächter. Diese hatten dem König das Amt abgekauft und setzten nun nach Gutdünken die Einfuhrsteuern fest. Die Steuerpächter erhöhten die Abgaben ohne Scham und trieben dadurch die Nahrungsmittelpreise derart in die Höhe, dass ein Tagelöhner bereits die Hälfte seines Lohnes opfern musste, um einen einzigen Laib Brot zu erwerben. Für die Armen bedeutete eine Verdoppelung der Nahrungsmittelpreise das Ende, für einen Adligen, der eh keine Steuern bezahlte, spielte es keine Rolle. Er hatte immer genug.
Es mochte Leute geben, die die grösste Stadt Europas schön fanden, dachte Charles. Doch wenn man kein Geld hatte und hungerte, war jede Stadt hässlich.
Nach fast einer Stunde Wartezeit konnten Charles und die übrigen Fahrgäste die Fahrt über die Champs-Elysées fortsetzen. Die Allee hatte sich nun zur Avenue der vermögenden Adligen gemausert, die sich herrschaftliche Stadthäuser mit pittoresken Parkanlagen errichten liessen. Die Postkutsche hielt beim Tuilerienpalast, dem königlichen Stadtschloss. Von hier aus war es noch ein gutes Stück zu Fuss bis in die Rue d’Enfer.
Charles wollte nicht zurück. Alles in seinem Innern sträubte sich. Er hätte schreien können, aber er blieb stumm. Ratlos stand er nun vor dem Schloss und überlegte, wie er vorzugehen habe. Einige Soldaten verscheuchten eine Ansammlung von Tagelöhnern und gaben Charles ein Zeichen, ebenfalls zu verschwinden. Er spazierte zur Seine und trödelte dann dem Ufer entlang Richtung Bastille. Er konnte es wenden, wie er wollte: Er hatte zu seiner Familie zurückzukehren. Auf sich allein gestellt, hätte er gar nicht das Geld gehabt, sein Medizinstudium in Leiden fortzuführen. Ohne Familie war er nichts. Wie ein Fisch ohne Wasser. Wie ein Wolf ohne Rudel. Die Blutsbande waren das Einzige, was Bestand hatte, was Sicherheit bot. Und wer die Autorität des Leitwolfes nicht respektierte, zog sich den Zorn des ganzen Rudels zu. Wütend und widerwillig entschloss sich Charles, den Tatsachen ins Auge zu blicken und in die Rue d’Enfer zurückzukehren. Wie von unsichtbarer Hand getrieben, schritt er vorwärts, und er fragte sich, ob es überhaupt einen freien Willen gab oder ob er lediglich getrieben wurde von Kräften, die er nicht verstand, und Pläne erfüllte, die ihm nicht bekannt waren. Charles verlor sich allmählich in den verwinkelten Gassen. Das Pflaster war so stark mit eingetrocknetem Schlamm und Dreck überzogen, dass man an schattigen Orten bis zu den Knöcheln darin versank. Streunende Hunde und Katzen stritten sich um die blutigen Abfälle der Schlachthöfe, die man einfach auf die Strasse hinausschmiss. Händler trieben ihre störrischen Tiere mit Hieben in Richtung Les Halles, während Dungsammler die mit Stroh und Abfällen vermischten Kothaufen einsammelten und auf ihre Esel luden. Dafür brauchten sie eine Bewilligung, die sie in den Zollhöfen einzulösen hatten. Paris verkaufte selbst seine Scheisse. Paris hatte sich verändert. Paris war gereizt, müde und ohne Hoffnung. Zehntausende von Menschen waren in den engen Gassen unterwegs und kämpften sich durch die verzweifelten Gestalten, die irgendwo Arbeit für den Tag suchten, um ein Stück Brot zu kaufen. Keiner hatte Erbarmen mit dem anderen. Das eigene Schicksal war schwer genug. Ohne Mitgefühl trat man auf die verkrüppelten Beine der Bettler am Strassenrand. Ungerührt hetzte man an Kirchenstufen vorbei, auf denen ausgesetzte Neugeborene lagen, die schrien, hilflos mit den Armen ruderten und von Strassenkötern, die keine Scheu mehr kannten, beschnuppert und geleckt wurden. An den Wänden hingen Plakate, die Louis XV und seine Mätresse, Madame de Pompadour, verspotteten.
Der Königsattentäter Robert-François Damiens war das beherrschende Thema auf allen Strassen und Plätzen. Die Menschen sagten, er habe den König dafür bestrafen wollen, dass das Volk Hunger leide. Und sie stellten die Frage, ob es möglich sei, König eines hungernden Volkes zu sein, ohne es zu verachten. Es wurde erzählt, Damiens habe sich tagelang in den Gärten von Versailles versteckt. Als die Nacht hereinbrach, sei er unter das Gewölbe einer Treppe gekrochen und habe auf die Ankunft des Königs gewartet. Als Louis XV mit seiner Entourage die Treppe hinunterstieg, sei er aus seinem Versteck hervorgesprungen, habe sich zwischen den Musketieren hindurchgeschlängelt und den König mit seinem Dolch leicht verletzt. Einige behaupten, Robert-François Damiens habe geschrien: »Für die Freiheit!«, andere behaupteten, er habe gebrüllt: »Im Namen des Volkes!«, aber keiner wusste es so genau, denn keiner von denen, die das erzählten, war dabei gewesen. Seitdem waren Wochen vergangen, und Robert-François Damiens wurde in einem Pariser Verlies täglich befragt und der Folter unterworfen.
Jean-Baptiste Sanson sass regungslos in einem Fauteuil neben dem Ofen und starrte seinen Sohn ungläubig an. Er war seit einigen Wochen halbseitig gelähmt. Charles hatte es gewagt, seinem Vater nein zu sagen. Grossmutter Dubut stand majestätisch hinter ihrem gelähmten Sohn und fixierte ihren Enkel mit stechendem Blick. Sie erwartete mit sichtbarer Ungeduld, dass er widerrief. Aber er schwieg. Charles’ Lieblingsschwester Dominique sass auf der Ofenbank und hielt den Blick gesenkt, wie sie es immer tat, wenn Ärger in der Luft lag. Seine anderen Geschwister musterten ihn mit gemischten Gefühlen. Einige sassen auf den dicken Holzdielen und lehnten sich gegen die warmen braunen Ofenkacheln. Die tiefhängende Holzdecke wurde von mächtigen Balken getragen. Daran hingen feuchte Wäschestücke zum Trocknen. Charles’ drei Schwestern freuten sich, dass ihr ältester Bruder zurückgekehrt war, doch seine vier Brüder nahmen es ihm übel, dass er den Unmut des Vaters und der Grossmutter auf sich gezogen hatte.
»Das wäre ein schwerer Verrat«, sagte Grossmutter Dubut nach einer Weile. Charles schwieg immer noch. »Ist es denn nicht genug«, fuhr sie fort, »dass wir von der Gesellschaft geächtet und gehasst werden? Muss sich jetzt noch unser eigen Blut von uns abwenden?«
Charles wagte kaum noch, seinem Vater in die Augen zu blicken, der in seinem abgewetzten Polstersessel ein jämmerliches Bild abgab. Er wirkte völlig hilflos. Charles liess seinen Blick über die Jagdmotive auf dem braunen Stoffüberzug des Fauteuils schweifen. Als kleiner Junge hatte er die Hirsche gezählt, die Hunde und die berittenen Jäger. Dem Mann mit dem Jagdhorn fehlte der Kopf. Dort klaffte ein Loch. »Habe ich denn nicht genügend Brüder?«, hörte sich Charles fragen. Er fühlte, dass seine Stimme versagte. Er schämte sich. Aber wenn er jetzt klein beigab, würde er sein Leben lang dafür büssen müssen. Er musste standhaft bleiben. Zwei seiner Brüder reckten mit Stolz den Kopf, denn sie hätten alles gegeben, um das Schwert der Gerechtigkeit führen zu dürfen. Doch sie waren zu jung, um zu verstehen, was das Amt wirklich bedeutete. Sie hatten noch nie gesehen, wie ein Kopf vom Rumpf getrennt wurde und das Blut in einer Fontäne herausspritzte.
»Du bist der Älteste«, sagte Grossmutter Dubut knapp, »und im Übrigen gibt es in Frankreich genügend Städte für deine Brüder. Sie werden die Töchter von Henkern heiraten und wiederum Henker zeugen. Sie haben gar keine andere Wahl.«
»O doch«, widersprach Charles, »Tante Brigitte heiratete einen Musiker.«
»Tante Brigitte«, sagte Grossmutter Dubut mit Bitterkeit in der Stimme, »du weisst, was aus ihren Söhnen geworden ist? Sie wurden beide Henker. Das ist das Erbe der Sansons. Es ist kein Fluch, Charles, es ist einfach die Bestimmung.«
»Aber ich liebe die Musik mehr als das Aufklappen der Falltür unter dem Galgen. Ich will Arzt werden und abends Klavier spielen. So stelle ich mir mein Leben vor.«
»Was haben diese Holländer in Leiden bloss aus dir gemacht? Du entwirfst dein Leben? Was sind das für neue Ideen? Was bist du doch für ein unverschämter Bengel geworden! Du willst selber über dein Schicksal entscheiden? Gott entscheidet über dein Schicksal und entwirft dein Leben, und du hast dich zu fügen. Die Pflichterfüllung bestimmt deinen Weg. Und es gibt keine grössere Pflicht als die, der Familie zu gehorchen und zu dienen.«
»Ich will nicht«, sagte Charles, »ich kann nicht.«
Die Blicke der Familienmitglieder lasteten so schwer und vorwurfsvoll auf ihm, dass seine Knie bebten. Er spürte nicht nur den Druck seiner Grossmutter und all seiner Geschwister, er spürte den Druck all seiner Onkel und Tanten, die in Orléans, Tours, Dijon, Nantes und Cherbourg wohnten und regelmässig zu Weihnachten und Ostern zu den grossen Familientreffen nach Paris kamen. Er spürte den Druck all seiner Cousinen und Cousins, die das Gesetz der Familie nie in Frage stellten. Dieses Gesetz des bedingungslosen familiären Gehorsams war stärker als die Macht der Kirche oder gar der Krone. Denn es war die Familie, die ihre Mitglieder beschützte, es waren nicht die Musketiere des Königs.
»Tritt näher zu mir«, sagte Jean-Baptiste mit ernster Stimme und versuchte krampfhaft, beide Arme zu heben, um seinen Sohn zu umarmen. Doch es gelang ihm nicht. Dominique wollte ihm mit dem Taschentuch, das sie stets bei sich trug, den Speichel aus dem rechten Mundwinkel wischen, doch Grossmutter Dubut kam ihr zuvor und fuhr dem Gelähmten mit einer groben Handbewegung über den Mund. Dann streifte sie den Geifer an seinem Oberarm ab und liess ihre Hand dort ruhen, als wollte sie damit demonstrieren, dass dieser Mensch ihr allein gehörte.
»Ich dachte anfangs wie du«, sagte Jean-Baptiste mit schleppender Stimme, »ich dachte, die Aufgabe sei zu schwer für mich. Und das viele Blut …«
»Das Blut macht mir nichts aus«, sagte Charles, »ein Arzt muss den Anblick von Blut ertragen können.«
»Was ist denn dein Problem?«, schimpfte Grossmutter Dubut. »Dann bist du ja geradezu prädestiniert für den Henkerberuf.«
Jean-Baptiste bewegte unwirsch die linke Hand, um Grossmutter Dubut zum Schweigen zu bringen. Sein Gesicht lief rot an. Er versuchte, den Kopf zu drehen.
»Ich bin ja schon still«, sagte Grossmutter Dubut und fuhr mit ihrer Hand ein paarmal über seine Schulter.
»Charles«, sagte der kranke Mann mit beinahe zärtlicher Stimme, »auch ich fürchtete mich davor. Ich floh in die Neue Welt, um dem Schicksal zu entkommen. Doch es holte mich ein und brachte mich auf ein verwunschenes Gehöft. Dort lernte ich deine Mutter kennen. Ihr Vater, Meister Jouenne, instruierte mich sehr genau und half mir, das Unmögliche zu schaffen. Und ich darf sagen: Ich tat es mit Stolz und zur Zufriedenheit der Justiz. Und wenn mich diese verfluchte Krankheit …« Jean-Baptiste wollte erneut eine heftige Bewegung machen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Grossmutter Dubut warf Charles einen bösen Blick zu, als trüge er die Schuld an diesem Elend.
»Ich möchte Arzt werden«, erwiderte Charles. Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm, seiner gesamten Familie zu trotzen. »Ich möchte die Menschen heilen, Vater, nicht erwürgen, hängen, foltern, köpfen, vierteilen. Ich will heilen, nicht töten.«
»Auch der Henker ist ein Arzt«, sagte Jean-Baptiste, »er schneidet die kranken Teile unserer Gesellschaft ab. Er kuriert unsere Gesellschaft und macht sie gesund. Im Auftrag der Justiz. Im Auftrag des Königs.«
Charles suchte fieberhaft nach einer Entgegnung, aber ihm fehlten angesichts der Argumente seines Vaters die Worte. Er begriff, dass sein Vater nicht mit sich handeln liess. Er wollte ihn überzeugen. Er wollte nicht debattieren.
»Charles«, fuhr Jean-Baptiste fort, »es gibt nur zwei erbliche Ämter in diesem Königreich. Das des Herrschers und das des Henkers. An das Blut wirst du dich gewöhnen. Und wenn du es nicht aus Überzeugung tust, dann tu es deiner Familie zuliebe. Schau uns an, Charles, mich, deinen Vater, deine Grossmutter und all deine Geschwister. Wenn du das Amt ablehnst, stürzt du uns alle in Armut und Hunger. Denn einem Sanson bleibt die Welt bis ins letzte Glied verschlossen. Wir haben gar keine Wahl, Charles. Unsere ganze Hoffnung, unsere Zukunft liegt in deinen Händen. Deine Brüder sind noch zu jung, um das Amt anzutreten. Du bist der Älteste. Versuch es doch wenigstens!«
Grossmutter Dubut trieb es die Zornesröte ins Gesicht. Beherrscht, aber zunehmend wütend über ihren Enkel, hatte sie ihren Sohn sprechen lassen. »Da draussen hungern die Menschen und sterben wie die Fliegen«, stiess sie nun vorwurfsvoll hervor, »und wenn einer Arbeit hat, kriegt er dafür dreihundert Livre im Jahr – falls er so lange Arbeit hat. Dreihundert Livre! Aber das Amt des Henkers bringt zehntausend Livre im Jahr. Zehntausend! Weil es ein besonderes Amt ist. Weil nicht jeder in der Lage ist, es auszuführen. Wenn du dieses Amt ablehnst, werden morgen die Henker aus der Provinz ihre Bewerbungen einreichen. Jeder will Monsieur de Paris werden.«
»Nur du nicht!«, schrie einer seiner Brüder vorwurfsvoll, und die anderen Geschwister stimmten in diesen Chor der Zornigen ein. Nur Dominique schwieg. Sie hielt stets zu Charles.
»Ich kann nicht, Grossmutter. Ich kann niemandem Schmerzen zufügen …«
Plötzlich herrschte eine bedrückende Stille. Jean-Baptiste wurde unruhig. Besorgt legte Grossmutter Dubut beide Hände auf seine Schultern und atmete tief durch. Er gab seiner Mutter ein Zeichen stillzuhalten. Dann wandte er sich erneut an seinen Sohn: »Charles, das Leben hat es nicht immer gut gemeint mit uns. Wir haben vieles gemeinsam ertragen. Umso mehr wollte ich deinen Wunsch, Arzt zu werden, respektieren. Ich habe dich nach Rouen geschickt, dann an die Universität Leiden. Das war nicht ganz billig. Wir alle haben uns das Schulgeld vom Essen abgespart. Aber nun hat Gott anders entschieden. Das war nicht unser Wunsch, Charles, es ist nicht unsere Schuld. Wovon sollen wir denn jetzt leben?«
Totenstille im Raum.
»Die Drecksarbeit werden meine Knechte verrichten«, fuhr Jean-Baptiste nach einer Weile fort. Seine Stimme klang nun härter, entschlossener. Er sprach so, als hätte Charles längst eingewilligt. »Du wirst kein Blut sehen, Charles, du wirst kein Schafott besteigen. Du wirst am unteren Ende der Treppe zum Schafott stehen und mit deiner Anwesenheit die Rechtmässigkeit der Vollstreckung der Urteile bezeugen. Ist das zu viel verlangt?« Den letzten Satz schrie er hinaus, und sein Mund verzerrte sich zu einer Fratze. Wieder wollte ihm Dominique diskret den Speichel vom Kinn wischen, doch Grossmutter Dubut kam ihr erneut zuvor und sagte rasch: »Ich habe bereits mit Meister Prudhomme gesprochen, er ist ein Meister seines Fachs. Er wird an deiner statt die Arbeit verrichten. Bis du ein Mann bist.«
»Bis einer meiner Brüder alt genug ist?«, fragte Charles misstrauisch.
»Monsieur de Paris«, flüsterte Jean-Baptiste. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann verzerrten sich seine Züge erneut, und Speichel rann aus einem Mundwinkel. Dominique erhob sich. Sie hatte bis dahin geschwiegen. Sie ging langsam auf Charles zu und nahm ihn zärtlich in den Arm. Sehr zum Missfallen von Grossmutter Dubut. Dominique fuhr Charles sanft über den Rücken. Er liebte seine Schwester über alles. Selbst in Leiden sehnte er sich danach, an ihre warme Brust gedrückt zu werden und den Duft ihres Körpers einzuatmen. Sie erinnerte ihn an seine Mutter.
»Mein lieber Charles«, sagte sie mit zärtlicher Stimme, »das Amt erhältst du direkt vom König. Vom König persönlich. Deinen Lohn erhältst du vom Kanzler. In der Armee erhalten nur die besten Offiziere diese Gunst. Charles, es ist eine grosse Ehre, dieses Amt in so jungen Jahren ausüben zu dürfen. Und ich verspreche dir, jetzt, da du wieder bei uns wohnt, werden wir jeden Abend zusammen Klavier spielen. Du hast Talent für die Musik. Sie wird dich immer begleiten. Du wirst sie brauchen, wenn du abends nach getaner Arbeit nach Hause kommst.«
Charles schaute seine Schwester flehend an, doch ihr Lächeln liess seinen ganzen Widerstand zusammenbrechen. Er liebte sie einfach zu sehr. Sie war noch so jung und doch schon so klug und belesen, er hätte ihr den ganzen Tag zuhören können. Wenn er in Rouen oder Leiden nachts wach gelegen hatte, hatte er die Klavierstücke gehört, die sie ihm beigebracht hatte. Seine Vorstellungskraft war so stark, dass er glaubte, sie sitze mit dem Klavier an seinem Bett und spiele nur für ihn. Charles fragte sich manchmal, ob andere Menschen in ihren Köpfen auch Bilder und Melodien erzeugen konnten, die so real waren, dass man sie kaum als Phantastereien abtun konnte. Aber das war keine besonders schöne Gabe der Natur, denn auch schreckliche Visionen blähten sich in Gedanken zu furchterregenden Monstern auf. Charles wusste, dass das die Krankheit der Sansons war. Der Feind im eigenen Kopf.
»Du bist ein Sanson«, krähte Grossmutter Dubut. Nach der melodiösen, warmen Stimme Dominiques klang ihre Stimme tatsächlich wie das Krächzen eines Dämons. »Die Sansons sind stark, weil sie stark sein müssen«, sagte sie bitter. »Und sie heissen Sanson, weil sie schweigend ihre Pflicht erfüllen. Sans son. Ohne Ton.«
Alles, wofür Charles bisher gelebt hatte, zerrann in diesem Augenblick vor seinen Augen. Die Trommelwirbel am Fusse des Schafotts sollten fortan die Lehre vom Bakterium und von den Blutkreisläufen ersetzen. Und das Schreien und Flehen der Verurteilten sollte Vivaldis Stravaganza übertönen. Seine Geschwister stürmten auf ihn zu und umarmten ihn freudestrahlend. Es war ihm nicht bewusst, dass er genickt hatte. Die Zuneigung seiner Geschwister rührte ihn, ihr Enthusiasmus, ihre Begeisterung schmeichelten ihm. Das war seine Familie. Er war wieder zu Hause. Da stand er nun, Charles-Henri Sanson, der Vierte der Dynastie, aufrecht wie ein Herkules, alle an Körpergrösse weit überragend, imposant und doch erbärmlich hilflos wie ein kleines Kind.
In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages fanden sich Grossmutter Dubut und Charles vor den gusseisernen Toren der Pariser Polizeimagistratur ein und warteten auf Einlass. Gegen neun Uhr liess der Generalprokurator sie von einem älteren Mann in blauer Livree hereinbitten. Sie stiegen die breiten Steintreppen zum zweiten Stockwerk hinauf und betraten dort das Arbeitszimmer des Generalprokurators. Er war ein freundlicher älterer Herr mit breiten, borstigen Koteletten, die angegraut waren. Er trug einen schwarzen Anzug mit breiten Schulterklappen und Ärmelgurte, die von der herrschenden Armeemode inspiriert waren. Hinter ihm hing ein grosses Gemälde, das eine Brücke über der Seine zeigte. Die gegenüberliegende Wand zierten Bücherschränke, deren Türen verglast waren. Charles hatte noch nie solch schöne Möbel gesehen. Selbst der Tisch, hinter dem der Generalprokurator sass, war kunstvoll geschnitzt. In der Tischplatte waren farbige Marmorstücke. Die Füsse waren sehr dünn, leicht nach aussen geschwungen und mit Metallverzierungen dekoriert. Der Generalprokurator schien Grossmutter Dubut gut zu kennen. Er lächelte auf jeden Fall sehr vertraut, als er ihre Hand ergriff und eine ganze Weile lang festhielt. Der Blick war so konspirativ, dass Charles augenblicklich begriff, dass die beiden früher eine Affäre gehabt hatten. Jetzt war Grossmutter Dubut zu alt, um mit ihrem Körper zu bezahlen. Der Generalprokurator musterte den jungen Charles. Er schien von seiner athletischen Erscheinung beeindruckt.
»Habe ich zu viel versprochen?«, fragte Grossmutter Dubut energisch und erwartete stolz die Antwort des Generalprokurators. Dieser schwieg. »Er ist doch gross und robust! Kein Mensch würde annehmen, dass er noch so jung ist. Und er hat noch nicht aufgehört zu wachsen. Er schlägt seinem Grossvater nach. Mein Mann war ein Riese, kräftig wie ein Bär, und er bewahrte stets ruhig Blut.«
Der Generalprokurator schmunzelte. »Es haben sich viele Leute aus der Provinz beworben«, sagte er. »Monsieur de Paris ist das bestbezahlte Henkeramt in ganz Frankreich.«
Grossmutter Dubut machte eine verächtliche Handbewegung und ereiferte sich: »Was sind denn das für Leute? Landstreicher? Kriminelle? Entlassene Galeerensträflinge oder Leute wie der Henker von Montpellier, der bei jeder Hinrichtung in Ohnmacht fällt und an Mariä Himmelfahrt die Ziegen des Sattlers bespringt?«
Insgeheim hoffte Charles, dass sich Grossmutter Dubut mit dem Generalprokurator zerstreiten würde. Doch dieser schien eher amüsiert: »Es sind Ihre entfernten Verwandten, Madame, die Jouennes, die Cousins Ihres Enkels.«
»Die Jouennes?«, schrie Grossmutter Dubut. »Aber wer zum Teufel steht in Paris auf dem Schafott: die Jouennes oder die Sansons? Wir stehen in der Gunst des Königs. Keiner hat sich je über uns beklagt. Mein Enkel Charles wird der Beste von allen sein. Gott hat ihm alle Fähigkeiten gegeben, um dieses Erbe anzutreten und seinen Dienst zur vollen Zufriedenheit des Königs zu verrichten. Das Volk wird ihn lieben.«
»Die Jouennes haben mir vierundzwanzigtausend Livre angeboten.« Der Generalprokurator lächelte unbeeindruckt.
Grossmutter Dubut zog mit einer barschen Handbewegung eine lederne Geldbörse aus ihrer Schosstasche. »Vierundzwanzigtausend Livre, das ist doch lächerlich. Daran sehen Sie, wie wenig ihnen das Amt bedeutet.« Sie leerte die Geldbörse aus. Schwere Goldmünzen purzelten auf den Tisch.
Der Generalprokurator lächelte nicht mehr. Nun schien er sehr ernst. »Ich habe die Jouennes ins Châtelet werfen lassen«, murmelte er und musterte Charles sehr eindringlich. Charles streckte den Rücken durch, atmete tief ein und hielt die Luft an, um den Brustkorb kräftiger erscheinen zu lassen. Er tat es instinktiv, ohne daran zu denken, dass er gerade dabei war, seine Grossmutter zu unterstützen. Mit eiserner Miene steckte diese die Goldmünzen wieder in ihre Lederbörse. Sie war nun sehr gekränkt. Aber sie war nicht die Frau, die einen Fehler hätte zugeben können. In solchen Situationen reagierte sie mit Wut und Zorn, um von der Schmach der Zurechtweisung abzulenken. »Ich habe Sie noch nie um etwas gebeten«, sagte sie eindringlich und lehnte sich in konspirativer Manier über den Tisch. »Schauen Sie mich an, Monsieur, Gott hat mir nur deshalb ein langes Leben geschenkt, damit es mir vergönnt ist, das blutige Vermächtnis der Sansons zu wahren und weiterzugeben. Zum Wohle des Königreiches.«
Der Generalprokurator nickte nachdenklich. Es war nicht auszumachen, welche Entscheidung er nun fällen würde. »Madame Dubut«, sagte er trocken, »haben Sie noch nie daran gedacht, sich bei der Comédie-Française zu bewerben?«
Sie hatte keinen Sinn für Humor und sagte stattdessen in beinahe feierlichem Ton: »Ich bitte Sie hiermit gnädigst, meinem Enkel Charles-Henri Sanson, der hier vor Ihnen steht, das Amt seines Vaters Jean-Baptiste Sanson zu übergeben.«
»Sie wollen den Sansons die Herrschaft über das Schafott sichern, Madame.« Es war keine Frage, eher eine Feststellung. »Nun gut, Madame, Ihr Enkel soll den blutroten Mantel tragen und das Schwert der Gerechtigkeit führen. Das Amt soll ihm kommissarisch anvertraut werden, bis Ihr Sohn, der hochgeschätzte Jean-Baptiste Sanson, verstorben ist. Anschliessend soll Ihr Enkel Charles offiziell Monsieur de Paris sein.« Er betätigte die kleine Glocke auf seinem Schreibtisch. Ein junger Mann in blauer Livree betrat wenig später den Raum und verbeugte sich tief vor dem Generalprokurator. Dieser gab ihm die Order, die Ernennungsurkunde auszustellen und den Entscheid zu publizieren. Als der Diener den Raum wieder verlassen hatte, wandte sich der Generalprokurator an Charles: »Sie sind erst seit kurzem wieder in Paris. Aber ich nehme an, Sie wissen, wer Robert-François Damiens ist?«
Charles nickte, während Grossmutter Dubut an seiner Stelle antwortete: »Natürlich weiss er, wer Damiens ist.«
Der Generalprokurator tadelte Grossmutter Dubut mit einem strengen Blick. »Ich habe Ihren Enkel gefragt, nicht Sie, Madame! Noch sind Sie nicht Mitglied meiner Behörde.« Er schmunzelte. »Immer noch das gleiche lose Mundwerk!« Nun schwieg sie. Charles freute sich insgeheim, dass es jemand gewagt hatte, den Drachen zurechtzuweisen. Der Generalprokurator nahm ein Schreiben aus der obersten Schublade und reichte es Charles. Instinktiv wollte Grossmutter Dubut das Blatt an sich nehmen, doch der Generalprokurator hob drohend den Zeigefinger, und sie liess von ihrem Vorhaben ab. Er kannte den Text auswendig und spulte ihn herunter, ohne dabei Charles aus den Augen zu lassen: »Robert-François Damiens wurde gestern vom Pariser Gerichtshof für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Er wird zuvor der peinlichen Befragung unterworfen.« Er legte eine Pause ein und sah Charles eindringlich an. »Sie wissen, was die peinliche Befragung bedeutet?«
Charles nickte. Diese Foltermethode umfasste alle Grausamkeiten, die sich Christen seit der Inquisition je ausgedacht hatten.
»Und ausserdem«, fügte der Generalprokurator an, »soll Damiens mit der Zange gerissen werden. So steht es im Urteil.«
Nun war sogar Grossmutter Dubut sprachlos. Das Zangenreissen war derart grausam, dass es längst nicht mehr praktiziert wurde. Wer sollte also diese elende Tortur beherrschen und ausführen? Sie warf Charles einen mitleidigen Blick zu. Dieser hob nur kurz die Wimpern an. Auch ihm fehlten die Worte.
»Sie werden Hilfe benötigen, junger Mann«, sagte der Generalprokurator mit sehr ernster Stimme. »Verpflichten Sie den Henker von Versailles, Ihren Onkel Nicolas Sanson. Ihm ist noch nie ein Fehler unterlaufen. Er macht tadellose Arbeit, geschickt und würdevoll. Wie alle Sansons. Und für das Zangenreissen gibt es in Brest einen ausgewiesenen Folterknecht. Den können Sie verpflichten. Er heisst Soubise. Ich erwarte hervorragende Arbeit. Ganz Frankreich, nein, ganz Europa wird Sie beobachten. Wenn Sie das bestehen, sind Sie ein gemachter Mann. Aber werden Sie mir ja nicht ohnmächtig. Das mögen die Menschen überhaupt nicht.«
Den Abend verbrachte Charles mit Dominique am Klavier. Sie spielten Galanterien von Bach, die Lieblingsstücke ihres Vaters. Dieser sass friedlich in seinem braunen Fauteuil, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Augen geschlossen. Er schlief nicht. Er genoss. Er freute sich sehr über die Ernennung seines Sohnes Charles. Die vorläufige Ernennung war bei Minderjährigen üblich und gleichzeitig auch eine Respektbezeugung gegenüber dem bisherigen Amtsinhaber, weil man ihm dadurch die Würde liess, trotz Unfähigkeit den Titel behalten zu dürfen.
Obwohl Charles allen Grund gehabt hätte, auf seinen Vater böse zu sein, hatte er an jenem Abend keinen grösseren Wunsch, als sich zusammen mit seiner Schwester ans Klavier zu setzen. Er spielte mit viel Gefühl für den Mann, der seinen Traum erst befördert und dann zerstört hatte.
Am nächsten Tag zitierte Charles einen Gehilfen zu sich und befahl ihm, nach Versailles zu reiten, um Onkel Nicolas zu benachrichtigen. Er schickte einen zweiten Gehilfen nach Brest zu Meister Soubise. Charles’ Geschwister waren mächtig stolz auf ihren Bruder. Er würde den Mann hinrichten, über den ganz Paris sprach. Er würde den Mann töten, der den König verletzt hatte. Dadurch trat Charles aus dem Schatten Seiner Majestät und wurde persönlicher Rächer des Königs. Und sie waren die Geschwister des Mannes, der das Urteil vollstreckte.
Wenige Tage später brachte ein Gerichtsdiener das schriftliche Urteil, das die auszuführende Folter so genau beschrieb, dass einem bereits beim Lesen der Mund austrocknete und der Atem stockte. Charles wurde speiübel. Er spürte eine Faust im Oberbauch, die ihm schier die Luftröhre abwürgte. Mit Wut und Verbitterung nahm er das Getuschel seiner Geschwister auf der langen Ofenbank wahr, während Onkel Nicolas ihm die Hand auf die Schulter legte. Er schien zu spüren, was in Charles vorging. Auch Jean-Baptiste spürte, was in seinem Sohn vorging, aber die Lähmung verhinderte, dass er ihn berühren und besänftigen konnte. Obwohl Jean-Baptiste seinen Bruder Nicolas sehr schätzte, neidete er ihm, dass er nun seinem Sohn am nächsten stand. Dominique vertrieb die Geschwister von der Ofenbank. Selbst die Katzen sprangen von den braunen Kacheln herunter. Keiner von denen, die sich nun an der Aufgabe ihres Bruders ergötzten, würde am Tage der Hinrichtung auf dem Schafott stehen und einen Menschen bei lebendigem Leibe langsam zu Tode foltern.
»Wir sind keine Folterknechte«, sagte Jean-Baptiste immer wieder, »wir richten mit dem Strick oder mit dem Schwert, aber wir foltern nicht. Das tun andere.«
Charles glaubte seinem Vater kein einziges Wort, doch er wagte nicht, ihm zu widersprechen. Er war sich durchaus bewusst, dass er im Namen der Gerechtigkeit das Urteil des Gerichts zu vollstrecken hatte. Aber ihm war auch klar, dass man einen wie Damiens einer öffentlichen Folter unterziehen würde, wie sie die Welt seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte. Denn das Volk hungerte, und falls es zutraf, dass der Attentäter Damiens sich als Rächer des Volkes sah, dann wollte der König ganz bestimmt ein grausames Exempel statuieren. Charles war sich nicht so sicher, ob dieses Exempel genügen würde. Er spürte instinktiv, dass Damiens etwas zum Leben erweckt hatte. Einige verehrten ihn klammheimlich als Helden, denn auch sie hungerten wie er und vegetierten wie Ratten in den Gassen. Charles war überzeugt, dass es Zigtausende von kleinen Damiens gab, und es war kaum auszudenken, was passieren würde, wenn all diese eines Tages aus der Dunkelheit hervortreten würden. Charles fühlte sich Damiens näher als dem König. Er verehrte den König, aber wenn dieser die gleiche zynische Haltung einnahm wie Antoine, dann war er ein schlechter Herrscher. Damiens begann Charles zu beschäftigen, aber es gab niemanden, mit dem er darüber hätte reden können. Nur sein Tagebuch.
Obwohl die Zeit knapp war, suchte Charles das Collège Louis-le-Grand auf. Er spürte ein grosses Verlangen, Dan-Mali zu sehen. Sie entdeckte ihn sofort und rannte zu ihm über die Strasse. Sie strahlte vor Freude und berührte Charles zaghaft am Arm. Dann kramte sie nervös einen Zettel aus ihrer Tasche und las: »Ich vermisse Sie. Ich lerne Französisch. Dann reden wir.«
Charles nickte eifrig. Er suchte nach einfachen Worten, die seine Gefühle ausdrücken konnten, doch Dan-Mali wurde von ihren Freundinnen gerufen, die auf der anderen Strassenseite auf sie warteten. Sie rannte zu ihnen hinüber. Bevor sie hinter der Mauer verschwand, schaute sie noch einmal zurück und winkte zaghaft.
»Sag ihm die Wahrheit«, insistierte Onkel Nicolas, »dein Junge wird das Schafott besteigen müssen. Zunächst der erste Gehilfe, dann er, dann folge ich mit Damiens. Bevor das Zangenreissen beginnt, kann er wieder hinuntersteigen und am Fuss der Treppe warten. Aber für die Eröffnung der Vollstreckung muss er sich dem Volk zeigen. Er steht an deiner statt auf dem Schafott.«
Entsetzt schaute Charles zu seinem Vater, der seinem Blick auswich.
»Spiel mir etwas auf dem Klavier«, sagte Jean-Baptiste, »das Klavier vermisse ich mehr als das Schafott.«
Beklommen setzten sich Charles und Dominique an das Instrument und begannen zu spielen. Er spielte schlecht. Es war grausam, ihn in dieser Verfassung ans Klavier zu zwingen. Er hasste seinen Vater dafür. Aber er konnte ihm nicht widersprechen. Grossmutter Dubut sah das Leid und die Zerrissenheit in seinem Herzen, aber sie kannte kein Mitgefühl. Sie predigte Härte wie eine Religion. Doch sie hatte einen Schweinebraten zubereitet, so wie ihn Charles liebte. Es berührte ihn sehr, denn es war das einzige Zeichen von Zuneigung, das er jemals von ihr erfahren hatte: ein saftiges Stück Schweinebraten, in Speck gebunden und mit einer cremigen Pilzsauce, die wohl mehr Cognac als Rahm enthielt. Auch dafür liebten ihn die Geschwister, denn auch diesen Genuss bescherte er ihnen mit dem, was er am nächsten Tag zu tun bereit war.
Nach dem Essen legte sich Grossmutter Dubut hin und bat Charles an ihr Bett. Ihr Verhalten ihm gegenüber hatte sich seit dem Besuch beim Generalprokurator verändert. Sie hatte durchaus registriert, dass er bemerkt hatte, dass sie einst eine Affäre mit dem Beamten gehabt hatte. Das hatte sie in ihrem Stolz verletzt. Sie hatte vor ihrem Enkel das Gesicht verloren. Als zählte sie insgeheim auf seine Diskretion, war sie von da an weniger grob zu ihm gewesen. Auch die Sache mit dem Geld hatte sie gedemütigt, denn auch dies hatte sich in seiner Anwesenheit ereignet. Er hatte erfahren, dass seine gefürchtete Grossmutter ausserhalb der häuslichen vier Wände bedeutungslos war. Bloss eine alte Frau. Bestimmt war aber auch von Bedeutung, dass Charles nun das Einkommen der Familie sicherte. Bald würde er der Familie vorstehen. Bald würde sie ihre Macht verlieren. Sie schaute ihm lange in die Augen, als versuchte sie, darin etwas zu lesen. Schliesslich ergriff sie seine rechte Hand und gab ihm einen Talisman, der eine geborstene Glocke darstellte.
»Charles«, sagte sie mit ruhiger und ernster Stimme, »dein Urgrossvater trug diese kleine Silberglocke um den Hals und vererbte sie seinem Sohn. Das ist bis heute Brauch. Die geborstene Glocke ist das Wappen der Sansons. Es ist eine Glocke ohne Klöppel. Es ist eine Glocke, die keinen Ton von sich gibt. Unsere Glocke läutet nie. Es ist die Glocke der Sansons. Egal, wie gross dein Schmerz ist, keiner wird dich hören. Ein Sanson schweigt und tut seine Pflicht.«
Sie drückte ihrem Enkel das kleine Amulett in die Hand. »Halte es fest«, sagte sie leise. »Wenn du morgen auf dem Schafott stehst, wirst du die Kraft der Sansons spüren. Hab keine Angst, Charles. Unsere Phantasie quält uns mehr als die Realität. Wenn dich trübe Gedanken plagen, wie alle Sansons, dann geh hinaus in die Wälder. Das Reiten und die Jagd haben das Herz all deiner Vorfahren erfreut. Auch die Musik und die Literatur haben manchem Trost gespendet, obwohl ich beides für unnütz halte. Vor allem aber hüte dich vor der Einsamkeit. Sie wurde manchem Sanson zum Verhängnis. Nimm dir deshalb ein starkes Weib. Ein Sanson braucht ein starkes Weib, Charles, denn am Ende sind sie alle gelähmt.«
»Grossmutter«, sagte Charles leise, »wieso sprichst du so mit mir?« Er ahnte Unheil. In diesem Augenblick wünschte er sich, dass sie da sein würde, wenn er morgen spätabends nach Damiens’ Hinrichtung nach Hause zurückkehrte.
»Vielleicht hast du mich manchmal gehasst«, sagte sie leise, »du hast mich nie sonderlich gemocht. Doch ich habe den Sansons die Herrschaft über den Thron des Todes gesichert. Jetzt seid ihr unantastbar. Denn von nun an seid ihr für immer die Henker der Könige und die Rächer des Volkes. Du wirst der Grösste aller Sansons. Unter dir werden du und deine Brüder zu geachteten Mitgliedern der Gesellschaft werden. Ich weiss es. Ich habe euch alle gesehen. Du bist der Stärkste und Mutigste von allen. So einen wie dich hat die Dynastie der Sansons noch nicht gesehen.«
Während sie die letzten Worte sprach, schloss sie die Augen und liess Charles’ Hand los. Er erhob sich leise. Er wollte sie nicht wecken. Er verliess das Schlafzimmer und ging in den Hof hinaus. Dort sass Dominique in der Sonne. Er setzte sich neben sie.
»Sag mir, Dominique, liegt ein Fluch über unserer Familie?«
»Ich weiss es nicht, Charles. Ich denke, die meisten Menschen in Paris glauben, dass sie verflucht sind. Denn sie leben in bitterster Armut und ohne Hoffnung. Ich glaube, der Fluch besteht darin, geboren zu werden.«
»Dann war es also richtig, was Damiens versucht hat.«
»Ja, Charles, der König lässt sein Volk verhungern. Aber Gott liebt ihn mehr als das einfache Volk von Paris. Er hat den König geschützt und schickt Damiens in den Tod.«
»Zweifelst du an Gott, Dominique?«
»Ja, Charles.«
»Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch keinen Fluch.«
Dominique nickte.
»Wenn Vater und Grossmutter nicht mehr sind, dann werde ich das Amt wieder abgeben und Arzt werden, Dominique.«
Sie spürte, dass er jemanden brauchte, der ihm dafür die Absolution erteilte. Dies würde ihm die Kraft geben, die Zeit auf dem Schafott durchzustehen. »Ja, Charles, du wirst eines Tages ein guter Arzt werden«, sagte sie und strich zärtlich mit ihrem Finger über seine Faust. Er öffnete sie, Dominique sah das Amulett und lächelte. »Jetzt bist du Monsieur de Paris, Charles.«
»Vorläufig«, sagte er, und es klang wie eine Bitte.
Monsieur de Paris, in der Tat ein hübscher Begriff, aber er war kaum in Einklang zu bringen mit den erschütternden Dingen, die das Gericht Charles zu tun auferlegt hatte. Monsieur de Paris, das klang nobel, elegant, das roch nach edlen Stoffen, Poesie und Mandelseife. Doch am 28. März 1757 sollte es nach verbranntem Menschenfleisch riechen.
Um vier Uhr morgens stieg Charles in die blaue Hose seines Vaters und zog die rote Jacke mit dem gestickten Galgen und der gestickten Leiter an. Den Degen trug er zur Rechten. Den roten Dreispitz setzte er nicht auf. Er hielt den Hut zusammengeklappt unter dem Arm. Mit seinem Onkel stieg er in den ersten Fuhrwagen. Im zweiten Karren sassen fünfzehn Gehilfen in rehbraunen Lederschürzen. Aus allen Teilen Frankreichs hatten sie sich beworben, überwiegend Henker aus anderen Provinzen. An ihren Karren waren vier Pferde gebunden. Es waren kräftige Pferde, denn sie waren ausgesucht worden, um einen Menschen auseinanderzureissen. Die Männer waren auf dem Weg zum Gefängnis.
Langsam wie in einer Trauerprozession setzten sie sich in Bewegung. Sie sprachen kein einziges Wort. Der Morgen graute, Paris erwachte. Von weitem schon sah man die mächtigen runden Türme der Conciergerie. Sie strahlten Autorität und Gewalt aus. Ihre nach oben spitz zulaufenden schwarzen Dächer glichen monumentalen Scharfrichtern, die die Gefangenen bereits erwarteten. In einem dieser Türme wurde Damiens seit bald drei Monaten gefoltert. Dies geschah im Montgomery-Turm, benannt nach dem Grafen von Montgomery, der Henri II bei einem Turnier tödlich verletzt hatte. Charles und seine Gehilfen passierten das wuchtige Eisentor, das in den Hof des Verwaltungspalastes führte. Die Conciergerie war mehr als ein Gefängnis. Hier arbeitete auch das Gericht. So hatten die Richter jederzeit raschen Zugriff auf die Gefangenen, die in den unterirdischen Geschossen der Türme gefoltert wurden. Im Hof standen schwerbewaffnete Polizisten. Der Concierge führte die Henker in einen kleineren Hof, der zur Sainte-Chapelle gehörte. Gemeinsam stiegen sie die schwere, in Stein gehauene Wendeltreppe hinunter, die in die Welt des Schmerzes führte.
Der meistbewachte Mann Frankreichs war im untersten Verlies des Montgomery-Turms untergebracht. Es stank nach Moder und Fäulnis. Die Luft wurde merklich kühler. Das flackernde Licht wirkte gespenstisch. Jeder Schritt hallte wider in diesen engen Gemäuern. Plötzlich erschallte ein ohrenbetäubender Schrei. Dann war es wieder so still, dass man sich fragte, ob man tatsächlich den Schrei eines Menschen gehört hatte. Schliesslich standen sie vor einer wuchtigen Zellentür. Damiens’ Verlies wurde von mehreren Gendarmen bewacht. Es stank nach verbranntem Menschenfleisch, als die metallbeschlagene Eichentür aufgestossen wurde. Die Luft im Kerker war heiss, stickig, staubig und presste sich wie eine Faust auf die Lunge. Kein Luftzug verschaffte Linderung. Damiens lag auf einem Folterrost. Man hatte ihn mit Lederriemen derart festgezurrt, dass er sich nicht bewegen konnte. Seit Wochen vegetierte er auf diesem Rost. Darunter hatte man Stroh ausgelegt, um seinen Kot aufzufangen. Doktor Boyer, der Gerichtsarzt, kniete neben ihm und löste die blutdurchtränkten Schafshäute von seinen Beinen. Damiens’ Unterschenkel waren wie Würste am Spiess aufgeplatzt. Das linke Bein war gebrochen und aufs Übelste verrenkt. Am Kopfende sassen vier Soldaten vom Garderegiment und starrten auf den regungslosen Damiens. Doktor Boyer gab einem von ihnen den Befehl, die qualmenden Fackeln durch Wachskerzen zu ersetzen. Er fürchtete, Damiens würde in der stickigen Luft kollabieren und seine Hinrichtung nicht mehr bei vollem Bewusstsein erleben. Mit beinahe väterlicher Fürsorge untersuchte er den Körper des Gefangenen. Der Arzt war dem Gericht gegenüber verantwortlich, dass Damiens lange genug lebte, um alle Torturen zu erleiden, die im Urteil aufgelistet waren. Einer der Soldaten hatte einen Hund dabei. Er fütterte diesen mit speckigem Haferbrei und beobachtete ihn beim Fressen sehr aufmerksam. Nach einer Weile griff er mit drei Fingern in die Schüssel. Nun war Damiens an der Reihe. Der Soldat hatte die Weisung, dafür zu sorgen, dass Damiens nicht vergiftet wurde. Er sollte leben. Er sollte leiden. Damiens rührte sich nicht. Der Brei blieb an seinen blutleeren Lippen kleben.
Robert-François Damiens war ein völlig abgemagerter Mann von zweiundvierzig Jahren. Man erzählte sich, sein Vater habe sich zu Tode gesoffen und seine Mutter sei an Skorbut gestorben. Ein Onkel habe ihn grossgezogen und ihm eine Ausbildung ermöglicht, doch Damiens sei, von einer steten Unruhe getrieben, in die Welt hinausgezogen und habe sich durch die Schlachtfelder Europas gekämpft, habe vorübergehend einem Schweizer Offizier als Feldjunge gedient und sei schliesslich krank und erschöpft in Paris gestrandet. In zahlreichen vornehmen Häusern habe man den gutaussehenden jungen Mann, den alle »Spanier« nannten, verpflichtet, als erotisches Spielzeug missbraucht und später gelangweilt vor die Tür gesetzt. Er habe sich wieder aufgerappelt und im Palast eines Grafen eine Anstellung gefunden. Doch eines Nachts habe der König seinen Herrn verschleppen lassen, weil dessen adlige Abendgesellschaften Rousseau, Voltaire und Montesquieu diskutierten und die Damen und Herren plötzlich Mitgefühl für die hungernde Bevölkerung zeigten. Der Graf habe Damiens immer wieder Kleider und Geld geschenkt, so dass dieser später beim Pont Neuf einen kleinen Krämerladen hatte eröffnen können. Aber die revolutionären Ideen des Grafen hätten seinen Geist nie mehr ruhen lassen, und seitdem habe ihn der Anblick der leidenden und hungernden Bevölkerung mit Zorn erfüllt. Als dann der grosse Hunger seinen Schleier über Paris legte, habe Damiens seinen Laden schliessen müssen. Niemand weiss, wann er den Entschluss gefasst hat, den König zu töten. Mag sein, dass Damiens nicht ganz bei Verstand war, aber es ändert nichts daran, dass er aus Mitgefühl handelte, aus Mitgefühl für das französische Volk, das ein erbärmliches Dasein fristete, während der König die Steuergelder der Bauern und Arbeiter verprasste und sich mit seiner adligen Entourage amüsierte. Diese hatte ihm in den vergangenen Wochen in Versailles Gesellschaft geleistet, um in vergilbten Schriften Foltermethoden zu finden, die geeignet waren, den Attentäter Damiens besonders grausam zu bestrafen. Sie waren bei ihren Recherchen bis in die römische Antike zurückgegangen. Doch die grausamsten Folterungen, die sich der menschliche Geist je ausgedacht hat, fanden sie bei den päpstlichen Inquisitoren, die jeden, der an ihrem rachsüchtigen Gott zweifelte, qualvoll folterten und töteten. Die Christen hatten das Paradies auf das Jenseits verlegt und die Hölle auf Erden installiert.
Doktor Boyer verliess den Kerker. Ein Gerichtsdiener trat ein und schickte sich an, dem bewusstlosen Damiens das Urteil vorzulesen. Er teilte ihm zunächst mit, dass er nun zum Zwecke der peinlichen Befragung in den Bonbec-Turm geführt werde.
»Er hört Sie nicht«, sagte Charles, »er hat das Bewusstsein verloren.« Damiens tat ihm unendlich leid.
»Das spielt keine Rolle«, entgegnete der Gerichtsdiener trotzig. »Bei uns hat alles seine Richtigkeit. Vorschrift ist Vorschrift.«
Die vier Gardesoldaten banden Damiens vom Rost los. Als sie die Riemen von seinen aufgeplatzten Beinen lösten, stiess er erneut einen fürchterlichen Schrei aus und wimmerte jämmerlich. Der Gerichtsdiener befahl Damiens niederzuknien, doch dieser reagierte nicht. Zwei Gardesoldaten packten ihn unter den Schultern und zwangen ihn in die Knie, worauf er sofort zusammenbrach. Es war ihm unmöglich, auf den gebrochenen Kniescheiben zu verharren. Die beiden Soldaten hielten ihn unter den Armen fest, während die Unterschenkel wie fremdes Fleisch unter den Knien baumelten. Ein dritter Soldat packte ihn an den Haaren und riss sein Haupt zurück, so dass er den Gerichtsdiener sehen konnte. Während ihm dieser das Urteil vorlas, verzog er keine Miene, selbst bei der Ankündigung, dass er von vier Pferden zerrissen werden sollte. Damiens starrte ins Leere, die Augen seltsam verzückt, als wunderte er sich, all die Leute um sich zu sehen. Das Weiss in seinen Augen war gelb. Seine Haut hatte die Farbe von konzentriertem Urin. Er gab immer seltsamere Laute von sich, es klang wie »O Gott, o Gott, o Gott«, doch die Worte waren nicht wirklich zu verstehen.
Als ein Polizeileutnant mit einem Geistlichen den Kerker betrat, beruhigte sich Damiens etwas. Die Soldaten setzten ihn in einer Ecke ab. Der Mann, der den Hund gefüttert hatte, bot Damiens ein Glas Wein an, doch dieser schloss die Augen. Er wollte nichts.
Der Geistliche kniete vor dem Verurteilten nieder und tupfte ihm mit seinem Talar den Schweiss von der Stirn. In diesem Augenblick sackte Damiens’ Kopf auf seine nackte Brust. Er hatte erneut das Bewusstsein verloren. Der Geistliche erhob sich und musterte nacheinander den Gerichtsdiener und Nicolas Sanson. Dann blieb sein Blick an Charles haften. Er schien zu wissen, wer der grossgewachsene Junge war. Er nickte ihm kaum merklich zu und lächelte, als wollte er andeuten, dass er ihm beistehen würde, wie er Damiens beistand. Sein Gesicht war weich und voller Güte. Er schien weder Hader noch Zorn zu kennen, sondern von einer unerschütterlichen Liebe zu Gott und den Menschen geleitet zu sein. Die Leute nannten ihn Pater Gomart. Er war ein Geistlicher, der sich jahrelang in einem Klosterorden zurückgezogen hatte und nun ein Priester des Schafotts geworden war, der letzte Freund der Todgeweihten.
Der Polizeileutnant fragte Pater Gomart, ob er schon fertig sei. Beschämt senkte der Geistliche den Blick und sagte, er werde in der Kapelle der Conciergerie beten und auf den Verurteilten warten. Sofort gab der Leutnant den Gardesoldaten den Befehl, den Bewusstlosen in die Folterkammer des Bonbec-Turms zu bringen. Gemeinsam mit Onkel Nicolas folgte Charles den Soldaten in den Turm. Im düsteren Gewölbe warteten bereits die Mitglieder der Kriminalkammer. Sie wollten Damiens ein letztes Mal verhören. Denn noch glaubte niemand, dass der Attentäter allein gehandelt hatte. Noch glaubten alle, dass es im Hintergrund Verschwörer gab. Sie hielten Damiens für den Anführer eines von langer Hand geplanten Aufstandes. Die Kriminalrichter sassen hinter einem langen Tisch. Spärliches Licht fiel in Form von staubigen Kegeln auf ihre Häupter, als würden sie von Gott erleuchtet, um ihre Aufgabe besser zu erfüllen. Sie waren alle da, Maupeou, Molé, Severt, Pasquier, Rolland und Lambelin, ebenso Doktor Boyer. Als Charles den kotartigen Dreck auf dem Steinboden sah, blickte er zum Gewölbe hinauf. Hunderte von kleinen Fledermäusen hingen an der Decke, als würden sie stumm beobachten, was da unten nun geschah. Die Gardesoldaten setzten Damiens auf eine Bank. Doktor Boyer umwickelte Damiens’ Kopf mit nasskalten Tüchern. Sogleich erlangte Damiens das Bewusstsein wieder. Erneut musterte er seine Umgebung mit einem merkwürdig entrückten Blick. Er rutschte unruhig hin und her und versuchte dabei zu vermeiden, dass die Füsse den Boden berührten. Nun konnte man seine Worte deutlich verstehen: Er flehte Gott um Hilfe an. Wieder stiess er die Worte monoton und ohne Unterbruch heraus, als gelte es, unaufhörlich dieses Wort zu skandieren, um zu vergessen. Der vorsitzende Richter erhob sich und eröffnete Damiens, dass er der peinlichen Befragung unterworfen werde, da er nicht gestanden habe. Er forderte Torturmeister Frémy auf, Damiens den spanischen Stiefel anzuziehen. Ein Mann, der bisher gar nicht aufgefallen war, erhob sich von einer der hintersten Bänke. Langsam schritt er zum Angeklagten und richtete sich vor ihm auf. In der Hand hielt er zwei perforierte Eisenplatten. Damiens starrte ihn an. Unruhig rollte er die Augen. Dann schrie er, dass er unschuldig sei, dass eine Hexe ihn verzaubert habe: »Sie wohnt in der Rue du Bouclier. Schreiben Sie es auf, denn die Strasse ist so verhext, dass man selbst ihren Namen vergisst. Rue du Boisseau. Eines Nachts setzte sie ihren nackten Arsch auf mein Gesicht, und ich sah, wie schwarze Kröten aus ihrer eitrigen Fotze schlüpften.« Torturmeister Frémy drehte sich kurz zu den Mitgliedern der Kriminalkammer um, die angespannt hinter ihrem Tisch verharrten. Sie nickten. Dann nickte auch Frémy, und drei Gehilfen traten aus dem Halbdunkel hervor. Zwei hielten Damiens an den Armen fest, während der Dritte einen Schemel nahm und Damiens’ rechten Fuss darauf drückte. Damiens stiess erneut einen fürchterlichen Schrei aus und begann wirres Zeug zu reden. Er fragte ständig, wieso er hier sei, und beteuerte, dass er nichts Unrechtes getan habe.
Frémy kniete vor Damiens nieder und schiente seinen Unterschenkel mit den beiden Metallplatten. Er fixierte sie mit Stricken, so dass der Unterschenkel wie in einem Schraubstock eingeklemmt war. Damiens brüllte erneut vor Schmerz. Die verkrusteten Wunden platzten und bluteten stark. Frémy presste die beiden Platten stärker aufeinander, während seine Gehilfen Damiens mit aller Kraft festhielten. Doch plötzlich wurde Damiens’ Gesicht kreideweiss. Das Blut wich aus seinen Lippen, und sein Kopf sackte erneut auf die Brust. Der vorsitzende Richter gab dem Arzt einen Wink. Doktor Boyer befühlte Damiens’ Puls an der Halsschlagader. Mit dem Daumen hob er das Lid des rechten Auges. »Nichts Ernstes«, sagte er. Daraufhin reichte ein Gehilfe Frémy einen grossen Nagel. Frémy trieb ihn, ohne zu zögern, mit grosser Wucht durch das erste Loch der Eisenplatte. Der Nagel durchbohrte Fleisch und Knochen des Unglücklichen, bis er durch das Loch der zweiten Platte wieder heraustrat. Mit dem ersten Stoss war Damiens wieder zu sich gekommen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zum Gewölbe hoch und schrie: »Gebt mir Wein!« Frémy und seine Gehilfen drehten sich nach Nicolas Sanson um. Charles wusste nicht, ob es seine Aufgabe war, Damiens Wein zu bringen. Doch als der Onkel ihm zunickte, verstand er, dass es seine Aufgabe war. Eine unbeschreibliche Schwäche erfasste Charles. Gleichzeitig fühlte er, wie sein Mund pelzig wurde. Er versuchte zu schlucken, aber jeder Muskel in seinem Rachen zog sich krampfhaft zusammen, als hätte ihm Frémy den spanischen Stiefel an den Hals gesetzt. Er wankte zum Tisch und goss Wein aus einer Karaffe in einen Becher. Langsam ging er zu Damiens hinüber. Jeder Schritt ein Berg. Er legte Damiens die eine Hand auf die Schulter und führte mit der anderen Hand den Becher zum Mund. Damiens benässte nur die Lippen. Als Charles ihn losliess, stiess er den Kopf nach vorn und öffnete leicht den Mund. Er wollte mehr trinken. Charles gab ihm mehr. Dann öffnete Damiens die Augen und starrte Charles direkt ins Gesicht. Er liess die Augen rollen und flüsterte: »Spart den Wein für das Volk von Paris. Gebt ihn den Armen. Für sie werde ich sterben. Tod dem König und der Monarchie!«
Kaum hatte Damiens die Worte ausgesprochen, schlug Frémy den zweiten Nagel durch die Metallplatte. Er schlug ihn so wuchtig, dass er den Knochen des Schienbeins zersplitterte. Damiens schrie, brüllte, flehte, doch Frémy schlug auch den dritten und vierten Nagel in Damiens’ Unterschenkel. Dessen Schreie schienen unter der hohen Kuppel abzuprallen und wie Katapultgeschosse auf alle niederzuprasseln. Er hielt nun keine Sekunde mehr still. Er schrie und brüllte wie von Sinnen seinen Schmerz heraus, und Charles sah, dass nun selbst Richter Molé, der sich Damiens genähert hatte, um ihm die erste Frage zu stellen, am ganzen Körper bebte und zitterte. Molé wollte Namen hören, wollte wissen, ob es eine Verschwörung gegeben habe, ob noch andere Leute daran beteiligt waren. »Ja«, schrie Damiens mit beinahe fröhlicher Stimme, »die Strassen von Paris sind voll davon. Ihr habt nicht genug Soldaten, um sie alle zu töten, denn es gibt Hunderttausende von Damiens.« Molé schien nun sehr aufgeregt. Er hoffte, Namen zu hören. »Namen!«, insistierte er. Doch Damiens lachte böse, erzählte wieder von der Hexe und behauptete, sie sei nicht auf einem Besen geritten, sondern auf einem Riesenpenis, weil es Satan war. »Satan!«, brüllte er. »Geht hinaus in die Strassen, und ihr werdet sehen, dass ich die Wahrheit sage. Überall werdet ihr die Kröten sehen, die ihrer Fotze entsprungen sind. Und ihr hört sie von weitem, denn sie furzt wie ein Blasorchester, und die nasse Luft, die aus ihrem Arsch pfeift, hinterlässt überall Tod und Verwüstung.«
Beim siebten Nagel stiess Damiens nur noch einen einzigen gellenden und nicht mehr enden wollenden Schrei aus und erbrach sich über Frémys Nacken. Damiens zitterte am ganzen Leib. »Nehmt ihm den Stiefel ab«, sagte jemand. Es war Maupeou. Fassungslos sass er hinter dem Tisch und starrte ins Leere. Zu seiner Rechten sass Molé, der von Boyer verarztet wurde. Er hatte offenbar einen Schwächeanfall erlitten. Frémy nahm Damiens den spanischen Stiefel ab, und seine Gehilfen legten Damiens auf eine Bahre und trugen ihn in den Hof hinaus.
Dort standen die zwei mit Pferden bespannten Karren der Sansons. Eine riesige Menschenmenge stand bereits vor dem Tor der Conciergerie und wartete auf das Bündel Mensch, das nun in einer langen Prozession der Hinrichtung zugeführt werden sollte. Die Karren waren offen und mit zwei gegenüberliegenden Sitzbänken bestückt. Sie wurden von Bewaffneten eskortiert. Es waren Angehörige der Maréchaussée, der französischen Nationalpolizei. Alle warteten auf Damiens. Auf dem ersten Karren sass bereits Pater Gomart. Er hatte den Kopf gesenkt und wirkte so betrübt und mitgenommen, als hätte seine eigene letzte Stunde geschlagen. Die Gehilfen hievten Damiens in den ersten Wagen. Frémy wischte sich das Blut an den Hosenbeinen ab und sagte frei von jeglicher Gefühlsregung: »Er gehört jetzt euch.« Charles folgte seinem Onkel Nicolas auf den ersten Wagen. Einige Gerichtsmitglieder setzten sich zu ihnen. Damiens lag auf dem Bretterboden zwischen ihren Füssen. Im zweiten Karren sassen die Henkersgehilfen. Die Wagen setzten sich in Bewegung. Doch sie kamen gleich wieder ins Stocken, weil die zahlreichen Angehörigen der Maréchaussée das Tor versperrten. Schliesslich machten sie den Weg frei, frei für Damiens’ Fahrt zum Schafott.
Tausende von Menschen begrüssten lautstark die Karren. Sie schrien, grölten, johlten, sangen und lachten. Hunderte von Soldaten, Polizisten und eine schier unvorstellbare Menge von Schaulustigen säumten die Strassen, als hätte sich das Gerücht verbreitet, dass man heute Brot zu einem vernünftigen Preis erhalten würde. Die Rue du Pont Saint-Michel, der Quai du Marché Neuf, die Rue du Marché Palu, sie waren alle rabenschwarz von Menschen. Alle Geschäfte hatten geschlossen. Ganz Paris wollte den Mann sehen, der es gewagt hatte, das Blut des Königs zu vergiessen. Die beiden Karren quälten sich durch die unruhige Menge, die sich wie eine gewaltige Flutwelle durch die Strassen ergoss. Vor der Kathedrale Notre-Dame ritten Gendarmen auf und ab und hielten so die Treppe zum Gotteshaus frei. Doch es war fast unmöglich, den wogenden Menschenstrom aufzuhalten. Immer wieder preschten die Reiter auf die Schaulustigen zu und versuchten sie zurückzudrängen, doch sie konnten kaum zurückweichen, denn hinter ihnen wurden sie von Zehntausenden unaufhaltsam nach vorn gedrängt. Die Nationalpolizisten, die die Wagen begleitet hatten, bildeten nun eine Kolonne und feuerten einige Schüsse in die Luft. Für kurze Zeit kam der Menschenstrom zum Erliegen.
Die beiden Wagen hielten vor der Treppe von Notre-Dame. Der Gerichtsdiener forderte Nicolas Sanson auf, Damiens aus dem Karren zu hieven. Gemeinsam hoben einige Henkersknechte den Unglücklichen aus dem Karren. Seine Beine waren derart zugerichtet, zerrissen und zerfetzt, dass jede Berührung und Bewegung unvorstellbare Schmerzen bereitete. Charles wollte vermeiden, Damiens’ Beine anzuschauen, aber es war nicht möglich. Der Gerichtsdiener wartete ungeduldig auf der Treppe der Kathedrale. »Auf die Knie!«, sagte er und schaute über die Menge hinweg. Auch er wagte keinen Blick mehr auf Damiens. Die Gehilfen versuchten, Damiens abzusetzen, auf die Knie zu zwingen, doch er stiess einen derart markerschütternden Schrei aus, dass die Menschen urplötzlich verstummten. Fast andächtig verharrte die Menge in diesem Schweigen, als sei sie sich erst jetzt bewusst geworden, dass sie einen Menschen vor sich hatte. Die Henkersknechte hievten Damiens hoch und hielten ihn an den Armen fest. Seine Füsse berührten den Boden nicht. Er sollte nicht unnötig leiden. Damiens sprach die Worte des Gerichtsdieners mit leiser Fistelstimme nach. Es waren Worte der Reue. Er bat Gott und den König um Vergebung. Als ihn die Knechte in den Wagen zurückbrachten, liess er seinen Tränen freien Lauf. Er schien nun derart zerrüttet und ob der Schmerzen nahe am Wahnsinn, dass er keine Kontrolle mehr über seinen Körper hatte. Er urinierte und kotete unkontrolliert.
Die Karren setzten ihren Weg fort. Je näher sie der Place de Grève kamen, desto bedrohlicher wurde die Menschenmenge, die Damiens’ letzte Fahrt sehen wollte. Einige beschimpften und verspotteten ihn, andere warfen mit Abfällen nach ihm, doch es gab auch solche, die stumm am Strassenrand standen und ihn bemitleideten. An allen Kreuzungen stand ein massives Aufgebot von Polizisten und Soldaten. Als der Konvoi endlich in die Place de Grève einbog, empfing ihn die seit Stunden ausharrende Menschenmenge mit einem orkanartigen Gejohle. Instinktiv warf Charles den Kopf zur Seite und suchte den Blickkontakt zu Onkel Nicolas. Selbst er, der Henker von Versailles, hatte noch nie eine derartige Menschenansammlung gesehen. An allen Häusern entlang des Platzes waren die Fenster weit geöffnet. Dahinter drängten sich Schaulustige, und an ihren Kleidern konnte man erkennen, dass die besten Plätze von Adligen besetzt waren. Fünfzig Sou kostete ein Fensterplatz. Auch Menschen, die man sich aufgrund ihres Auftretens, ihrer Kleidung und ihrer Manieren eher in einem literarischen Salon vorstellen konnte, harrten seit Stunden auf den Balkonen der Stadtpaläste aus, um die grausamste Hinrichtung des Jahrhunderts zu sehen. Sie lasen Voltaire, Rousseau, Montesquieu und wollten dennoch diesen Damiens leiden und sterben sehen.
Vor dem Schafott teilte sich die Menge. Soldaten bahnten den Weg und bildeten ein Spalier. Nicolas Sanson winkte den Gehilfen zu, die oben auf dem Schafott warteten. Sie waren sichtbar erleichtet, als sie seine Mannschaft sahen. Das Ausharren inmitten dieser unberechenbaren Menge, die nach Blut lechzte, hatte sie in Angst und Schrecken versetzt. Eingeschüchtert stiegen sie die Treppe des Schafotts hinunter und warfen verstohlene Blicke in den Karren. Damiens krümmte sich wie ein verstümmelter Wurm.
»Tragt ihn hinauf«, befahl Onkel Nicolas und nahm seinen Neffen beiseite. Sie hörten erneut Damiens’ Schreie. Verzweifelt rief er seine Frau zu Hilfe und bat um Vergebung. »Du kannst am Fuss der Treppe warten und das Zeichen geben«, sagte Onkel Nicolas. Er hatte sich den Ablauf offenbar anders überlegt. Doch Charles schüttelte den Kopf. Der neue Monsieur de Paris wollte sich vor niemandem verkriechen. Wohl hatte man ihm dieses verhasste Amt aufgezwungen, aber er wollte allen beweisen, dass man ihn damit nicht gebrochen hatte. Erhobenen Hauptes stieg Charles aufs Schafott. Als er die hölzerne Bühne erreicht hatte und die riesige Menschenmenge überblickte, realisierte er endgültig, dass er nun das Erbe der Sansons angetreten hatte und fortan Teil des Schafotts war.
Die Gehilfen, die im zweiten Karren gefolgt waren, verteilten sich um das Schafott herum. Einige stiegen die Treppe hoch. In der Mitte des Schafotts hatten sie in der Nacht ein kleines Podest errichtet, einen hölzernen Altar von ungefähr einem Meter Höhe. Darauf legten sie Damiens und banden ihn fest. Sein Kopf ruhte auf einem Strohsack und war dem heissen Schwefeldampf ausgesetzt, der aus einem Feuerbecken aufstieg. Über den glühenden Kohlen war ein Rost, auf dem eine Schnabelpfanne erhitzt wurde. Der beissende Geruch wehte über den ganzen Platz und versetzte die Menge in eine schier unglaubliche Erregung. Neben dem Feuerbecken stand ein schmaler Serviertisch, der mit schwarzem Samt überzogen war. Darauf lagen fein säuberlich angeordnet: Zangen, lange Metzgermesser, eine Säge und ein Beil. Kaum sichtbar die feine, zusammengerollte Schnur für den Fall, dass doch noch das Retentum gewährt wurde. Pater Gomart versuchte, dem unaufhörlich schreienden Damiens gut zuzureden. Er tupfte ihm den kalten Schweiss von der bleichen Stirn und nahm eine kleine Weihwasserflasche hervor. Er besprenkelte den Todgeweihten und sprach die Absolution, während Damiens wie in einem fiebrigen Wahn einzelne Worte nachsprach. Als Pater Gomart das Totengebet anstimmte, mahnten die Abgesandten des Gerichts zur Eile. Graue Wolken zogen über den Platz, als missfiele dem Himmel, was hier unten geschah.
»Wo ist Soubise?«, fragte Nicolas Sanson und schaute unruhig in die Runde. Doch die Henkersgehilfen, die den Sansons beistehen sollten, standen stumm in ihren rehbraunen Lederschürzen und schauten ihrerseits ratlos umher. Plötzlich ertönte ein lauter Rülpser. Alle blickten reflexartig zur Treppe. Der alte Mann, der den Namen einer Zwiebelsauce trug, quälte sich hoch. »Soubise, Monsieur«, lallte er und wankte über die Holzdielen. Vor dem unglücklichen Damiens blieb er stehen und griff nach der Zange.
»Wo ist das Öl?«, fragte Nicolas Sanson mit schneidender Stimme. Drohend ging er auf den Trunkenbold zu. Soubise machte eine unwirsche Bewegung mit der Zange und traf aus Versehen die eigene Stirn. Charles entriss ihm entschlossen die Zange und gab den Gehilfen den Befehl, Soubise wegzuschaffen. »Beschafft uns Öl!« Die Gehilfen schwirrten aus. Pater Gomart benutzte die Unterbrechung, um sich erneut Damiens zu nähern und Gebete zu sprechen. Die Beamten des Gerichts standen mit eiserner Miene da und warteten. Es begann zu regnen.
Es dauerte über eine Stunde, bis der erste Gehilfe sich durch die Menschenmassen hindurchgekämpft hatte und mit dem Öl wieder auf dem Schafott erschien. Mittlerweile war die Glut im Feuerbecken erloschen. Ein Gehilfe versuchte vergeblich, das Feuer von neuem zu entfachen.
»Wir brauchen trockenes Holz«, sagte Nicolas Sanson. Er war nun sehr unruhig und bekümmert. Er schaute den Gehilfen lange nach, als sie sich erneut durch die Menschenmenge kämpften, um trockenes Holz zu beschaffen. Nach einer halben Stunde kam der Erste zurück und sagte, dass niemand ihnen trockenes Holz geben wolle.
»Warum?«, fragte Nicolas Sanson.
»Ich weiss es nicht. Es scheint so, als würden die Leute nicht gutheissen, was wir hier tun.«
Nun gab Charles Befehl, mit der Axt Bretter aus der Palisadenwand unter dem Schafott herauszuschlagen, das Feuer erneut anzufachen und das Öl zu erhitzen. Die Warterei setzte auch ihm langsam zu. Damiens war wieder bei Bewusstsein und brüllte wie von Sinnen. Seine Stimme war rau geworden. Flehend schaute er seine Henker an.
»Wollen wir es noch mal mit Soubise versuchen?«, fragte Charles seinen Onkel leise. Dieser war kreidebleich, wusste er doch, dass Soubise vor Mittag des nächsten Tages nicht wieder nüchtern sein würde. Es war nicht die Aufgabe des Henkers, die Tortur des Zangenreissens auszuführen, aber es war niemand sonst da, der es hätte ausführen können. Der Gerichtsdiener und Doktor Boyer drängten die Sansons mit energischem Blick, die grauenhafte Prozedur zu beginnen.
Sechs Gehilfen standen nun um Damiens herum und warteten stumm auf neue Befehle. Charles nickte lediglich. Auf dieses Zeichen hin ergriff ein Gehilfe blitzschnell Damiens’ rechten Arm und streckte ihn, bis die Hand weit über den Rand des Holzaltars hinausragte. Während ein zweiter Gehilfe die räuchernde Schnabelpfanne vom Rost nahm, schob ein weiterer das Feuerbecken unter Damiens’ Hand. Instinktiv versuchte dieser, sie zurückzuziehen. Mit riesengrossen Augen starrte er auf seine Hand, als wisse er nicht genau, was nun mit ihr geschehen würde. Nicolas Sanson übergoss sie mit heissem Öl. Damiens brüllte, wie Charles noch nie ein menschliches Wesen hatte schreien hören. Damiens’ Zähne verkeilten sich ineinander, während seine Lippen platzten und das Blut über sein Kinn strömte. Nach wenigen Minuten war die Hand, die den König verletzt hatte, nur noch ein verkohlter Stummel.
Nicolas Sanson stand starr vor Schreck vor Damiens. Die glühende Pfanne hielt er noch in der Hand. Charles war blass geworden. Sein Atem raste. Er hatte sich geschworen, die Hinrichtung unten an der Treppe zum Schafott durchzustehen. Doch nun stand er oben und wurde von Tausenden von Menschen beobachtet. Die ganze Menschenmasse schien das Schafott wie ein gefährliches dunkles Meer zu umschliessen, und Charles wusste, dass es kein Entrinnen gab, solange die Sache nicht beendet war. Er konnte nicht fliehen. Die Menge hätte ihn dafür gelyncht. Er hatte es durchzustehen. Er griff in seine Tasche und umschloss das Amulett, das ihm Grossmutter Dubut gegeben hatte.
Entschlossen ging er nun auf einen der Gehilfen, André Legris, den Henker von Orléans, zu und bot ihm einhundert Livre, falls er das Zangenreissen übernehmen würde. Obwohl André Legris wesentlich älter war als Charles und in seiner Stadt sehr geachtet, akzeptierte er sofort, dass er hier nur ein Gehilfe war und der minderjährige Charles Sanson die Kontrolle über das Schafott innehatte. »Ja, Monsieur de Paris«, antwortete er und nickte, wobei er den Kopf respektvoll senkte. Beinahe hastig nahm er die lange Zange und hielt sie ins Feuerbecken. Charles nahm seinem Onkel die glühende Pfanne aus der Hand und setzte sie wieder auf den Rost. Pater Gomart ging schweren Schrittes zu Damiens zurück und hielt sich erschöpft am Rande des Holzaltars fest. Erneut tupfte er den kalten Schweiss von Damiens’ schmerzverzerrtem Gesicht. Der Pater sagte etwas, aber kein Mensch konnte es verstehen. Auch ihm hatte es die Kehle zugeschnürt. Auch Doktor Boyer näherte sich Damiens. Er schien von Schwindel befallen und keuchte wie ein altes Pferd. Mit zitternder Hand befühlte er Damiens’ Puls. Er nickte dem Gerichtsdiener zu, der nun wiederum den Sansons zunickte. Charles gab André Legris das Zeichen. Sogleich setzte dieser die glühende Zange auf Damiens’ nackte Brust. Der Unglückliche bäumte sich auf, ohne einen Laut von sich zu geben, während die Zange ihm einen grossen Fetzen Fleisch mitsamt der Brustwarze aus dem Körper riss. Der Henker von Lyon, auch er nur ein Gehilfe hier in Paris, goss kochendes Öl in die blutende Wunde. Zischend verbrannte das Fett und verströmte erneut den Geruch von verschmortem Menschenfleisch über den Platz. Der Henker von Orléans riss nun klaffende Wunden in Arme, Bauch und Oberschenkel. Ein weiterer Gehilfe goss brennendes Harz in die eine Wunde und Schwefel in die anderen. Schliesslich griff der Henker mit der Zange nach Damiens’ Geschlecht und riss es aus. Wie in einem Wahn arbeiteten die Gehilfen das Urteil an dem sterbenden Körper ab, während Damiens wie besoffen vor Schmerz brüllte. Es klang bald wie das Röhren eines brünstigen Hirsches, dann wieder wie das herzzerreissende Wimmern eines Neugeborenen. Doch plötzlich schrie er wie von Sinnen: »Mehr, gebt mir mehr, ich liebe es, ich liebe es! Gebt mir mehr!« Diese Stimme hallte über den Platz wie ein Orkan. Sie hatte nichts Menschliches mehr an sich und liess die Massen erschauern. Die Stimme war das Gebrüll Satans aus dem Reich des Leidens und des Fegefeuers.
Damiens verlor erneut das Bewusstsein. Eine seltsame Stille legte sich über den Platz. Man hörte nur das Wiehern der vier Pferde am Fusse des Schafotts. Vier Gehilfen hatten je ein Pferd an den Zügeln genommen und zu je einer Ecke des Schafotts geführt. Nun warfen sie ihren Kollegen auf dem Schafott die langen Dressurzügel zu. Diese fingen sie auf und befestigten sie mit geübten Handgriffen an Armen und Beinen des kläglich verendenden Damiens. Es herrschte immer noch Totenstille. Selbst ein Räuspern auf dem Platz hätte man jetzt vernommen. Es hatte aufgehört zu regnen. Charles gab den Gehilfen, die neben den Pferden standen, das Zeichen anzufangen. Sie nahmen die Pferde am Halfter und führten sie vom Schafott weg. Nach wenigen Schritten blieben sie stehen. Damiens’ Körper widerstand. Sie versuchten es erneut. Vier sechshundert Kilo schwere Kolosse versuchten gleichzeitig, die Arme und Beine aus dem Rumpf eines Sterbenden herauszureissen. Damiens’ linkes Bein wurde dabei ausgerenkt, aber nicht abgerissen. Das Pferd, das das rechte Bein entwurzeln sollte, knickte ein und stürzte. Ein ohrenbetäubender Schrei des Entsetzens erfasste nun plötzlich die Menschenmasse. Wie konnte Damiens’ Bein der Kraft eines Pferdes widerstehen? Erneut wurden die Pferde angetrieben. Damiens’ rechtes Bein und beide Arme wurden nun ausgerenkt. Aber nach wie vor hielt sein Körper stand. Und abermals wurden die Pferde angetrieben. Sie setzten sich in Bewegung, doch die Glieder hingen immer noch am Rumpf. Charles wagte einen Blick auf Damiens. Er sah, wie sich dessen Arme und Beine in grotesker Art und Weise verlängert hatten, aber Muskeln und Sehnen hielten die Extremitäten immer noch am Rumpf. Es war kaum zu fassen. Der Anblick dieses geschundenen, zerrissenen, blutüberströmten, zuckenden Leibes, der wie ein Stück verbrannten Fleisches vor sich hinräucherte, raubte Charles beinahe das Bewusstsein. Ihm schien, als würden die Bretter des Schafotts unter ihm nachgeben. Pater Gomart fiel vor dem Sterbenden auf die Knie und hielt nun mit beiden Händen zitternd sein Kreuz. Immer lauter sprach er seine Gebete, als wollte er mit seiner eigenen Stimme all seine Gedanken vertreiben. Er schloss dabei die Augen, weil er das, was sie sahen, nicht mehr sehen wollte. Sein Gesicht war tränenüberströmt. Er schrie die Gebete verzweifelt zum Himmel hinauf. Charles nahm die feine Schnur vom Serviertisch und fragte den Gerichtsdiener, ob die Vertreter der Justiz das Retentum erlaubten. Das war eine geheime Klausel, die oft in den Strafurteilen enthalten war und dem Henker das Recht gab, den Verurteilten mit einer feinen Schnur heimlich zu erdrosseln, bevor man ihm alle Knochen brach oder ihn aufs Rad flocht. Der Gerichtsdiener schwieg. Er starrte über Charles’ Kopf hinweg. Zu spät bemerkte er, dass der Gerichtsdiener dabei war, das Bewusstsein zu verlieren. Er stürzte steif wie ein Brett zu Boden. Mitten auf das Gesicht. Das Blut floss in grossen Mengen aus seinem Mund. Charles legte ihn seitlich auf die Holzdielen, damit das Blut abfliessen konnte. Doktor Boyer kniete neben ihm nieder, nicht etwa um ihm zu helfen, sondern weil seine eigenen Beine ihn nicht mehr länger trugen. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem bewusstlosen Gerichtsdiener ab. Für die Menge machte es wohl den Anschein, als würde er diesen verarzten. Aber Doktor Boyer brauchte selbst einen Arzt.
Nun erfasste ein tiefes Grollen die Menschenmasse. Zuerst klang es wie ein entferntes Murmeln, doch dann wurde es lauter und heftiger. Wie im Sturm eroberte es das Schafott. »Trennen Sie die Muskeln, zerschneiden Sie die Sehnen«, keuchte Doktor Boyer und trieb Charles heftig nickend zur Eile an. André Legris stand bereits mit der Axt hinter Charles. Dieser nickte ihm zu. Rasch näherte sich der Henker von Orléans dem sterbenden Damiens und trennte mit fürchterlichen Axthieben Arme und Beine vom Rumpf. Die Pferde wurden erneut angetrieben und rissen Damiens in Stücke. Sein linkes Bein flog durch die Luft und klatschte dem sich aufrappelnden Gerichtsdiener ins Gesicht.
Damiens’ Rumpf atmete noch schwach. Er hatte die Augen weit offen, den Blick in den Wolkenhimmel gerichtet. Blutiger Schaum hatte sich auf seinen Lippen gebildet. Sein pechschwarzes Haar war plötzlich weiss wie Schnee. Ganz Paris sprach später davon, und alle grossen Tageszeitungen Europas erwähnten das Phänomen auf ihren Titelseiten. Aber es war nichts weiter als Asche.
Zaghaft begann die Menge zu applaudieren. Es war spät geworden. Onkel Nicolas gab seinem Neffen ein Zeichen, das Schafott abzuschreiten. Charles schritt langsam das hölzerne Viereck ab, während die Menge »Sanson, Sanson« skandierte. Dann blieb er auf der Westseite stehen und umfasste die Brüstung wie ein römischer Triumphator den Bügel seines Streitwagens beim Einmarsch in Rom. Tosender Applaus brandete über den Platz. Charles verzog keine Miene. Er senkte leicht den Kopf, als wollte er sich bei der Menge demütig bedanken. »Sanson, Sanson«, skandierten sie ohne Unterlass. Jetzt wirkte er eher wie ein gehorsamer Gladiator im alten Rom, der allein durch seine Körpergrösse und athletische Konstitution die Menge begeisterte. Charles liess seinen Blick immer wieder über die Menge auf der Place de Grève schweifen und realisierte nach und nach, dass Paris ihn feierte. Er spürte, wie eine ungeheure Kraft ihn durchflutete, und er fühlte sich plötzlich stark, unbesiegbar und mächtig. Er schritt zur Nordseite und nahm dort erneut Ovationen entgegen, dann schritt er nach Osten und schliesslich nach Süden. Auch hier verbeugte er sich kurz und wandte sich dann den Beamten der Justiz zu. Diese nickten ihm anerkennend zu. Sie waren zufrieden. Auch sein Onkel nickte ihm zu. Er schien überrascht, wie begeistert die Menge den neuen Monsieur de Paris verabschiedete.
Die Gehilfen übergaben Damiens’ Körperteile dem Feuer. Die Abenddämmerung legte sich wie Asche über ihre Häupter. Langsam begann sich die bluthungrige Meute aufzulösen und in den anliegenden Gassen und Strassen zu verschwinden. Die Menschen kehrten in ihre Villen oder ihre erbärmlichen Behausungen zurück. Als der Regen wieder einsetzte, standen immer noch Hunderte von Gaffern herum. Jetzt, da die Hinrichtung zu Ende war, nutzten einige die Gelegenheit, das Schafott aus der Nähe zu betrachten. Die Gehilfen begannen mit der Demontage. Charles stand immer noch oben an der Treppe, während der Leichnam des Gemarterten verbrannte und die Henker in beissenden Rauch hüllte.
Charles war in eine fremde Welt eingedrungen, in eine Welt, die schrecklich war. Er spürte, dass fortan das Blut, das seine Vorfahren vergossen hatten, auch in seinen Adern fliessen und sein Geschlecht auf immer besudeln würde. Er fühlte sich einsam und schämte sich, dass er den Applaus klammheimlich genossen hatte. Sein Verhalten widerte ihn an. Und so schwor er in jenem Moment, die Menschen fortan zu meiden. Er wollte nicht unter ihnen leben. Er wollte allein sein und sich von dieser fürchterlichen Rasse fernhalten. Er wollte nicht einer von ihnen werden. Es entsetzte ihn, dass er imstande gewesen war, das zu tun, und dass er sich alles insgeheim noch viel schlimmer vorgestellt hatte. War das schon alles? Ist mein Herz aus Stein, oder bin ich noch zu jung, um richtige Anteilnahme und Trauer zu empfinden?, fragte er sich. Wer den Schmerz nicht kennt, kann auch keine Anteilnahme für den Schmerz anderer empfinden. Das wusste er. Vielleicht war es so, vielleicht war es aber auch ganz anders. Er war hin- und hergerissen zwischen Ekel und Stolz.
Der Platz leerte sich nun sehr rasch. Und da entdeckte er sie in der abziehenden Menge: Dan-Mali. »O mein Gott«, entfuhr es ihm, und er stieg eilig die Treppe des Schafotts hinunter. Er wollte sie aufhalten und ihr alles erklären. Sollte denn dieser gottverdammte Fluch alles Schöne zerstören, was ihm in seinem weiteren Leben begegnen sollte? War denn das Opfer nicht gross genug, das er heute gebracht hatte? Musste er Dan-Mali verlieren, bevor er sie überhaupt gewonnen hatte? »Dan-Mali!«, schrie er, aber die zierliche Siamesin drehte sich nicht um. Die Menge verschlang sie. Er wollte ihr folgen, doch da trat ein Mann unter dem Schafott hervor und hielt ihn auf. Er hatte offenbar auf ihn gewartet. »Der Applaus galt Ihnen. Sie werden gefeiert.« Der junge Mann war vielleicht zehn Jahre älter als Charles, kleingewachsen, schmächtig und von sehr blassem Teint. Er trug einen hellbraunen Frack, eine teure Piquéweste, eine senfgelbe Hirschlederhose und Stulpenstiefel und nuckelte an einer Tonpfeife. Wichtigtuerisch sagte er: »Ich bin vom Courrier de Versailles. Gorsas mein Name.« Dabei starrte er in den Himmel, als sei er eine gewichtige Persönlichkeit, die für ein Gemälde posierte. »Sie haben bestimmt schon von mir gehört. Oder gelesen. Gelesen. Gorsas mein Name. Ich unterzeichne immer mit meinem Namen.« Er steckte sich die Pfeife wieder in den Mund. Sein ganzer Habitus hatte etwas Lächerliches, als versuchte ein Kind, einen Erwachsenen zu imitieren.
»Ich habe leider noch zu tun, Monsieur Gorsas.« Charles wandte sich von ihm ab und wollte weggehen, aber Gorsas folgte ihm schnellen Schrittes und stellte sich ihm erneut in den Weg. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund und tippte Charles gönnerhaft auf die Schulter.
»Nicht so schnell, Monsieur de Paris. Sagen Sie unseren Lesern, was Sie empfunden haben, als Damiens gevierteilt wurde.«
»Ich hoffte, es möge bald vorbei sein.«
Gorsas nickte gewichtig mit dem Kopf und setzte dann einen leidenden Gesichtsausdruck auf. »War wohl nicht einfach für einen jungen Mann wie Sie«, sagte er, »aber das Volk mag Sie. Sie machen eine gute Figur, Monsieur. Sie sind eine stattliche Erscheinung. Wissen Sie, die meisten Menschen geben nichts her und hüllen sich in edles Tuch. Aber Sie, Sie würden sogar nackt gewaltig imponieren. Wir sehen uns noch, Monsieur de Paris, ich habe Sie jetzt im Auge.«
Charles hielt erneut Ausschau nach Dan-Mali, liess es aber nach kurzer Zeit bleiben. Was hätte er ihr denn erzählen sollen? Sie hatte wahrscheinlich die ganze Hinrichtung verfolgt und ihn nicht aus den Augen gelassen. Dem gab es nichts hinzuzufügen. Sie hatte wohl längst ihr Urteil über ihn gefällt. Aber ihr Gesicht hatte er nicht wirklich gesehen. Vielleicht war sie es gar nicht gewesen. Es gab schliesslich noch mehr Frauen aus dem Königreich Siam in Paris. Aber die Angst, dass es doch Dan-Mali gewesen sein könnte, war so gross, dass er sich zutiefst schämte.
Charles konnte an diesem Abend nicht gleich nach Hause gehen. Onkel Nicolas sagte, er werde den Abbau des Schafotts überwachen und anschliessend die Henker und ihre Gehilfen zu einem Mahl in Jean-Baptistes Haus einladen. Grossmutter Dubut habe es so bestimmt, und auch dass die Henker in der Scheune übernachten sollten, bevor sie am anderen Morgen die Rückreise antraten. »Du hast heute eine grosse Leistung vollbracht, Charles«, sagte er noch, »eines Tages wirst du ein grosser Henker werden. Deinem Vater fehlte stets die Kraft für dieses Amt. Es war zu gross für ihn. Aber dir bringt man Respekt entgegen.«
Charles wollte etwas darauf entgegnen, denn es gab dazu einiges zu sagen, aber er schwieg. Vielleicht wollte er das Lob nicht trüben, das er soeben erfahren hatte. Er wusste es nicht. Wenn Menschen reden, tun sie so, als wüssten sie alles. Er wusste gar nichts mehr. Alles, was er zu wissen geglaubt hatte, war an diesem Abend mit Damiens’ Leichnam verbrannt. Und die überraschende Anwesenheit von Dan-Mali hatte ihm vor Augen geführt, dass er keine Chance für ein normales Leben mehr haben würde. Es quälte ihn fürchterlich, dass Dan-Mali ihn gesehen hatte.
Charles hetzte durch die Strassen, ohne Ziel. Er wollte unter keinen Umständen nach Hause und die Freude in den Gesichtern seines Vaters und seiner Grossmutter und all seiner Geschwister sehen. Das hätte ihn noch mehr gedemütigt. Denn was ihnen Freude bereitete, hatte ihn zutiefst verletzt, erschüttert, ja gebrochen. Er konnte es nach wie vor kaum fassen, dass der Mensch in der Lage war, einem Artgenossen so viel Leid und Schmerz zuzufügen. Und es war für ihn unglaublich, dass ganz Paris das hatte sehen wollen. Er hatte es nicht sehen wollen. Aber er hatte keine Wahl gehabt. Unruhig trieb er sich in der Nähe des Jardin du Palais Royal herum und überlegte, ob er eine der zahlreichen Spielhöllen aufsuchen sollte. Aber er hatte kaum Geld bei sich. Und um sich in eins der grossen Kaffeehäuser zu setzen, fehlte ihm die Ruhe. Er wollte das Geschwätz der Menschen über die Hinrichtung nicht hören. Was hatten die denn aus dieser Entfernung gesehen? Das Schafott auf der Place de Grève und Männer, nicht grösser als ein Daumen. Sie hatten Schreie gehört, aber sie hatten Damiens nicht in die Augen geblickt. Sie hatten seinen zerfetzten Körper nicht berührt. Aber er, Charles-Henri Sanson, er hatte alles aus nächster Nähe gesehen. Er hatte es getan.
Unterwegs begegnete Charles Menschen, die offenbar die Hinrichtung verfolgt hatten. Sie nickten ihm respektvoll zu, einige wechselten die Strassenseite, aber nicht aus Furcht, sondern weil er nun ein Grosser war. Charles musste sich nach und nach eingestehen, dass ihm dies doch etwas Genugtuung verschaffte. Trotz des Haderns wegen Dan-Mali. Die Menschen empfanden ihm gegenüber Bewunderung, Respekt, Achtung, vielleicht sogar Furcht. Das Gefühl von Macht schmeichelte ihm durchaus, das Gefühl, unantastbar zu sein. Unbesiegbar.
Unversehens war er in die Allée des Soupirs gelangt. Er verspürte Lust, in ein Bordell zu gehen. Er wollte sich erniedrigen lassen. Demütigen. Er wollte sich beweisen, dass er Dan-Mali nicht brauchte, nie gebraucht hatte. Doch dann verliess ihn der Mut, und er ging weiter. Er war entschlossen, so lange zu laufen, bis er erschöpft zusammenbrechen und einschlafen würde.
Gegen Mitternacht überkam ihn eine grosse Müdigkeit. Die Unruhe war gewichen. Er verlangsamte seinen Schritt und beabsichtigte, das elende Viertel, in dem er sich nun befand, zu verlassen und den Heimweg anzutreten. In diesem Augenblick löste sich eine dunkle Gestalt aus einem Torbogen und versperrte ihm den Weg. Er dachte zuerst an einen Überfall und griff instinktiv nach seinem Degen. Doch dann sah er in grosse, leuchtende Augen, in ein junges schwarzes Gesicht, und der grosse Mund formte sich zu einem sanften Lächeln. Sie hatte wunderschöne weisse Zähne, eine Seltenheit in Paris. Sie gab Charles zu verstehen, dass er ihr ins Haus folgen solle. Sie muss aus der Neuen Welt stammen, dachte er, sie war so lieblich, so herzlich und hatte nichts gemein mit all den weissen Menschen, die heute auf der Place de Grève stundenlang ausgeharrt hatten. Sie führte ihn durch einen engen, schwachbeleuchteten Flur, der nach ranziger Butter roch, in einen stickig heissen Raum, in dem sich leichtbekleidete schwarze Mädchen aufhielten. Sie standen alle um einen grossen Tisch herum. Darüber hing eine Öllampe, die mit einem roten Schirm abgedeckt war. So wurde das rötliche Licht an die Decke gelenkt und versetzte die Gesichter der Mädchen ins Halbdunkel. Hinter dem Tisch sass eine alte, beinahe zahnlose Frau. Das schwarze Mädchen führte Charles zum Tisch. »Drei Livre«, sagte die Alte in barschem Ton. Er legte die Münzen auf den Tisch. Die alte Frau reichte ihm eins der schmutzigen, geflickten Handtücher, die auf dem Tisch gestapelt waren. Das schwarze Mädchen nahm Charles bei der Hand. Die anderen Mädchen schauten ihnen nach. Sie schienen sie zu beneiden. Sie stiegen eine Treppe hinunter und gelangten in einen Keller, der durch einen schmalen Lichtschacht und ein Dutzend Kerzen beleuchtet wurde und nach alten Weinfässern roch. Charles hörte leises Atmen. Es waren noch andere Menschen im Raum. Die meisten lagen auf dem Rücken wie Verletzte in einem Lazarett und genossen still die Künste der Liebesdienerinnen. Fast geräuschlos gaben sie sich der Liebe hin. Das Mädchen führte Charles zu einer mit Stoff umwickelten Strohmatte, die zwischen Abfällen am Boden lag, und kniete nieder. Charles blieb stehen. Sie zog ihn sanft zu sich herunter, streifte ihren Rock über den Kopf und hielt ihn eine Weile vor ihre Brust. Dann lächelte sie und senkte ihre Arme. Charles hatte noch nie in seinem Leben einen nackten schwarzen Menschen gesehen. Er kannte dies nur aus Büchern. Ihr Busen war gross und fest, die Warzen dick und schwarz. Sie legte sich langsam auf den Rücken, ohne Charles aus den Augen zu lassen, und streckte dann ihre Arme nach ihm aus. Zögernd legte er seine Kleider ab. Sie griff nach seinem Glied, das bereits steif war, und zog ihn zu sich. Sie nahm ihn in die Arme. Er umfasste sanft ihre Hüfte und befühlte ihren Po, der sich wie ein kräftiger Apfel von ihrem Körper abhob. Als sie ihn in ihre Arme schloss, begann Charles zu weinen. Er versenkte seinen Kopf in ihrem Busen. Zärtlich fuhr sie ihm über den Kopf und flüsterte Worte, die er nicht verstand. Wie ein Kind schaukelte sie den Riesen in ihren Armen. Er weinte, aber er gab kein Geräusch von sich, er weinte ohne Ton. Er wusste nicht, ob er jemals wieder aufhören würde zu weinen. Ein Menschenleben war zu kurz, um all das Leid, das er heute gesehen hatte, mit Tränen herauszuwaschen. Er liess seinen Tränen freien Lauf, der Schmerz in seinem Innern löste sich. Das Mädchen streichelte sein Glied, bis es sich wieder versteifte, und setzte sich dann rittlings auf ihn. Charles wollte sich erheben, aber sie drückte ihn sanft auf die Matte zurück und stützte sich mit beiden Händen auf seiner Brust ab. In einem langsamen Rhythmus bewegte sie ihr Becken auf und ab. Sie schaute ihm dabei direkt in die Augen und nickte kaum merklich, als wollte sie andeuten, dass nun alles gut sei.