2

Jean-Baptiste Sanson fuhr mit Charles nach Paris. Die wertvollsten Arbeitsutensilien von Meister Jouenne hatte er auf den Fuhrwagen gepackt: nebst den Werkzeugen die ganze Pharmacie, die teuren Bücher und einen Haufen Kleider, aus denen man das Blut nicht mehr herauswaschen konnte. Eines Tages würde man die Flecken nicht mehr sehen, weil alles rot war, sinnierte Jean-Baptiste, während er die Pferde antrieb. Er sah das Blut längst nicht mehr, das aus den Verurteilten spritzte, wenn man ihnen mit dem Schwert den Kopf vom Rumpf trennte. In Jouennes Keller hatte er kleine Fässer mit Apfelschnaps gefunden. Die hatte er auch auf den Fuhrwagen geladen. Er würde den Schnaps brauchen. Seit er mit Charles das verwunschene Gehöft verlassen hatte, plagten ihn düstere Gedanken. Gab es diesen Fluch, oder gab es ihn nicht? Wenn er an Gott glaube, hatte Jouenne gesagt, dann müsse er auch an Flüche glauben. Und wenn der Fluch ein Werkzeug Gottes war, dann grenzte es an Lästerung, dagegen anzukämpfen. Er zweifelte eigentlich daran, dass alles, was sich auf der Erde abspielte, einem ausgeklügelten göttlichen Plan entsprang. Aber er wagte nicht, den Gedanken zu vertiefen. Zu stark war die Furcht, dafür bestraft zu werden. So fuhren sie schweigend durch die Wälder. Der kleine Charles sagte manchmal mit leiser Stimme: »Das ist ein Kastanienbaum« oder »Das ist eine Akazie.« Dann schaute er zu seinem Vater hinauf und wartete, bis dieser nickte. Sein Grossvater hatte ihn alles gelehrt. Charles kannte die Buchen, die weissen und die roten, die Ahornbäume, die Eberesche, den Spitzahorn und den Bergahorn, die Eibe und die Eiche. Sie alle begannen ihre Blätter abzuwerfen und den Waldboden mit einer gelbroten Laubschicht zu bedecken, als gelte es, den Weg gegen den Frost des nahenden Winters zu schützen. Unterwegs hielten sie kurz an, weil Charles Wasser lassen musste. Er trödelte verträumt herum und bückte sich nach etwas, das er im Laub gefunden hatte. »Ein Wurm«, sagte Charles und zeigte ihn seinem Vater, »ich habe noch nie einen so grossen Wurm gesehen.«

Jean-Baptiste lächelte matt und gab Charles ein Zeichen, wieder auf den Wagen zu steigen. »Lass den Wurm seine Arbeit verrichten. Zusammen mit den Milben und Asseln verarbeitet er das Laub zu Humus. So hat alles seinen Sinn.«

Charles nickte und bestieg den Wagen. Als sie aus dem Wald hinausfuhren, fragte er plötzlich, wieso sein Vater nun doch Henker in Paris werden wolle. Er habe doch diesen Beruf nie gewollt. Jean-Baptiste schaute seinen Sohn nachdenklich an. Schliesslich blickte er wieder über die Köpfe der trabenden Pferde nach vorn. »Ich will nicht, Charles, aber ich muss. Ich habe keine andere Wahl.«

»Du kannst doch etwas anderes tun, niemand sieht dich, niemand wird es wissen.«

»Da irrst du dich aber gewaltig«, sagte Jean-Baptiste bitter. »Hat ein Fluss denn eine Wahl? Er fliesst in seinem Bett, manchmal tritt er über die Ufer, aber er kann den Lauf nicht ändern und endet im grossen Ozean.«

Sie fuhren entlang den Apfelplantagen Richtung Paris. Jean-Baptiste erzählte ab und zu von seiner Jugend, von der Neuen Welt, doch Charles schwieg. Jean-Baptiste war sich aber sicher, dass sein kleiner Sohn aufmerksam zuhörte und dass seine Stimme ihn beruhigte.

»Ich werde Henker«, sagte Jean-Baptiste plötzlich, »damit du nie Henker werden musst. Ich liebe dich, Charles. Du bist wichtiger als mein eigenes Leben. Ich werde alles tun, damit du ein besseres Leben hast. Wenn es in einigen Jahren immer noch dein Wunsch ist, sollst du Arzt werden.«

In der Ferne sahen sie zwei Männer am Strassenrand stehen. Instinktiv legte Jean-Baptiste eine Hand auf den Knauf seines Degens. Als der Wagen die beiden Fremden erreicht hatte, baten sie, in den Wagen steigen zu dürfen. Es waren Tagelöhner, die in Paris Arbeit suchen wollten. Sie waren schäbig gekleidet, und der Hunger hatte ihre Körper ausgemergelt. Doch kaum hatten sie den Wagen bestiegen und die Henkersutensilien gesehen, sprangen sie entsetzt wieder herunter. »Das ist ein Henker!«, schrie der eine. »Warum gibt er sich nicht zu erkennen?«, brüllte der andere voller Zorn. Jean-Baptiste fuhr unbeirrt weiter, während einige Steine über seinen Kopf hinwegflogen. »Siehst du«, sagte er zu Charles, »da tust du deine Pflicht, und die Leute verachten dich dafür. Wir werden in Schimpf und Schande leben.«

Sein Sohn schaute zu ihm hoch und ergriff seinen Arm. »Wenn ich einmal Arzt bin, wirst du nicht mehr arbeiten müssen, Vater. Ich werde eine Mixtur erfinden, die Mutter geheilt hätte. Sie wird dann stolz sein auf mich.«

»Pläne sind gut, Charles. Sie geben ein Ziel vor, eine Richtung, doch wenn die Menschen Pläne machen, lacht Gott. Der ganze Himmel lacht. Denn dort oben verspottet man uns.«

Charles nickte, obwohl er nicht richtig verstand, welche Schwermut seinen Vater befallen hatte. Er legte den Arm seines Vaters um seinen Hals und drückte die Hand auf seine Brust. »Versprich mir, dass du mich nie verlässt.«

»Ich verspreche es dir, Charles, Gott ist mein Zeuge.«

Am Morgen des übernächsten Tages fuhren sie durch eins der zahlreichen Pariser Stadttore und warteten im Steuerhof auf die Zollbeamten. Jean-Baptiste zeigte den Passierschein des Pariser Gerichtshofes, und sie konnten ungehindert weiterfahren. Vereinzelte Bauern nutzten die sehr frühe Morgenstunde, um ihr Vieh auf die Märkte zu treiben. Nach Anbruch des Tages würde dies ein Ding der Unmöglichkeit sein. Jean-Baptiste liess sich den Weg weisen. Mit gemischten Gefühlen stellte er fest, dass man ihn immer tiefer in die verruchtesten Quartiere lotste. »Du suchst das Haus des verstorbenen Henkers?«, fragte einer. »Wir nennen es das Hotel des Henkers.« Es lag in der Rue Baltard im Schatten der gegenüberliegenden Häuser, die mehr Stockwerke hatten. Es war ein düsteres Haus, das von einem achteckigen Glockenturm überragt wurde. Das Gebäude, in dem man nachts angeblich die Seelen der Gehenkten und Geköpften wimmern hörte, lag an einem Marktplatz, der Tag und Nacht nach warmem Blut und Fischabfällen stank. Streunende Hunde liefen durch diese Brühe, die ihre Pfoten blutrot färbte. Hier hat es wenigstens Menschen, dachte Jean-Baptiste. Auch wenn diese ihn meiden würden, er würde trotzdem nicht ganz allein sein. Denn da war immerhin der Lärm tagsüber, der einem suggerierte, dass man nicht allein war. Seit Joséphines Tod hasste er die Einsamkeit.

Eine junge Frau Mitte zwanzig öffnete ihnen die Tür. »Ich bin Jeanne, die Tochter des Drechslers aus der Rue Beauregard«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Doch das Gesicht des kleinen Charles blieb regungslos. Als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, wich er zurück, als würde er von einer glühenden Reisszange bedroht. Jeanne insistierte nicht. Sie war von mittelgrosser Statur und wirkte sehr robust. Man sah ihren runden Gesichtszügen an, dass sie viel Zeit in der Küche verbrachte. Das lange braune Haar hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr Gesicht umrahmten und es noch etwas fülliger aussehen liessen. Sie führte Jean-Baptiste und Charles durch das kleine und enge Anwesen. Die Holzdecke des Wohnzimmers war der Boden des darüberliegenden Schafotts, wo an Markttagen Diebe und Verbrecher am Schandpfahl ausharrten. Hinter dem Haus war ein Hof. Daran angrenzend ein Pferdestall, eine Pharmacie sowie ein Schuppen, den noch nie jemand betreten habe, wie Jeanne erklärte, mit Ausnahme des verstorbenen Henkers. Jetzt standen sie alle drei im Hof. Ein Hund kam wedelnd auf sie zu. Charles ergriff wieder den Arm seines Vaters und legte ihn quer über seine Brust. Der Hund schnupperte an seiner Hose.

»Kann ich den Schuppen sehen?«, fragte Jean-Baptiste.

»Fragen Sie mich nicht, was der alte Henker dort gelagert hat. Ich weiss es nicht. Aber manchmal hat es ganz schön gestunken.« Mit einem diskreten Blick auf Charles gab Jeanne ihm zu verstehen, dass der Schuppen eher nicht für Kinderaugen geeignet war. Sie legte ihre rechte Hand über Charles’ Augen und wich mit ihm zurück. »Wir warten draussen.«

Jean-Baptiste trat ein. Ein scheusslicher Gestank schlug ihm entgegen. Der süsslich-penetrante Duft der Verwesung. Unter dem offenen Fenster war eine Liege. Darauf ein geköpfter Leichnam. Der Kopf lag zwischen den Knien. Offenbar hatte sein Vorgänger der gleichen Leidenschaft wie Meister Jouenne gefrönt, dachte Jean-Baptiste, und die Leichen der Hingerichteten seziert, bevor er sie am nächsten Tag zum Friedhof fuhr. Er näherte sich der Leiche. Es war stets seltsam, einen Körper ohne Kopf zu sehen. Es war gegen die Natur. Doch nichts konnte ihn mehr erschrecken. Er wusste, dass das Schicksal kein Erbarmen kannte. Er hatte gesehen, wie Menschen starben, in der Neuen Welt und in der Alten Welt, und sie starben nicht anders als Hunde und Vögel. Er hatte unermessliches Leid erfahren, und kaum etwas konnte ihn noch rühren. Nur der kleine Charles konnte ihm ab und zu ein Lächeln abgewinnen. Er liebte seinen Sohn. In dessen Augen lebte Joséphine weiter. Wenn Charles sich an ihn schmiegte, fühlte er sich ihr am nächsten.

»Ich würde mich gerne um euch beide kümmern«, sagte Jeanne, als Jean-Baptiste wieder in den Hof trat. »Ihr Vorgänger war sehr zufrieden mit mir. Er mochte meine Küche. Nach einer Hinrichtung stopfte er wie ein Tier alles in sich hinein. Er war so fett, dass der Leichenbestatter einen grösseren Sarg bestellen musste.«

Jean-Baptiste nickte. »Ja«, sagte er wie zu sich selbst, »Charles wird jemanden brauchen. Er hat sich irgendwie zurückgezogen, in eine andere Welt. Ich finde keinen Zugang zu dieser Welt. Sie ist furchterregend und finster.«

»Ich habe noch Eier, Speck und Gemüse«, sagte Jeanne. Jean-Baptiste blickte sie dankbar an. In ihrer Stimme war Wärme und Zärtlichkeit. Und wenn sie schwieg, wurden ihre Gesichtszüge noch milder, noch weicher. Man wünschte sich, von ihr in die Arme genommen zu werden.

Der neue Haushalt erwies sich als äusserst harmonisch und friedvoll, doch dem kleinen Charles gelang es nicht, dem Gefängnis seiner Seele zu entkommen. Er konnte sprechen wie die Jungen in seinem Alter, aber er blieb stumm. Er hatte einfach nichts mitzuteilen. Nur den Arm seines Vaters brauchte er manchmal. Am liebsten verbrachte er seine Zeit in der Pharmacie hinten im Hof. Hier war noch alles so, wie es Jean-Baptistes Vorgänger hinterlassen hatte. Charles liebte den Geruch der Pharmacie, die Aromen der Heilpflanzen und den Duft von staubigen alten Büchern.

Währenddessen verrichtete Jean-Baptiste seine Arbeit und vollstreckte mit den Gehilfen, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte, Strafurteile. Er erntete viel Lob von der Justizbehörde. Am Abend sass er gern in der Küche und schaute Jeanne beim Kochen zu. Aber er hielt es meist nicht sehr lange aus, denn ihre Fürsorglichkeit liess ihn seine geliebte Joséphine umso sehnsüchtiger vermissen. Dennoch hatte er zunehmend Mühe, sich ihre Gesichtszüge in Erinnerung zu rufen. Das Bild verblasste wie ein vergilbtes Stück Papier. Er hatte begonnen zu vergessen. Das schmerzte ihn unendlich. Es war wie ein Verrat an seiner grossen Liebe. Aber die Zeit war stärker. Wie die Wolken am Himmel zogen die Erinnerungen an ihm vorüber, lösten sich auf und kamen nur selten wieder. Nur in seinen Träumen sah er noch ihr Gesicht, hörte er ihre Stimme, und in dieser geheimen Welt küsste er sie. Und sie liebten sich erneut. Doch Paris verdrängte die Normandie. In Gedanken war er immer öfter bei seinen Leichen, die in seiner Vorstellung das Ausmass gigantischer Maschinen einnahmen, die man Stück für Stück entschlüsseln und begreifen konnte. Mit Jeanne sprach er nie über die Leichen. Sie wusste nicht, dass er sie sezierte.

Als sie ihn eines Tages fragte, ob er noch mehr Kohlsuppe wolle, antwortete er, er würde sie heiraten, wenn sie wolle. Er hielt eine Heirat für eine praktische Idee. Dann würde Jeanne den Haushalt nicht mehr verlassen. »Nur wenn Sie wollen, natürlich«, ergänzte er.

»Aber Monsieur Sanson«, erwiderte Jeanne mit gespielter Empörung und strahlte übers ganze Gesicht, »Sie haben mich noch nie geküsst, und Sie wollen mich heiraten?«

Er blickte von seinem Teller auf und schaute an ihr vorbei. »Muss ich Sie küssen, um Sie zu heiraten?«

»Ja«, sagte sie mit grosser Entschlossenheit und schmunzelte.

Er erhob sich vom Tisch und ging langsam auf sie zu. Er nahm sie in den Arm und hielt sie fest.

Jeanne drückte ihn so fest sie konnte an sich und schloss die Augen. »Sie müssen mich jetzt küssen, Monsieur Sanson«, sagte sie leise. Als er nicht reagierte, löste sie sich von ihm und schaute ihn misstrauisch an. »Sie weinen?«, fragte sie leise.

»Nein«, flüsterte er mit monotoner Stimme, »ich weine nicht. Der menschliche Körper besteht nicht nur aus Haut und Knochen, sondern auch aus Wasser. Und manchmal verliert er Wasser. Es ist nichts als Wasser, Jeanne. Es spült das Alte hinaus. Jetzt kann etwas Neues beginnen.«

»Lieben Sie mich denn, Monsieur?«, fragte sie.

»Ich werde für Sie sorgen, Jeanne.«

Das war für die junge Frau mehr wert als ein Liebesbekenntnis. Jede Hausangestellte in Paris wünschte sich einen Ehemann, der ihr finanzielle Sicherheit gab. Das war viel wichtiger als die Liebe. Liebe war nicht ausgeschlossen, aber sie war keine Voraussetzung für eine lebenslange gute Ehe. Der Altersunterschied spielte keine Rolle. Ältere Männer waren ruhiger und zuverlässiger und hechelten nicht mehr jedem Frauenzimmer nach. Und im Bett waren sie weniger grob.

Jeanne heiratete Jean-Baptiste nach Rücksprache mit ihrer Mutter in der Kirche Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle. Diese war sehr glücklich darüber. Endlich war ihre Tochter zur Ruhe gekommen, und sie musste sich nicht mehr Sorgen machen, wer eines Tages für sie aufkommen würde.

Charles war über diese Heirat gar nicht glücklich. Er gönnte zwar seinem leidgeprüften Vater die neue Frau an seiner Seite, aber ihm schien, als verlöre er dadurch den letzten Halt in seinem Leben. Er wollte seinen Vater mit niemandem teilen, auch nicht mit Jeanne, die er zu lieben gelernt hatte, als sie noch Magd gewesen war. Seine Beziehung zu ihr verschlechterte sich zusehends. Sie versuchte eine gute Stiefmutter zu sein, aber Charles lehnte sie ab. Bisher hatten er und sein Vater eine Magd gehabt. Jetzt war die Magd die Nummer zwei im Haus. Wenn sie ihn etwas fragte, gab er keine Antwort mehr. Und wenn sie energisch wurde, sagte er ihr ins Gesicht, sie sei nicht seine Mutter. Dies erzürnte sie so sehr, dass sie dem Jungen erst recht beweisen wollte, dass sie hier das Sagen hatte. Was sie aber noch mehr erzürnte, war die ambivalente Haltung ihres Ehemannes. Sie hätte sich gewünscht, dass Jean-Baptiste den frechen Bengel ab und zu zurechtwies, damit die Hierarchie im Hause Sanson klar war.

Eines Tages äusserte Jeanne den Wunsch, in ein anderes Haus zu ziehen, eines, in dem nicht das Blut der Geköpften zwischen den Holzbohlen des Schafotts ins Wohnzimmer hinuntertropfte. Sie wollte nicht mehr im Hotel des Henkers wohnen, sondern in einem gutbürgerlichen Haus in einem gutbürgerlichen Quartier. Wie andere rechtschaffene Menschen auch. Und sie nahm Jean-Baptiste das Versprechen ab, ein Klavier anzuschaffen.

Er gab ihrem Drängen nach und vermietete das Haus für sage und schreibe fünfhundertneunzig Livre. Das war mehr, als ein Tagelöhner im Jahr verdienen konnte. Er kaufte darauf das Haus in der Rue d’Enfer, ein schönes Anwesen mit Garten. Damit verlor Charles seine letzte Wurzel. Er hatte das Gefühl, im neuen Haus nicht mehr atmen zu können. Hier war er nicht zu Hause. Hier gab es keine Pharmacie. Die Bücher seines Grossvaters lagen auf dem Dachboden, und im Garten wuchsen keine Kräuter, sondern Beeren und Gemüse.

Durch die Geburt von drei Halbgeschwistern hatte er ohnehin an Bedeutung verloren. Jetzt zählten nur noch die niedlichen Kleinen, die ihn nachts mit ihrem Geschrei am Schlafen hinderten. Die Familie Sanson, das waren Vater Sanson, Stiefmutter Jeanne und ihre gemeinsamen Kinder. Er hingegen, so empfand er es, war die Brut einer vergangenen Zeit, einer erloschenen Liebe. Ein Fremder, an dessen Herkunft sich niemand mehr erinnern wollte. Er hasste dieses Haus, er hasste dieses Leben, und er wünschte, sein Grossvater, Meister Jouenne, käme zurück und würde für Ordnung sorgen.

Doch sein Grossvater kam nicht zurück. Stattdessen klopfte es eines Tages energisch an der Tür. Sie waren gerade beim Abendessen. Draussen war es noch hell. Jeanne öffnete die Tür. Vor ihr stand eine resolute ältere Dame, die die verblüffte Jeanne beiseiteschob und das Haus betrat.

»Wo ist mein Junge?«, rief sie mit lauter, rauer Stimme.

Jeanne schloss die Haustür und folgte der Fremden, die bereits in der Küche stand.

»Ich wusste, dass ich dich eines Tages finde!«, schrie sie und baute sich vor Jean-Baptiste auf, der sie verstört musterte. Sie setzte sich an den Tisch und griff nach dem Weinglas, das vor ihm stand. Sie trank es in einem Zug leer und schaute kurz auf die drei kleinen Kinder, die auf dem Küchenboden herumtollten und sich die Gesichter mit Marmelade einstrichen. »Sind das deine?«

Jean-Baptiste nickte und schaute verlegen zur verdutzten Jeanne, die sich wieder an ihren Platz gesetzt hatte.

»Haben Sie Hunger, Madame?«, fragte Jeanne höflich.

»Ja, gib mir endlich was zu essen.« Dann wandte sie sich erneut an Jean-Baptiste: »Weisst du eigentlich, wie grosse Sorgen ich mir damals gemacht habe? Hm? Und wozu das Ganze? Weil du nicht Henker werden wolltest! Und was ist aus dir geworden? Ein gottverdammter Henker! Du hättest dir die ganze Odyssee sparen können. Und mir all den Kummer, den du mir bereitet hast. Hattest du es denn besser in der Armee? In der Neuen Welt habt ihr doch die Wilden gleich im Dutzend niedergemetzelt. Dein Vater ist nie darüber hinweggekommen. Ich musste ihm am Sterbebett versprechen, dass ich dich finde, damit du das Erbe fortführst. Er sagte, ich solle dir sagen, dass du dem Fluch nicht entkommen kannst. Es ist die Erbsünde der Sansons.«

Jeanne servierte der Frau einen Teller Suppe und setzte sich wieder an ihren Platz. »Sie sind die Mutter?«, fragte sie scheu.

»Er hat dir wohl nie von mir erzählt? Das passt zu ihm.« Sie warf ihrem Sohn einen verächtlichen Blick zu und schaufelte die Gemüsesuppe in sich hinein. Sie schaute kurz auf und verlangte nach Brot und mehr Wein. Dann sah sie Charles im Türrahmen stehen. »Wer ist denn der da?«

»Das ist mein Sohn Charles. Seine Mutter ist gestorben. Sie war die Tochter von Meister Jouenne …«

»Ach, der Riese aus der Normandie. Du wirst sehen, der Kleine wird auch ein Riese. Ich erkenne das am Handgelenk. Komm her, mein Junge.« Charles näherte sich zögerlich. Sie ergriff seine Handgelenke und murmelte: »Jaja, das wird ein Riese.« Sie schaute Charles in die Augen. »Ich bin deine Grossmutter. Willst du mir keinen Kuss geben?« Charles rührte sich nicht von der Stelle. Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern und ass weiter.

»Als dein Vater starb, habe ich wieder geheiratet. Den Henker Dubut. Er soff wie ein Bürstenbinder. Er behauptete, dass man diesem Beruf nicht nüchtern nachgehen könne. Auch er hatte seine Frau verloren. Er war ein zartes Pflänzchen, das eine strenge Hand suchte. In einem eiskalten Winter ist er auf der vereisten Holzbrücke Saint-Louis ausgeglitten und in den Fluss gestürzt. Als sie ihn herausfischten und im Hof des Gasthofes zum Bären aufbahrten, sah er aus wie ein Eiszapfen. Ich habe gesagt, ihr braucht ihn nicht aufzutauen und zu trocknen, bringt ihn gleich unter die Erde. Seitdem habe ich die Nase gestrichen voll von Männern. In jungen Jahren sind Männer durchaus unterhaltsam, aber später werden sie zum Ärgernis, und wenn sie den Beruf aufgeben, stehen sie nur noch blöd herum und wollen einem beibringen, wie man einen Haushalt führt. Dabei können sie nicht mal ein Ei kochen.« Sie schaute kurz zu Jeanne. »Gib mir noch mehr. Ich habe eine lange Fahrt hinter mir. Kannst du überhaupt kochen?«

Jeanne nickte und schöpfte ihr nach. »Du hast ein gebärfreudiges Becken, Mädchen. Ihr werdet mir noch viele Enkel schenken. Da werdet ihr Hilfe brauchen.«

Jean-Baptiste, Jeanne und Charles erschraken. Grossmutter Dubut bot ihre Hilfe an. Das klang wie eine Drohung. Sie nahm zur Kenntnis, dass niemand über ihre Ankunft begeistert war, aber es war ihr gleichgültig.

»Mutter«, begann Jean-Baptiste leise, aber sehr bestimmt, »ich bin nicht mehr dein kleiner Junge. Ich war drüben im Krieg, als Offizier. Ich habe ein Bataillon kommandiert. Also sag mir nicht, was ich zu tun habe.«

»Jaja. Selbst wenn du General bist, bist du noch mein Junge. Und ich sage dir noch was: Ich gehöre nicht zu den alten Weibern, die sich stumm in einer Ecke verkriechen und ihr Gnadenbrot in heisse Milch tunken. Ihr braucht hier jemanden, der Erfahrung hat und euch zur Hand geht.«

Von diesem Tag an herrschte Grossmutter Dubut über den Haushalt der Sansons. Sie war trotz ihres fortgeschrittenen Alters ein Energiebündel, das ihre Mitmenschen so behandelte, als seien sie allesamt Häftlinge auf ihrer imaginären Galeere, die sie mit wuchtigen Trommelschlägen antrieb. Wie eine feindliche Kavallerie war Grossmutter Dubut in Paris eingefallen. Jetzt war sie hier. Und hier wollte sie bleiben. Seltsamerweise konnte Jean-Baptiste der alten Frau nicht Paroli bieten. Zu tief waren Respekt und Gehorsam gegenüber der Familie verankert. Die Familie war so sankrosant wie Gott und seine Erzengel. Man konnte sich nicht dagegen auflehnen. Charles empfand nun fast ein wenig Mitleid mit seiner Stiefmutter Jeanne, die kaum noch etwas zu sagen hatte. Sie hatte wieder die Stellung einer Magd, einer gebärenden Magd. Der neue General im Haus hatte sie dazu degradiert.

Nach der Geburt des siebten Kindes starb Jeanne. Sie starb, als habe sie sich der Herrschaft von Grossmutter Dubut entziehen wollen. Nun wollte Charles endgültig dieses fürchterliche Haus verlassen. Er begriff allmählich, in welche Familie er hineingeboren worden war. Allesamt Henker. Es war eine furchtbare Familie. Nach und nach lernte er sie alle kennen, die Tanten und Onkel und all seine Cousins. Grossmutter Dubut holte sie alle nach Paris. Gemeinsam übten sie Druck auf Charles aus und glorifizierten das Amt des Henkers. Dass Charles Arzt werden wollte, empfanden sie als Affront gegen die Familie. Charles hasste sie alle. Er hatte sich diese Familie nicht ausgesucht, aber er hatte nur sie, überlegte er. Ohne Familie war er wie ein Deserteur in der Neuen Welt, der sich in den Wäldern des hohen Nordens oder irgendwo am Ufer der Hudson Bay in einem Wigwam verkroch. Allein unter fremden Stämmen mit fremden Sitten. Auf sich allein gestellt. Die Familie hingegen war eine Burg, aber auch ein dunkles Verlies. Licht brachten einzig die Musik, das Klavier und die Melodien, die er diesem Instrument entlocken konnte. Seine Schwester Dominique hatte ihm die Welt der Klänge eröffnet und unterrichtete ihn am Klavier. Sie sassen oft nebeneinander auf der Holzbank und entlockten dem Instrument zärtliche, warme Töne. Manchmal schien es, als würden sie über die Tasten miteinander sprechen. Sie sagten sich Dinge, die sie mit Worten nicht hätten ausdrücken können. Die Musik wurde Charles’ ständiger Begleiter. Ganz gleich, wo er sich aufhielt, er hörte stets die schönen Melodien und fühlte sich dabei seiner Lieblingsschwester Dominique sehr nahe.

Als die Zeit gekommen war, bat Charles seinen Vater, ihn auf eine Schule zu schicken, um Medizin zu studieren. Obwohl eine Privatschule nicht ganz billig war, willigte Jean-Baptiste sofort ein, weil er sich dadurch mehr Frieden im Haus erhoffte, aber auch weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er sich zu wenig um seinen Sohn gekümmert hatte, der ihm seit Joséphines Tod fremd geworden war.

Grossmutter Dubut hingegen war von der Idee gar nicht begeistert. Sie hielt dies für pure Geldverschwendung. Vielleicht fürchtete sie aber auch, dass Charles eines Tages zurückkam und über eine Bildung verfügte, die sie nie gehabt hatte. Sie hatte zwar die Meinungshoheit über jegliches Wissen, aber dieses Wissen war so dürftig, dass sie sich nur mit Härte, Druck und Terror behaupten konnte. Sie hielt Wissen generell für unnütz und pflegte zu sagen, dass ein Baum schon zu Lebzeiten Jesu ein Baum gewesen sei. Was gebe es da an Neuem zu entdecken? Für sie gab es nur körperliche Arbeit, Disziplin, Pflichterfüllung, und jede Gefühlsäusserung geisselte sie als Schwäche.

Jean-Baptiste setzte sich durch und beschloss, Charles auf die Klosterschule in Rouen zu schicken. Sie hatte ihren Ursprung im Collège de médecine, das bereits im Jahre 1605 gegründet worden war. Hier wurden die Ärzte der Zukunft ausgebildet.

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