11

Am 21. Januar 1793 notierte Charles in sein Tagebuch: »Der Tod des Königs.« Schwierig, dieses Ereignis in Worte zu fassen, denn bisher galt der König als unantastbar, geradezu als von Gott gesandt. Bevor die Kirchenglocke an diesem Morgen acht Uhr schlug, setzte sich Charles mit seinen Gehilfen Barre, Firmin, Desmorets und Gros in einen Wagen und fuhr los. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto zahlreicher wurden die Menschen in den Strassen. Schliesslich waren es Massen, dichtgedrängt, die ihren Wagen umklammerten wie ein grosser Krake. Charles und seine Gehilfen passierten einen Militärkordon nach dem anderen. Es waren Tausende mit Gewehren und Piken bewaffnete Soldaten, die unter Santerre, dem neuen Befehlshaber der Nationalgarde, die Strassen sicherten. Es herrschte eine gespenstische Stille. Kein Gejohle, keine Rufe, einfach Stille, als hätten sich alle zu einer sakralen Handlung zusammengefunden. Als sie schliesslich gegen zehn die Place de la Révolution erreichten, thronte das Blutgerüst mit der majestätischen Guillotine bereits über dem Platz. Erneut war Charles von dieser Erscheinung beeindruckt. Das Gerüst unter freiem Himmel hatte eine Erhabenheit, als würde hier ein zeremonielles Opfer dargebracht.

Henri stand bereits auf der Plattform des Podests. Er gab einem berittenen Soldaten ein Handzeichen, seinem Vater den Weg zu bahnen. Charles fühlte, wie sich seine Brust immer heftiger hob und senkte. Er tastete unter seine Jacke und versicherte sich, dass Dolch, Pistole, Pulverbüchse und Kugeltasche noch fest verzurrt waren. Er hatte Angst. Die Drohbriefe in den letzten Tagen waren so zahlreich gewesen, dass er nicht daran zweifelte, dass man den Verurteilten befreien würde. Immer wieder schaute er zum Ausgang der Rue de la Révolution, er konnte keine Bewegung in den Massen ausmachen, keine Kutsche, die den Unglücklichen zum Schafott fuhr. Doch plötzlich hörte er Geräusche von Hufen und Rufe. Ein Kavalleriekorps sprengte heran. Die Oberkörper der Kavalleristen ragten aus der Menge, und dann sah Charles die königliche Kutsche. Er setzte sich kurz auf das Brett der Guillotine und atmete tief durch. Ihm wurde schwarz vor Augen. Der Schweiss trat ihm aus allen Poren. Es kostete ihn Überwindung aufzustehen. Er fühlte keinen Halt mehr unter den Füssen. Die Holzbohlen bewegten sich und schienen davonzuschwimmen. Er dachte an Gabriel. Er dachte an Dan-Mali, und schon bald wusste er nicht mehr, woran er gerade gedacht hatte. Nur ein grauenhaftes Gefühl der Beklemmung erfasste ihn.

»Geh nach unten«, sagte Henri, »warte am Fuss der Treppe, und gib mir das Zeichen.« Charles nickte. Eine Totenstille hatte sich über den Platz gelegt. Man hörte nur noch die Pferdehufe.

Die königliche Kutsche hielt vor dem Schafott. Soldaten lösten sich aus ihren Reihen und bildeten ein Viereck um die Kutsche. Dann stieg der König aus. Ruhig, nachdenklich, aber ohne jegliches Zeichen von Panik. Er wirkte würdevoller und erhabener, als Charles ihn in Erinnerung hatte. Sein irischer Priester stand ihm zur Seite und murmelte Gebete. Desmorets ergriff die Initiative, während Charles und die anderen drei Gehilfen wie versteinert den Verurteilten anstarrten. Voller Ehrfurcht und Respekt erklärte Desmorets dem Todgeweihten, dass es gemäss Vorschrift seine Pflicht sei, ihm seine Kleider abzunehmen. Er wollte nach dem Rock des Königs greifen, doch dieser wich empört zurück. »Nehmt meinen Rock, aber rührt mich nicht an!«, sagte der Mann, der vor kurzem in ganz Europa noch als König Louis XVI bewundert worden war. »Wir müssen dir auch die Hände binden und Haare und Kragen entfernen. Das ist Vorschrift, Bürger Capet.« Er nannte ihn tatsächlich Bürger Capet.

Plötzlich sah der König Charles direkt in die Augen, und alle Energie und Kraft wichen aus Charles’ Körper. Für einen Augenblick wollte er niederknien und den König der Franzosen um Verzeihung bitten. Aber dann kam ihm die Würde seines Amtes in den Sinn. Wegen dir sind Tausende gestorben, dachte Charles, Hunderttausende, und dank der Revolution haben wir Menschen unsere Würde zurückerhalten. Wieso zum Teufel hast du nicht frühzeitig und freiwillig auf den Thron verzichtet? Weil du alles behalten wolltest, hast du nun alles verloren. Der Tod des Königs ist der Preis für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Charles ging ein paar Schritte auf den König zu. »Das Binden der Hände ist notwendig. Wir können sonst unsere Arbeit nicht ausführen«, sagte er leise. Der König nickte, ohne seinen Henker anzuschauen. Doch er rührte sich nicht. Charles bat den Priester, ihm behilflich zu sein. Dieser begriff schnell und flüsterte dem König etwas zu. Sichtlich gedemütigt legte der König die Arme hinter den Rücken. Charles konnte nun die Hände binden, die das Zepter der Könige Frankreichs gehalten hatten. Bevor Louis Capet die Treppe zum Schafott hochstieg, küsste er das Marienbild, das ihm der irische Priester vor den Mund hielt. Kaum hatte er die Plattform des Schafotts erreicht, wandte sich der Bürger Capet an das Volk, das nicht mehr seines war, und schrie mit fester, klarer Stimme: »Franzosen, ihr seht euren König bereit, für euch zu sterben. Könnte doch mein Blut euer Glück besiegeln. Ich sterbe ohne Schuld.«

Santerre bahnte sich mit seinem Pferd einen Weg zum Schafott und gab den Trommlern ein Zeichen, sofort die Schlägel zu rühren. Die letzten Worte des Königs gingen im ohrenbetäubenden Trommelwirbel unter. Charles drehte sich nach dem irischen Priester um, doch im gleichen Augenblick sauste das schwere Fallbeil herunter, und das königliche Haupt purzelte in den Korb. Charles hatte gar nicht bemerkt, dass man den König bereits auf das Brett geschnallt hatte. Henri nahm den Kopf aus dem Weidenkorb, während eine riesige Blutfontäne aus dem stämmigen Rumpf schoss. Für einen solchen Stiernacken hatte es tatsächlich eine abgeschrägte Klinge gebraucht. Während Henri den Kopf der Volksmenge zeigte, eilten einige mit ihren Taschentüchern zum Schafott. Es gab vereinzelte Rufe »Es lebe die Republik!«, aber ein betretenes Schweigen dominierte den Platz. Die Leute waren peinlich berührt. Jetzt hatten sie tatsächlich ihren eigenen König guillotiniert.

Charles wurde erneut von einem Schwindel heimgesucht. Bei aller Vernunft empfand er die Tat wie einen Verrat, eine Todsünde, einen Vatermord, und er war überzeugt, dass ihn der Rumpf des Königs in seinen Träumen verfolgen und er in der Tiefe seines Weinglases fortan dessen Kopf mit diesem merkwürdigen Ausdruck sehen würde, der Verblüffung und Erstaunen ausdrückte. Aber er würde diesem Kopf Paroli bieten, denn er hatte es verdient, vom Rumpf getrennt zu werden. Er hatte sein Volk verachtet. »Es lebe die Republik!«, skandierten nun immer mehr Menschen.

Die Gehilfen begannen mit der Demontage der Maschine, während Charles und Henri die Leiche des Königs in ihrem Fuhrwagen zum Friedhof Madeleine fuhren. Sie wurden von Soldaten eskortiert. Kein Souvenirjäger sollte sich an den Kleidern des Königs vergreifen.

Auf dem Friedhof wartete bereits Marie Grosholtz. Widerstandslos erhielt sie den Kopf des Königs und machte sich sofort an die Arbeit, während Charles und Henri den Rumpf entkleideten. Nichts war königlich an diesem toten Körper. Bleich, fett, ohne Würde. Selbst seine Geschlechtsteile waren nicht spektakulär. Nichts von all dem, was er gehortet hatte, hatte er mitnehmen können in die andere Welt. Weder sein Gold noch seine Jagdhunde, noch den Spiegelsaal von Versailles.

Die Zunge zwischen die Zähne gepresst, arbeitete die verrückte Marie blitzschnell und routiniert am Abguss. Talent und Leidenschaft konnte man ihr nicht absprechen. Sie beendete ihre Arbeit rasch. Mit einem Strahlen im Gesicht verabschiedete sie sich. Ihre Kutsche wartete. Ihr schien dieser abgeschlachtete, blutige Leichnam nicht im Geringsten zuzusetzen. Sie lebte nur für ihre Wachsfiguren.

Als Charles den Friedhof verlassen wollte, stand ein kleiner Mann beim Tor. Er trug eine senfgelbe Hose und nuckelte an seiner Pfeife. Gorsas. »Ich wollte mal mitansehen, wie die Kleine die Totenmasken abnimmt. Aber offenbar komme ich zu spät. Halb so schlimm, es werden noch viele Köpfe rollen.« Gorsas stellte sich den Pferden in den Weg. »Kommen Sie, Monsieur de Paris, ich lade Sie zu einem Glas Wein ein. Wir müssen reden.«

Eigentlich hatte Charles zum Jesuitenkloster fahren wollen. Aber er spürte, dass er Gorsas begleiten musste. Vielleicht hatte er ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Vielleicht war er in Gefahr.

Gemeinsam fuhren sie zum Etablissement an der Rue des Deux-Portes. Das Haus war gut besucht, wie meistens nach einer Exekution. Man besprach den Fall und kam jeweils zum Schluss, dass der Verurteilte den Tod verdient hatte. Man demonstrierte damit seine Loyalität gegenüber der Revolution. Die Dienste der Mädchen waren weniger gefragt. Man genoss zwar die Atmosphäre und die viele nackte Haut, aber in erster Linie war man hier, um öffentliche Bekenntnisse abzulegen.

In der Mitte des Hauptsaals sassen die nun mächtigsten Männer Frankreichs: Robespierre und Saint-Just. Selbstbewusst streckten sie die Arme auf den breiten Polstern ihrer Sessel aus. Sie hatten die Guillotine und die Befehlsgewalt darüber. Charles fühlte sich schäbig, ausgenutzt.

»Ich hörte, Sie führen ein Tagebuch«, sagte Gorsas leise, »darf ich mal darin lesen?«

Charles schüttelte irritiert den Kopf. »Wie sollte ich Zeit finden, ein Tagebuch zu führen? Und für wen? Ich habe kein Bedürfnis danach.«

»Na so was, in den Druckereien sind die Tagebücher ausverkauft, aber kein Mensch führt Tagebuch. Wozu kaufen die Menschen sie bloss?« Gorsas grinste vielsagend.

»Das kann viele Gründe haben«, sagte Charles.

»Ich habe bei den Druckereien ein bisschen recherchiert und erfahren, dass Sie ein treuer Kunde sind.«

»Ich brauche sie, um Buch zu führen. Das schreibt mir mein Amt vor. Ich halte die Namen der Verurteilten fest, ihren Beruf, den Grund ihrer Hinrichtung und erstelle eine Inventarliste über ihre letzten Habseligkeiten.«

Gorsas nickte und schmunzelte dabei vieldeutig. Er glaubte Charles kein Wort. »Auch wir Journalisten stehen mächtig unter Druck«, sagte er. »Am liebsten wäre es der Revolutionsregierung, wir würden jeden Tag Bürger verleumden, die man dann unter die Guillotine schicken kann. Aber jeder Bürger ist ein potentieller Leser!« Er lehnte er sich nach vorn und flüsterte Charles zu: »Schauen Sie mal da drüben, unsere neuen Könige.« Er grinste übers ganze Gesicht.

Robespierre hatte Gorsas erkannt und rief ihm zu: »Gorsas, schreiben Sie es auf: Was die Republik ausmacht, ist die vollständige Ausmerzung dessen, was gegen sie ist.«

»Dann wird der Wohnraum in Paris bald sehr günstig«, sagte Gorsas und bestellte Champagner.

»Man muss nicht nur die Verräter in unserem Land bestrafen, sondern auch die Gleichgültigen, jeden, der passiv ist und nichts für die Revolution tut«, fügte Saint-Just mit gewichtiger Miene hinzu.

Robespierre pflichtete ihm bei: »Die Deutschen marschieren im Norden, die Briten im Süden. Marseille hat britische Truppen zu Hilfe gerufen. Wir müssen die Stadt dem Erdboden gleichmachen und fortan ›Stadt ohne Namen‹ nennen, als Warnung. Nur mit beispiellosem Terror können wir die Konterrevolutionäre im Innern ausmerzen, damit wir freie Hand haben für den äusseren Feind an unseren Grenzen.«

»Patrioten«, sagte Gorsas mit einem etwas zynischen Gesichtsausdruck, »soeben habe ich vernommen, dass auch Lyon in britischer Hand ist. Jetzt sind bereits zwei Drittel der dreiundachtzig Departements gegen die Freiheit. Na so was.«

»Sie werden bald alle für uns sein«, sagte Robespierre, »ob aus Überzeugung oder aus Angst, mir ist es egal. Wer jetzt noch den Gemässigten spielt, kann sich schon mal für die Guillotine die Haare schneiden. Es mag sein, dass wir tausend Unschuldige köpfen, aber das ist immer noch besser für die Revolution, als einen Gemässigten zu übersehen.«

»Lieber überfüllte Friedhöfe als überfüllte Gefängnisse«, sagte Saint-Just trocken.

»Kennen wir uns?«, fragte Robespierre, an Charles gewandt.

»Noch nicht«, antwortete Charles und verliess den Raum.

Als Charles und Gorsas das Etablissement verliessen, sprach keiner ein Wort. Stumm gingen sie die Strasse entlang und blieben dann an der Ecke stehen. »Heute war kein Tag, um Champagner zu trinken. Ich muss aufpassen«, sagte Gorsas, »ich habe mir zu viele Feinde gemacht. Irgendwann steht mein Name auf der Liste, und ich spucke in den Sack. Haben Sie schon jemals einen Freund guillotiniert?«

Charles schüttelte den Kopf.

»Sie werden es noch erleben«, sagte Gorsas.

»Warum haben Sie mich heute eigentlich eingeladen?«

Gorsas schaute Charles lange an. »Man weiss heute nicht mehr, wem man trauen kann. Der heutige Abend hat mir gezeigt, dass es gefährlich ist, jemandem zu vertrauen. Hat Sie der Grand Orient de France eigentlich kontaktiert?«

»Nein«, antwortete Charles, »sollte er?«

Gorsas zuckte die Schultern. »Die Menschen haben Angst, Monsieur. Die Angst ist stärker als jedes Gesetz.« Er nuckelte an seiner Pfeife.

»Was wollten Sie mir heute Abend mitteilen, Bürger Gorsas?«

»Ich?«, fragte Gorsas mit scheinheiliger Miene.

»Ja!«, brummte Charles und schaute ihm eindringlich in die Augen.

Gorsas wich seinem Blick aus und schüttelte leicht verwirrt den Kopf. »Ich muss nach Hause, Bürger Sanson, es ist schon spät.« Etwas überstürzt bog er in die schwachbeleuchtete Rue de la Verrerie ein.

Charles folgte ihm. »Wovor haben Sie Angst?«

Gorsas blieb nicht stehen. »Sollte ich?« Er beschleunigte seinen Schritt.

»Ich weiss es nicht. Aber ich sehe, dass Sie Angst haben. Ich kann Menschen lesen, Monsieur. Ein Henker fühlt die Angst der andern.« Er legte Gorsas die Hand auf die Schulter. »Wovor haben Sie Angst?« Sein Ton war beinahe väterlich.

Gorsas schüttelte nervös den Kopf, als wollte er diese Frage nicht mehr hören.

»Ich habe Sie eine Weile nicht mehr gesehen«, sagte Charles. »Waren Sie in Ketten?«

»Nein, nein«, entfuhr es Gorsas blitzschnell, und er schaute ängstlich um sich, »ich war in London, nicht ganz ungefährlich in diesen hektischen Zeiten, aber ich war in London, Monsieur.«

»Warum sind Sie zurückgekommen? Das war nicht klug.«

»Nein, nein, es ist nicht das, was Sie jetzt denken. Ich war beruflich in London. Als Journalist. Kennen Sie die Bank Boyd, Ker & Co.? Das war die stolze Bank des jungen Walter Boyd. Er war mit einer sehr hübschen Kreolin verheiratet. Gemeinsam besuchten sie alle Anlässe des Pariser Geldadels und akquirierten Neueinlagen. Das missfiel unseren Revolutionären. Sie beschlagnahmten seine Bank.« Gorsas zuckte plötzlich zusammen und versuchte, in der Dunkelheit zu erkennen, was dieses seltsame Geräusch verursacht hatte. Ein Fenster wurde geschlossen. Jemand hatte Abfälle in die Gasse geworfen. »Der junge Mann hatte aber einen sechsten Sinn«, fuhr er fort. »Er floh in der Nacht, in der er verhaftet werden sollte, nach London. Und wissen Sie, was er mitgenommen hat?«

»Sie werden es mir sagen«, murmelte Charles. Er wollte eigentlich keine Geheimnisse hören. Das brachte ihn bloss in Gefahr. Einige Hunde rannten an ihnen vorbei und stürzten sich auf die Abfälle, die nun in der Gasse verstreut herumlagen.

»Gold«, flüsterte Gorsas, »das Gold des Pariser Adels. Er hat die Vermögen der Royalisten in Sicherheit gebracht. Ich bin nach London gefahren, um mit ihm ein Gespräch zu führen. Und er hat mir etwas gezeigt, nein, er hat mir etwas mitgegeben …«

»Und das macht Ihnen Angst?«, fragte Charles misstrauisch.

»Ja, sehr grosse Angst sogar. Denn wenn jemand weiss, dass ich es weiss, stehe ich vor Ihnen auf dem Schafott.«

»Dann möchte ich es lieber nicht wissen«, sagte Charles und blieb stehen.

Gorsas beschleunigte erneut seinen Schritt und bog in die nächste Gasse ein. Sie war kaum beleuchtet. Charles nahm die entgegengesetzte Richtung.

Charles wollte noch nicht nach Hause. Er begab sich zum Jesuitenkloster. Ein Pater öffnete die Tür. Als sich Charles nach Dan-Mali erkundigte, bedauerte der Pater, man sei in der Kapelle versammelt und halte eine Andacht für Pater Gerbillon. Dann sagte er noch: »Es ist besser, wenn Sie nicht mehr herkommen. Besuche sind gefährlich.«

»Ich muss Dan-Mali sehen«, sagte Charles ohne Umschweife.

»Dafür ist es jetzt ohnehin zu spät«, sagte der Pater, »wir schicken die Siamesen in ihre Heimat zurück. Wir werden die Aktivitäten von Pater Gerbillon nicht weiterführen.«

»Aber ist sie denn noch hier in Paris?«

»Gehen Sie jetzt.« Der Pater wollte die Tür schliessen, doch Charles setzte seinen Fuss dazwischen.

»Ich gehe erst, wenn Sie mir versprechen, ihr auszurichten, dass ich sie gesucht habe.«

»Nun gut«, sagte der Pater schliesslich, »ich werde es ihr ausrichten.«

Die nächsten Tage verstrichen, ohne dass Dan-Mali erschien. Charles hatte immer mehr Menschen hinzurichten, und er sah, dass seine Gehilfen abstumpften. Aber auch die zum Tode Verurteilten stumpften ab. Kaum einer wehrte sich auf der Fahrt zum Schafott gegen die Exekution. Zu lange hatten sie in der Angst gelebt, denunziert zu werden. Jetzt war es endlich vorbei. Der Tod wurde zur Erlösung.

Mit der Trauer ist es wie mit einem Muskel, dachte Charles. Man kann trauern, so viel wie man will oder muss, aber mit der Zeit erschlafft der Muskel. Gabriel beherrschte nicht mehr von morgens früh bis abends spät seine Gedanken, doch er träumte jede Nacht von ihm. Er hörte ihn Klavier spielen. Und er weinte im Schlaf. Wenn er aufwachte, waren seine Augen nass von den vielen Tränen, die er in seinen Träumen vergossen hatte.

»Gabriel war ein guter Junge. Ich hätte ihn nicht mitnehmen dürfen. Sein Reich war die Musik.« Charles sass mit Henri in der Küche. Sie tranken Wein.

»Du bist nicht verantwortlich für jeden Schritt, den jemand tut, du kannst nichts dafür, wenn er stolpert oder ausgleitet«, sagte Henri.

»Aber dein Bruder ist von meinem Schafott gestürzt. Und ich hatte ihn hinaufbeordert. Er wollte mir einen Gefallen tun und ist dabei gestorben. Habe ich ihm zu wenig Liebe geschenkt, dass er mir diesen Gefallen tun wollte?«

»Fouquier ist schuld, Vater, wieso wollte er die Exekutionen abends bei Fackelschein? Ich hoffe, ich werde ihn eines Tages höchstpersönlich auf das Brett binden.«

Einige Tage später, Charles hatte sich erneut entschlossen, das Jesuitenkloster aufzusuchen, sah er Dan-Mali die Strasse zu seinem Haus hinaufkommen. Er konnte nicht mehr an sich halten und begann zu rennen. Sie warf sich in seine Arme. »Lass mich nie mehr allein«, flüsterte sie.

Er hielt sie fest. »Ich war gerade unterwegs zum Kloster«, sagte er.

»Ich muss nach Siam zurück«, sagte sie bekümmert, »aber ich möchte bei dir bleiben.«

»Du kannst selbstverständlich bei mir bleiben.«

Eng umschlungen entfernten sie sich vom Stadtzentrum und setzten sich schliesslich auf eine niedrige Mauer, die ein grosses Grundstück umschloss. Auf der angrenzenden Weide grasten Pferde.

»Ich werde dir helfen können. Wir haben damals nicht nur Französisch gelernt«, sagte Dan-Mali nach einer Weile, »wir haben auch viel über den menschlichen Körper, über Pflanzen, über andere Länder und über Mathematik gelernt. Auch Pater Gerbillon hat mir viel beigebracht. Er war ein schlechter Mensch, aber er hat mich viel gelehrt.«

Gemeinsam kehrten sie ins Haus zurück und unterhielten sich lange in der Pharmacie.

»Ich werde dich nicht mehr alleinlassen«, sagte Charles. »Komm, wir essen etwas. Jetzt wird sich vieles ändern. Ich werde mein Amt voraussichtlich zum Monatsende an meinen Sohn Henri übergeben. Ich werde nicht mehr gebraucht. Ich bin frei.«

Dan-Mali erhob sich und küsste Charles schüchtern auf die Stirn. »Ich komme morgen wieder, aber heute Abend muss ich zurück. Die Patres haben es nicht gern, wenn ich die Zeiten nicht einhalte.«

»Versprich mir, dass du nicht nach Siam zurückkehrst. Ich warte auf dich.«

»Wir müssen nicht mehr länger warten«, sagte Dan-Mali und strich Charles über das hagere Gesicht. Dann knöpfte sie sein Hemd auf und küsste ihn. »Das Leid entsteht, wenn man zurückschaut. Aber es entsteht auch, wenn man nach vorne schaut«, flüsterte sie und streifte ihr Kleid ab. »Aber jetzt, Meister Sanson, erfahren wir kein Leid. In diesem Augenblick sind wir frei von Leid. Deshalb ist der Augenblick das Beste im Leben.«

Sie liebten sich bis in den späten Nachmittag, bis sie satt von der Liebe waren. Dann blieben sie noch lange auf dem Bett liegen und genossen ihr Zusammensein. Als es zu dunkeln begann, tranken sie einen Tee. Dan-Mali erzählte von den Lehren des Siddhartha Gautama, von Buddha.

»Ist Buddha dein Gott?«, fragte Charles.

»Nein«, entgegnete Dan-Mali, »Buddha ist kein Gott, und er ist auch nicht Überbringer einer göttlichen Botschaft. Buddha ist der Weg. Buddha ist eine Philosophie. Ihr habt doch auch Philosophen. Buddha lehrt die Überwindung des Leids. Das setzt eine Erkenntnis voraus, ein Aufwachen, ein Erkennen der vier Wahrheiten. Leiden prägt das menschliche Leben. Dieses Leiden wird durch Gier verursacht.«

Während Dan-Mali dem Henker die asiatische Philosophie näherbrachte, verfügte Robespierre die Aushebung aller unverheirateten Männer zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, ein Novum für Europa, das bisher nur Söldnerarmeen gekannt hatte. »Jetzt wollen wir den totalen Krieg«, liess er sich mit schneidender Stimme vernehmen, »gegen aussen und gegen innen.« Er träumte von einem Grossfrankreich, das sich bis zu seinen natürlichen Grenzen erstreckte: Alpen, Pyrenäen, Rhein und Meer. Die Verfassung wurde nach Gutdünken angepasst und raubte der Bevölkerung mit jeder Korrektur mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der König war durch einen blutrünstigen Diktator ersetzt worden. Robespierre träumte von einem gesäuberten Volk, in dem alles Minderwertige ausgemerzt war.

Im Oktober 1793 schickte das neugeschaffene Revolutionstribunal einundzwanzig Girondisten unter das Fallbeil. Es waren Männer der ersten Stunde, die sich mutig für die Ideale der Revolution eingesetzt hatten. Jetzt wurden sie alle guillotiniert. Anschliessend sollten die Hébertisten an die Reihe kommen, später die Dantonisten, bis nur noch Robespierres Partei an der Macht war. Allein für die Girondisten brauchten Charles und Henri vier Karren für die Fahrt zum Schafott. Es setzte ihnen schwer zu, dass sie ausgerechnet die Väter der Menschenrechte hinrichten mussten. Alle beschworen vor dem Tod die Freiheit, die Errungenschaften der ersten Revolutionsetappe. Es war erschütternd, wie gefasst sie die Stufen zum Schafott hochstiegen. Keiner bettelte um sein Leben. Sie kannten ihre Robespierres und Saint-Justs nur allzu gut. Pierre Vergniaud, ein kaum bekannter Girondist, aber bedeutend genug zum Sterben, rief Charles zu: »Jetzt frisst die Revolution ihre Kinder.«

Charles wünschte sich nur noch eins: dass das alles bald ein Ende nehme. Aber die Sansons brauchten immer mehr Karren. Bis zu fünfzig Todgeweihte pro Tag hatten sie aufs Schafott zu bringen. Henri betätigte immer schneller den Mechanismus des Fallbeils, und Barre und Firmin schnallten die Enthaupteten immer rascher los und kippten sie wie Tierkadaver, die einer Seuche erlegen waren, in den Sturzkarren. Bevor der Kopf fiel, brachten Gros und Desmorets bereits den nächsten Verurteilten die Stufen zum Schafott hoch. Dort wurde er sofort von Firmin und Barre in Empfang genommen, an den Armen gehalten und aufs Brett gebunden, das unverzüglich in die Waagerechte gekippt wurde und nach vorn schoss, während Henri fast gleichzeitig das gewaltige Fallbeil herunterfallen liess. Charles, Henri und ihre Gehilfen waren wie Räder in einem Getriebe aus Eichenbalken, Eisenklinge und menschlichen Armen, die Kraken gleich der Maschine immer aufs Neue Nahrung brachten. Einer nannte die Maschine Göttin der Vernunft. Wenn dem so war, dann waren sie die Diener dieser Gottheit und brachten ihr Menschenopfer dar. Doch Charles war nicht der Einzige, dem das zuwider war. Er beobachtete, wie Firmin immer wieder kreidebleich wurde, Barre torkelte jeweils richtiggehend über das Schafott, als würden ihn seine Beine nicht mehr länger tragen, und Henris lange, dürre Beine zitterten, als würde ein Hauch des Todes um seinen Körper wehen.

Die Pariser Bevölkerung begann zu protestieren gegen das viele Blut, das in den Rinnsteinen floss und streunende Hunde anlockte. Man erwog einen Leinenzwang und alternierende Hinrichtungsstätten. Auch die Anwohner in der Nähe der Friedhöfe Madeleine, Errancis und Picpus protestierten wegen des Gestanks der verwesenden Leichen. Sie hatten auch Angst, dass das Grundwasser verseucht und sie von Krankheiten heimgesucht würden. Paris brauchte mehr Friedhöfe. Man liess in der alten Pfarrgemeinde der Madeleine den Gemüsegarten der Benediktinernonnen ausheben, eine Grube von zehn Fuss Tiefe, und ungelöschten Kalk herbeikarren. Hier wurden nun eine Zeitlang die Geköpften in einem Massengrab wie Abfälle aus dem Schlachthaus verscharrt.

Es flossen Unmengen Blut. Bis zu fünfzig Guillotinierte pro Tag, das waren dreihundert Liter Blut. Wenn das Spektakel vorbei war, stampften die Gaffer über den Platz, und das Blut blieb an ihren Schuhen kleben. So verteilten sie es über die ganze Stadt bis in ihre Wohnstuben. Und wenn die Sonne schien, wurde einem vom Gestank des warmen Blutes übel. Die Weidenkörbe hielten nicht mehr so lange wie früher. Ihre Böden waren vom vielen Blut so aufgeweicht, dass sie nach dem Trocknen brachen. Sieben Köpfe waren zu viel für einen Korb. Charles forderte mehr Mittel für zusätzliche Weidenkörbe und auch einen weiteren Gehilfen, um das Schafott nach sieben Exekutionen zu reinigen. Es sei den zu Exekutierenden nicht zuzumuten, das viele Blut zu sehen. Sie würden dabei schwach und ängstlich, und es sei wesentlich schwieriger, sie auf das Brett zu binden. Aber Fouquier meinte, es sei Teil der Strafe, dass man die Verurteilten auf das blutverschmierte Brett binde und sie in diesen Minuten auf die bluttriefenden Köpfe im Weidenkorb starrten.

Fouquier liess Charles nicht gehen. Er wollte den grossen Sanson auf dem Schafott sehen. Charles’ Demission hätte der Bevölkerung womöglich signalisiert, dass das Terrorregime an Rückhalt verlor.

Viele Hinrichtungen erlebte Charles wie in Trance. Er war zu beschäftigt mit den Routineabläufen, um über das nachzudenken, was er gerade tat. Das grosse Leid suchte ihn jeweils spätabends zu Hause auf, wenn er eigentlich zur Ruhe kommen wollte. Dann trank er Wein und versuchte schreibend seine Gedanken zu ordnen. Doch die Hand war vom Töten müde geworden. Sie blieb wie ein Stück Fleisch auf seinem Pult liegen, und das frische Blatt seines Tagebuches blieb weiss wie das Laken seines Bettes. Er hätte schreiben wollen, dass ihn nur noch Dan-Mali vor dem Wahnsinn retten könnte. Aber sie begegneten sich nicht mehr. Und die Pater im Jesuitenkloster öffneten ihm nicht einmal mehr die Tür. Sie hatten sich im Kloster verschanzt. Sie hatten Angst.

Es fiel kaum auf, dass Gorsas nicht mehr für die Zeitung schrieb. Charles dachte, er sei ins Ausland geflohen. Doch er traf ihn wieder, den kleingewachsenen Mann in hellbraunem Frack, teurer Piquéweste und senfgelber Hirschlederhose: auf den Stufen zum Schafott. Obwohl man ihm bereits die Hände gebunden hatte, nuckelte er noch an seiner Pfeife. »Das ist die erste Hinrichtung, über die ich nichts schreiben kann«, sinnierte Gorsas. Irritiert packte Charles seinen rechten Oberarm und führte ihn zum Klappbrett der Guillotine. »Einen Augenblick noch«, sagte Gorsas. Charles erwies ihm diese Gunst. »Kennen Sie mein Verbrechen?«, flüsterte er. Charles schwieg. Er hielt immer noch Gorsas’ Arm fest und versuchte, ihn zu beruhigen. »Unser Doktor Guillotin hat ein schmales Büchlein geschrieben«, fuhr Gorsas fort, »ein Hohelied auf die Pressefreiheit. Die Druckmaschinen wurden gestoppt, das Buch verboten. Darüber habe ich geschrieben. Was hat uns die Revolution gebracht, wenn wir nicht mehr über die Pressefreiheit schreiben dürfen?«

Charles nickte. Er mochte die zum Tode Verurteilten nicht daran hindern, noch zu sagen, was ihnen wichtig schien. Denn Charles wusste, dass man in der Stunde des Todes bereut. Man bereut Dinge, die man getan hat, und man bereut Dinge, die man unterlassen hat. Das war ein Vorgeschmack auf die Hölle. In diesem Augenblick jagten sich die Gedanken der Todgeweihten, es war wie das Chaos, das am Anfang aller Dinge stand, bevor die Menschen wurden, was sie wurden. Man war diesen Dingen schutzlos ausgeliefert. Man hatte keine Kontrolle mehr.

Gorsas umarmte plötzlich seinen Henker und urinierte, ohne es zu merken. »Adieu, Monsieur de Paris. Wir hätten Freunde werden können.« Schweigend nahm auch Charles den kleinen Mann in die Arme. Gorsas streckte sich. Er suchte Charles’ Ohr. »Wenn Sie mir auf dem Friedhof die Kleider ausziehen«, flüsterte er, »schauen Sie in meiner rechten Westentasche nach. Ich habe etwas für Sie.« Gorsas weinte, als man ihn kopfvoran auf das Brett legte und er die abgetrennten Köpfe unter sich sah. »Der Schmerz ist nur ganz kurz, oder?«, fragte er noch. Dann fiel sein Kopf in den Weidenkorb.

Es folgten mehrere Wäscherinnen, Hilfsknechte und sogar ein Stalljunge, allesamt bitterarme Menschen, die sich nie für Politik interessiert hatten. Ihr einziges Verbrechen bestand darin, einem Royalisten gedient zu haben. Vielleicht war die Hinrichtung von Menschen, die ganz offensichtlich unschuldig waren, Bestandteil der Abschreckung, Bestandteil des Terrors. Zuletzt waren zwei Adlige an der Reihe, die versucht hatten, ihr Vermögen ins Ausland zu transferieren. Es ging sehr schnell. Die Gehilfen arbeiteten routiniert. Als der letzte Kopf in den blutgetränkten Weidenkorb geklatscht war, luden Barre und Firmin die kopflosen Leichen auf den Wagen. Henri warf die losen Köpfe hinterher. Jede Leiche erhielt ihren abgeschlagenen Kopf zwischen die Beine.

Schweigend fuhren Charles und seine Männer zum Friedhof. Es machte Charles etwas aus, dass er Gorsas hatte hinrichten müssen. Er dachte an ihr erstes Zusammentreffen anlässlich der Hinrichtung von Damiens. Damals hatte ihn der kleine Journalist genervt, aber am Ende hatte er ihn doch gemocht. Und jetzt vermisste er ihn.

Auf dem Friedhof entkleideten sie die Leichen und warfen sie in das Massengrab. Desmorets überschüttete sie anschliessend mit Kalk. Die Kleider warfen sie wie immer auf einen Haufen in den Wagen. Nur die Hosen wurden bereits auf dem Friedhof aussortiert, denn die meisten waren mit Fäkalien beschmutzt. Wenn der Kopf abgetrennt wurde, verlor jeder Muskel die Kontrolle. Nur einzelne Nerven zuckten noch wild und täuschten ein bisschen Leben vor. Dann war auch das vorbei.

Zu Hause trugen sie die Kleider in die Scheune. »Geht in die Küche, und macht euch was zu essen«, sagte Charles, »das hier erledigen wir morgen.« Henri und die Gehilfen waren nicht unglücklich darüber. Irgendwie hatten sie langsam genug von all diesem Blut.

Charles blieb allein in der Scheune zurück und griff nach der Piquéweste. Er fand tatsächlich etwas in der rechten Innentasche. Es war ein Dokument, mehrere Seiten lang. Er steckte es in sein Wams und zog sich in seine Pharmacie zurück. Dort nahm er es wieder hervor und dachte lange nach. Schliesslich entschied er sich, es nicht zu lesen. Wenn dieses Dokument Gorsas das Leben gekostet hatte, wollte er es nicht lesen. Er wollte nicht wissen, was darin stand. Was hatte er damit zu schaffen? Er war bloss ein Henker, der Urteile vollstreckte. Er wollte Ruhe haben, seinen Frieden finden. Aber so einfach war das nicht. Die Toten suchten ihn in der Nacht auf. Er hörte sie sprechen, ihre letzten Worte, er sah ihre hilflosen Augen, die ihn anflehten. Und dann hörte er das Heruntersausen des Fallbeils, und er war hellwach.

Am 3. November starb die mutige Frauenrechtlerin Olympe de Gouges, fünfundvierzigjährig, unter dem Fallbeil. »Wir dürfen nicht öffentlich reden«, sagte sie mit gefasster Stimme zu Charles, als sie das Schafott erreichte, »wir dürfen nur öffentlich sterben. Dabei haben wir bloss die gleichen Rechte wie die Männer gewollt.«

Auch Gräfin du Barry wollte Charles noch etwas sagen. Sie wollte am 8. Dezember nicht so leise aus dem Leben treten. Die Hinrichtung war mehrmals verschoben worden, weil die Gassen und Brücken in Paris spiegelglatt waren. Es war wieder Winter. Und die kalte Jahreszeit rief die Erinnerung an Gabriel wach. Die Gräfin wartete in der Conciergerie auf den Tod. Sie war nicht wie die anderen. Sie schwieg nicht. Sie brüllte aus voller Kehle, stürzte sich auf jeden Gehilfen, und als Barre ihr die Haare schneiden wollte, rammte sie dem armen Kerl das Knie in den Unterleib und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Erst als Charles die Conciergerie betrat, verstummte sie. »Charles«, stiess sie ausser Atem hervor, »rette mich, ich habe ein kleines Schloss in der Nähe von Versailles, Juwelen von Louis XV, ich war seine Mätresse.«

»Madame, ich bin hier, um Sie für Ihre letzte Reise abzuholen«, sagte Charles und zeigte seine Hände. Er hatte ein Seil in der linken Hand.

»Madame?«, schrie sie. »Aber Charles, ich bin es, Marie-Jeanne Bécu.«

Charles stutzte.

»Charles!«, flehte sie ihn an.

»Jetzt erinnere ich mich, Madame, es ist lange her. Sie erzählten mir damals, dass Sie bald den Namen du Barry annehmen würden.«

Die Gräfin strahlte übers ganze Gesicht und fiel vor ihm auf die Knie. »Rette mich, Charles, ich bin unschuldig.« Es war nichts übrig geblieben von ihrer Jugend. Sie bewegte sich nach wie vor, als sei sie eine Schönheit, aber die Jugend war aus ihrem Gesicht gewichen. Das fettige Essen in Versailles hatte ihr Gesicht in einen konturenlosen Teig verwandelt, in dem Nase und Mund noch kindlicher erschienen. Die schon damals üppigen Brüste waren noch grösser und massiger geworden und dominierten die ganze Erscheinung. Es war, als wäre dieser Körper nur erschaffen worden, um diesen gigantischen Busen zu tragen.

Firmin betrat mit einem roten Hemd das Gefängnis. Barre zerrte die Gräfin auf einen Stuhl und kreuzte ihre Arme hinter der Stuhllehne. Blitzschnell band Charles die Handgelenke zusammen. Sie waren ein eingespieltes Team. Jetzt stand Firmin vor ihnen, verloren mit seinem roten Hemd. Charles band die Gräfin erneut los, und nun versuchten sie zu dritt, der hysterischen Frau das rote Hemd überzuziehen. Schliesslich gab ihr Barre eine schallende Ohrfeige. Sie verstummte augenblicklich und zog das rote Hemd an.

Die Fahrt zum Schafott dauerte eine Ewigkeit. Mag sein, dass es Charles und seinen Gehilfen nur so vorkam. Gräfin du Barry schrie, tobte und weinte in einem fort. Sie sprang hoch, hielt sich an der Brüstung des Karrens fest und schrie: »Volk von Paris, rette mich, rette mich, ich bin unschuldig!« Sie rüttelte wie verrückt an der Absperrung und schrie so laut, dass ihre Worte noch in den Seitenstrassen zu hören waren. Ihre Stimme war lauter als das Getrampel der Pferde und das Knirschen der Räder. »Rettet mich, Erbarmen, Gnade, rettet mich!« Charles liess sie gewähren. Es wäre eh sinnlos gewesen, sie daran zu hindern. Er wollte vielleicht auch verhindern, dass sie sich auf ihn stürzte und ihn in aller Öffentlichkeit biss und sein Gesicht zerkratzte, wie sie es bei Barre getan hatte. Jetzt brüllte sie aus voller Kehle, so dass sich ihre Stimme überschlug. Sie war schon heiser. Als sie auf die Place de la Révolution einbogen, wäre sie beinahe gestürzt, doch sie hielt sich an der Querlatte des Karrens fest, umschlang das Stück Holz mit beiden Armen und weinte so herzzerreissend, dass das Gejohle der Menge allmählich verstummte. Das war neu, dass jemand derart um sein Leben schrie. Das wollte man nicht hören. Das wollte man nicht sehen. Viele Menschen verliessen verärgert die Hinrichtungsstätte.

Die Gräfin wollte den Karren nicht verlassen. Firmin und Barre rissen ihre Hände von der Brüstung los und zerrten sie aus dem Wagen. Sie schlug derart kräftig um sich, dass sie ständig den einen oder anderen Arm befreite und Hoffnung schöpfte. Als sie sich beinahe losgerissen hatte, warf Firmin sie zu Boden. Barre wollte ihre Beine packen, doch sie schlug wie ein Pferd aus und traf ihn mehrmals im Gesicht, wobei er zwei Zähne verlor. Nun eilten Henri und Gros den beiden zu Hilfe und trugen die Gräfin zur Treppe des Schafotts. Dort stand Charles mit stoischer Miene. »Gnade, Monsieur de Paris, noch einen ganz kleinen Augenblick«, flehte sie. Die Gehilfen schauten kurz zu Charles. Er schüttelte unbeirrt und ruhig den Kopf, ohne sie anzusehen.

Jetzt hörte man Protestrufe aus dem Publikum. Den Leuten missfiel dieses Spektakel. »Lasst sie doch in Ruhe«, schrien einige. Das war neu. Es war kaum zu fassen, aber das Volk hatte endlich die Nase gestrichen voll von all diesen Hinrichtungen. Die Pariser empfanden so etwas wie Mitgefühl. Die wenigsten hatten wohl Bücher von Voltaire, Montesquieu und Rousseau gelesen, aber die Zeit war reif dafür. Das Individuum hatte an Bedeutung gewonnen. Das Schicksal anderer war dem Volk weniger gleichgültig. Wenn das Volk von Anfang an so reagiert hätte, wäre es unmöglich gewesen, so viele Menschen hinzurichten, dachte Charles. Ist man frei von Schuld, wenn man in der Vergangenheit Gräueltaten duldete, die dem Gesetz entsprachen?

Am 5. April 1794 war Danton an der Reihe. »Zeig meinen Kopf dem Volk. Er ist es wert«, sagte er zu Charles, bevor er die Treppe hochstieg. Dann hatte er doch noch Tränen in den Augen, weil er an seine Frau und seine Kinder dachte. Charles folgte ihm nicht. Er blieb unten stehen und gab Henri das Zeichen, die Sperre zu lösen. Das schwere Fallbeil sauste herunter. Und der Kopf gehörte für eine halbe Stunde der verrückten Marie, die bald François Tussaud heiraten sollte und fortan für alle nur noch Madame Tussaud hiess.

Antoine Fouquier übergab Charles immer längere Listen von Verurteilten. Zum Teil standen die Namen bereits auf den Todeslisten, obwohl noch kein Urteil verkündet worden war. »In Lyon wurde der Henker Jean Ripet der Ältere im Alter von achtundfünfzig Jahren hingerichtet«, sagte Fouquier, während er Charles die aktuelle Liste übergab. »Ich hoffe, du hast genügend Karren und Pferde.« Charles verstand die Botschaft sofort. Ripet war Royalist gewesen.

»Der König ist längst tot«, sagte Charles unbeeindruckt, »kann ich mein Amt demnächst an meinen Sohn übergeben?«

»Noch nicht, Charles«, flüsterte Antoine, »es ist noch nicht vorbei. Aber bald.«

Charles war verzweifelt, seit Monaten hatte er von Dan-Mali nichts gehört. Seine Geduld war zu Ende. Er eilte zum Jesuitenkloster. Er würde Dan-Mali einfach mitnehmen. Für immer. Er überlegte auch, ob er mit ihr Paris verlassen sollte. Henri war alt genug. Als er endlich das Kloster erreichte, stellte er erschreckt fest, dass nicht mehr viel davon übrig geblieben war. Die Sansculotten hatten es abgefackelt. Charles stiess einen Schrei des Entsetzens aus und rannte zur verkohlten Pforte hoch. Er sprang über die heruntergestürzten Balken, die immer noch vor sich hinräucherten. »Dan-Mali!«, schrie er und eilte in den Hof. Es war niemand zu sehen. Er stand nun mitten im Kräutergarten und drehte sich im Kreis. »Dan-Mali!«, schrie er immerzu.

»Was wollen Sie noch?«, rief jemand. Ein Pater kam hinter einer Säule hervor. »Sie haben Dan-Mali verhaftet.«

»Warum?«, schrie Charles wütend.

»Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht mehr vorbeikommen. Sie bringen nur Unglück. Wir wollten nie ins Blickfeld der Justiz geraten. Wer weiss, was sie sich als Nächstes ausdenken.«

Die Nachricht traf Charles wie ein Dolchstoss mitten ins Herz. Dan-Mali war wegen angeblicher royalistischer Umtriebe verhaftet worden.

Der Pater kam auf Charles zu und zischte: »Schauen Sie doch, was Sie hier angerichtet haben.« Er packte Charles, doch dieser schlug ihm die Hände weg und eilte auf die Strasse. Er wollte sofort Fouquier zur Rede stellen.

Dieser liess ihn warten. Leute kamen und gingen. Mehrfach wies Charles den vor der Tür stehenden Diener in blauer Livree an, seinen Besuch zu melden. Nach zwei Stunden öffnete sich schliesslich die Tür für ihn.

»Wo brennt es denn, Bürger Sanson?«, fragte Fouquier, ohne von seinen Akten aufzublicken. »Wir haben uns doch erst gesehen.«

»Im Jesuitenkloster lebte eine Frau aus Siam. Sie wurde von Ihrer Behörde verhaftet. Warum?«

»Woher das Interesse, Bürger Sanson?« Fouquier richtete sich auf und lehnte sich müde in seinen Sessel zurück.

»Sie ist meine Patientin«, sagte Charles, »ich bin sicher, da liegt ein Missverständnis vor. Sie hat sich nie für Politik interessiert.«

»Aber die Politik interessiert sich nun für sie. Sie ist hergekommen, um unsere Sprache zu lernen. Aber was tut sie? Sie hat bis vor kurzem die Hemden von Pater Gerbillon gebügelt. Die Hemden eines Royalisten.« Fouquier lächelte und fuhr sich lange mit der Zunge über die Schneidezähne, als versuchte er, Essensreste herauszulösen. »Pater Gerbillon«, fuhr er fort, »war ein guter Hinweis. Wir haben die Mitarbeit des Bürgers Sanson mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Aber du weisst doch selbst, es genügt nicht, eine kranke Stelle am Körper zu entfernen, man muss grosszügig den Herd umkreisen und alles in der Umgebung herausschneiden. Du hast doch einige Semester Medizin studiert, oder?« Fouquier warf den Kopf theatralisch zurück. »Ich habe noch zu tun, Bürger Sanson.«

»Ich will sie sprechen.«

»Bürger Sanson, wir können auf jeden verzichten. Auch auf dich. Nimm den Mund nicht zu voll. Und halte Abstand zu Leuten, die an royalistischen Umtrieben beteiligt sind. Wir merzen sie aus. Alle. Auch jene, die sie unterstützen. Egal, ob sie Wäsche bügeln oder Schuhe herstellen.«

»Ich will sie sprechen«, beharrte Charles.

Fouquier liess sich Zeit mit der Antwort. Er genoss es sichtlich, Charles leiden zu sehen. »Nun gut«, sagte er nach einer Weile, »du hast uns immerhin Pater Gerbillon ausgeliefert. So sei es.« Er betätigte die Glocke auf seinem Schreibtisch. Der Diener betrat das Kabinett. »Stellen Sie für Bürger Sanson eine Besuchserlaubnis aus. Für eine Dame siamesischer Herkunft.«

»Welches Gefängnis?«, fragte der Diener.

»Ich müsste nachschauen, aber mir fehlt die Zeit.« Fouquier grinste.

Charles wusste genau, dass er log.

Zuerst suchte Charles das Gefängnis L’Abbaye auf, dann die Madelonnettes, wo der Direktor der Oper mit dreizehn Schauspielern auf den Tod wartete. Im Gefängnis Port-Libre sassen nur Frauen. Sie mokierten sich über das unabwendbare Schicksal, skandierten »Es lebe der König« und »Gebt uns einen Mann«. Auch hier keine Dan-Mali. In der Rue des Droits de l’Homme waren die Gefängnisse Grande-Force und Petite-Force, die der direkten Kontrolle Fouquiers unterstanden. Zufälligerweise begegnete ihm Charles im Gefängnishof. Fouquier murmelte im Vorbeigehen beiläufig: »Versuch es im Sainte-Pélagie in der Rue de la Clef.«

Das Sainte-Pélagie bot Platz für rund fünfzig Gefangene. Es waren dreihundertfünfzig inhaftiert. Sie vegetierten auf Strohsäcken und suchten die Nähe zum Herzog von Biron, einem inhaftierten General der republikanischen Armee. Dieser hatte genügend Geld bei sich, um den Direktor des Gefängnisses für Begünstigungen zu entlohnen. Es gab genaue Tarife für jede Dienstleistung: Getränke, Delikatessen, Bücher, Besuche, alles war gegen Bezahlung möglich. Viele der Insassen waren Prostituierte, die den adligen Royalisten schöne Stunden bereitet hatten, oder Frauen, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie die Freundin oder Mätresse eines Verurteilten gewesen waren. Wie zum Beispiel eine Kreolin, die eine Liebesbeziehung zum englischen Bankier Walter Boyd unterhalten hatte und den Grund ihrer Verhaftung nicht verstand. Während sie unter die Guillotine kam, feierte er in London seine erfolgreiche Flucht. Bei einigen bestand das einzige Verbrechen darin, reich zu sein.

Charles wurde in die unterirdischen Hallen geführt, die in Massenzellen umgebaut worden waren. Es war feucht, stank nach Schimmel und menschlichen Exkrementen. Die Mauern waren aus grossen, schweren Steinquadern. An der gewölbten Decke hingen Hunderte von Fledermäusen wie kleine schwarze Regenmäntel. Einige Frauen kamen sofort zum Gitter und hielten sich an den Eisenstäben fest. »Fick mich«, schrie ihm eine ins Gesicht, »wenn ich schwanger bin, bin ich frei.«

Charles lief das Gitter ab, hinter dem sich die Frauen drängten. »Ich suche eine Frau mit dunkler Haut. Aus Siam.«

»Es lebe der König«, schrien einige.

»Es war eine da«, sagte der Wärter, »aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob sie schon unter das Fallbeil gekommen ist. Doch Sie, Monsieur, Sie müssten es wissen, es ist Ihr Schafott.« Der Wärter grinste und zeigte die letzten Zahnstummel, die er noch im Mund hatte. Sein Gesicht war seltsam entstellt, als hätte ein Rammbock ihm die Nase platt gedrückt.

»Dan-Mali!«, schrie Charles verzweifelt und horchte.

»Ich bin Dan-Mali«, rief eine Dirne und rüttelte an den Stäben.

»Hör nicht auf die Schlampe«, sagte eine andere, »ich bin Dan-Mali.«

Der Wärter winkte ab und wies zur Tür. »Tut mir leid, Monsieur de Paris.«

»Sie muss Ihnen doch aufgefallen sein, Bürger, sie war dunkelhäutig.« Charles war vor ihm stehen geblieben. Der Wärter schüttelte erneut den Kopf und wies wieder zur Tür. Charles machte ein paar zögerliche Schritte.

»Kun kwaun«, hörte er plötzlich jemanden rufen.

Fieberhaft starrte er auf das Gitter, doch unter all den Frauen konnte er nirgends Dan-Mali erkennen.

Dann hörte er nochmals die Stimme, und jetzt sah er den dünnen Arm, der durch das Gitter ins Leere griff und winkte. Es war Dan-Mali. Sie kniete hinter dem Gitter. »Ich werde auf dich warten«, rief sie.

Charles kniete vor den Gitterstäben nieder und ergriff ihre beiden Hände. Er presste sie an sein Gesicht und küsste sie. »Ich hol dich raus«, sagte er.

»Nein«, sagte Dan-Mali, »das wird nicht möglich sein. Wir werden alle sterben. Aber drüben, in der anderen Welt, werde ich auf dich warten. Hab keine Angst.«

Sie presste ihren Kopf an die Gitterstäbe, den Mund im Zwischenraum, und schloss die Augen. Charles küsste sie, ohne ihre Hände loszulassen.

»Kann ich über Nacht bleiben?«, fragte Charles den Wärter. Dieser schüttelte den Kopf.

»Sie müssen nach dem Preis fragen, nicht nach einer Erlaubnis«, sagte eine sonore Stimme. Ein Mann in Uniform bahnte sich den Weg zu den Gittern. »Herzog von Biron, General der republikanischen Armee«, stellte sich der Gefangene stolz vor. Er hatte graues Haar und lange Koteletten. Sein Gesicht war etwas eingefallen und vom Wetter gegerbt. Er reichte Charles einige Münzen. »Das sollte reichen, Monsieur de Paris. Nein, nein, kein Dankeschön, das Totenhemd hat keine Taschen, Erben habe ich auch keine, wie soll ich also mein Geld noch ausgeben?«

Charles gab dem Wärter das Geld. Er steckte es diskret ein, zeigte ansonsten aber keine Reaktion.

»Und für mich noch zwei Flaschen Bordeaux«, rief der General dem Wärter zu, »und für Monsieur einen Strohballen. Aber einen trockenen.«

In den frühen Morgenstunden waren Dan-Mali und Charles eingeschlafen. Sie schliefen beidseits des Gitters. Hand in Hand.

Eigentlich hatte Charles um Dan-Malis Leben betteln wollen. Doch als er am Vormittag in Fouquiers Büro stand und die Liste der Verurteilten las, stockte ihm der Atem. Ohne zu fragen, setzte er sich auf den Stuhl gegenüber Fouquier.

»Habe ich dir angeboten, dich zu setzen?«

»Lassen Sie die Frau frei.«

»Ich weiss, Bürger Sanson, die Kleine aus Siam. Jetzt hast du sie ja doch noch gefunden.« Fouquier blätterte in einer Akte. »Ist noch was?«

»Ich sagte, Sie sollen sie freilassen. Tun Sie mir den Gefallen, ich werde mich bei der nächsten Gelegenheit erkenntlich zeigen.«

»Bürger Sanson«, begann Fouquier, »wir haben erstens ein gültiges Gerichtsurteil. Das kann niemand umstossen. Zweitens kannst du dem Chefankläger wohl kaum einen Gefallen erweisen, der es wert wäre, seine Pflichten zu vernachlässigen. Oder willst du den Chefankläger der Revolution bestechen? Die Siamesin wird heute in den Sack spucken, und morgen werden andere folgen. Und wenn du insistierst, Monsieur de Paris, lasse ich dich in Ketten legen. Wegen Unterstützung einer Konterrevolutionärin. Haben wir uns jetzt verstanden?«

Charles schwieg. Er begriff, dass Dan-Mali keine Chance mehr hatte, den heutigen Tag zu überleben. Er beugte sich über Fouquiers Schreibtisch. »Ich warne dich, Antoine, wenn Dan-Mali stirbt, wirst du auch sterben.«

»Oh«, erwiderte Fouquier spöttisch, »so habe ich dich noch nie gesehen, Charles. Du schaust richtig grimmig aus. Ich hatte mich ja schon in Rouen gefragt, was man dir eigentlich antun muss, damit du dich aufbäumst. Das hättest du früher nie gewagt. Siehst du, die Revolution hat dich befreit. Sei dankbar!«

Dan-Mali wurde zusammen mit drei Prostituierten zum Schafott gefahren. Charles sass neben ihr. Das war nicht ungewöhnlich, da er dies immer wieder tat, um Verurteilte zu beruhigen. Doch diesmal berührte seine Hand während der gesamten Fahrt die schmale Hand der kleinen dunkelhäutigen Frau. Seine Gehilfen senkten den Kopf. Charles war es einerlei. Er liebte diese Frau über alles. Sie hatte sich in seinem Herzen eingenistet, und wenn er sie verlieren sollte, würde er daran zerbrechen.

Als der Karren auf die Place de Grève einbog, gab es Applaus und Rufe. Doch plötzlich verstummten alle. Dan-Mali hatte sich erhoben, Charles ebenfalls. Er stand neben ihr und überragte sie um zwei Köpfe. Neben ihm wirkte Dan-Mali wie ein Kind.

»Keine Kinder!«, schrie plötzlich jemand in den hinteren Reihen. »Keine Kinder!«, wiederholten andere, und plötzlich verschmolzen alle Rufe zu einer einzigen Stimme: »Keine Kinder, es ist genug! Aufhören!« In den umliegenden Häusern wurden die Fensterläden geschlossen, als käme die Pest vorbei. Charles wünschte, diese Fahrt möge nie enden. Er hoffte innigst, sie würden ohne Ziel in diesem Fuhrwagen fahren, Hand in Hand, bis ans Ende der Welt. Doch dann sah er die beiden Pfeiler, die senkrecht in den Himmel ragten. Er suchte die Menge ab. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte er an eine Rettung, eine Fügung des Schicksals, ein Wunder. Als die Frauen vor dem Schafott ausstiegen und er die Vertreter der Justiz sah, wusste er jedoch, dass niemand das Verbrechen aufhalten würde.

»Sei stark«, sagte Dan-Mali, als sie den Fuss auf die unterste Treppenstufe setzte. Sie blieb stehen und schaute ihn an. »Wir sehen uns wieder, kun kwaun, Buddha ist uns wohlgesinnt.«

Charles wollte Dan-Mali auf der Treppe folgen, doch sie stiess ihn ganz sanft zurück und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Es ist nur ein kurzer Abschied. Ich habe keine Angst, Charles. Wir haben ein gutes Karma.« Henri hielt seinen Vater zurück. Er griff ihm unter den Arm und führte ihn unter das Schafott. »Geh nach Hause, Vater, das ist nicht dein Tag.«

Charles blieb stehen und stützte sich mit beiden Händen an einem Balken ab. Er hörte das Zuschnappen der Lünette, das Heruntersausen des Fallbeils, das Aufschlagen des Kopfes. Blut. Überall Blut. Wie versteinert stand er unter dem Schafott, während das Blut seiner Geliebten zwischen den schlecht befestigten Holzbohlen auf seine Stirn herunterfloss und sich mit dem Blut jener vermischte, die zuvor enthauptet worden waren. Ein Hund rannte herbei und begann Blut zu lecken. Charles versetzte ihm einen wuchtigen Tritt. Das Tier jaulte kurz auf, lief geduckt weg und kam wenig später zurück. Noch nie hatte sich Charles vom Menschengeschlecht so weit entfernt gefühlt: ausgestossen, verachtet, gedemütigt, besudelt vom Blut des Verbrechens und ohne Hoffnung. Er konnte der Hölle nicht entfliehen. Dan-Malis Blut klebte an seinen Schuhen und würde ihn nun auf Schritt und Tritt verfolgen. Erneut tropfte Blut auf seine Stirn herunter. Es war ihm, als würde ihn der Teufel höchstpersönlich taufen. Charles wollte das Blut mit der Hand wegwischen, doch er verschmierte es bloss in seinem Gesicht. Er begann schwer zu atmen. Er stiess sich vom Stützbalken ab und torkelte unter dem Schafott hervor, direkt in die Menge, die sich sogleich teilte, als sie den blutüberströmten Henker sah. Als sich Charles endlich aus der Masse der Menschen auf dem Platz gelöste hatte und die ersten Häuser erreichte, stützte er sich an der ersten Hauswand ab. Dann kämpfte er sich von Haus zu Haus, legte Pausen ein, setzte sich manchmal auf eine Eingangstreppe und raffte sich wieder auf. Es war ihm, als schritte er über den Rücken eines braunen Wals, der nicht ruhig verharren wollte und schaukelnd die Wellen brach, bis die Gischt Charles ins Gesicht schlug. Es hatte zu regnen begonnen. Seine Augen konnten keinen Punkt mehr fixieren. Sie schweiften auseinander und zeigten ihm Doppelbilder, die den Schwindel verstärkten und ihn nachhaltig irritierten. Die Häuser schienen ihm feindlich gesinnt. Sie begannen sich zu wölben, als würden sie allesamt schwanger. Er beschleunigte seinen Schritt, um zu verhindern, dass er hinfiel. Und strauchelte doch.

Im Morgengrauen sass Charles am Ufer der Seine. Das Blut war getrocknet. Ein Kahn brachte Waren in die Stadt. Am gegenüberliegenden Ufer erwachte Paris. Händler zogen Handkarren oder trieben ihre abgehalfterten Ackergäule mit frischer Ware auf die Marktplätze. Charles nahm einen Stein in die Hand und drückte ihn fest. Er hatte den Eindruck, als würde der Stein in seiner Hand weich und nachgiebig wie ein Schwamm. Doch der Stein veränderte seine Form nicht. Charles’ Kiefer verspannte sich, die Zähne knirschten. Er spürte die eiserne Klammer, die wie die Lünette der Guillotine nach seinem Nacken schnappte. Ich erstarre, dachte Charles. Ich werde zur Strafe jahrhundertelang hier als Arm der Guillotine verharren, und nur mein Gehirn wird noch arbeiten, damit es mich quälen kann.

»Monsieur de Paris!«

»Vater!«

Erschreckt warf sich Charles der Länge nach hin. Jetzt sah er sie kommen. Sie rannten über die Wiese. Sie rannten auf ihn zu. Seine Gehilfen Gros, Barre, Firmin, Desmorets und seine Söhne Henri und Gabriel. Etwas stimmte nicht. Wieso konnte Gabriel rennen? Charles sprang hoch und eilte das Seineufer entlang in Richtung des abgefackelten Zolltors vierundvierzig. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er hatte Gabriel gesehen, also konnte dieser nicht tödlich verunfallt sein. Also hatte er dessen Tod nur geträumt. Aber wieso zum Teufel rannten sie auf ihn zu? Und wieso waren sie zu sechst? Zum Reden genügte einer. Doch sie waren zu sechst. Weil sie ihn festhalten wollten. Aber warum? Dann verstand Charles. Sie wollten ihn aufs Schafott bringen. Aber wo blieb das schriftliche Urteil? »Wo?«, schrie Charles.

»Es ist nur ein böser Traum, Vater«, sagte Henri.

Charles schlug die Decke zurück und setzte sich benommen auf die Bettkante. »Gabriel ist tot«, sagte er, eher fragend, und schaute Henri flehend an.

»Ja«, sagte Henri, »Gabriel ist vom Schafott gestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«

Charles nickte.

»Fouquier hat nach dir gesucht«, sagte Henri, »du musst aufstehen.«

»Schon wieder«, seufzte Charles, »hört das denn nie mehr auf? Mit jedem Urteil schneiden sie mir ein weiteres Stück aus meinem Gehirn. Sie stehlen die guten Erinnerungen, und was bleibt, sind rollende Köpfe, die polternd über die Holzbohlen hüpfen und mich stumm anklagen. Und wenn ich etwas anfasse, wird es rot, blutrot. Wie sind meine Hände?«

»Deine Hände sind in Ordnung. Leg dich wieder hin, Vater, ich schaff das schon zusammen mit unseren Gehilfen.«

Charles liess sich ins Bett zurückfallen. Henri zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch.

»Weisst du, wie eine leere Scheune aussieht?« murmelte Charles.

Henri nickte.

»Wenn sie dir alles wegnehmen, bist du leer wie eine Scheune. Das Pferdegeschirr, die Fuhrwerke, die Pferde, alles weg. Sie lassen dir nur die Feuerzangen, damit du dich weiter quälen kannst.«

Henri schwieg betreten.

»Ich werde ausreiten«, sagte Charles, »ans Ufer der Seine, nein, nein, dort war ich schon.«

»Das war in deinem Traum, Vater.«

»Geh jetzt, geh zur Guillotine. Sie wartet auf uns.«

»Vater, es ist nur ein Holzgerüst mit einer scharfen Klinge.«

»Nein, nein«, wehrte Charles ab, »sie haben mich erschaffen, sie haben mich nur für die Guillotine erschaffen. Und das viele Blut, das die Guillotine vergiesst, erweckt sie zum Leben. Wartet nur, bald steht sie vor unserer Haustür.«

»Dan-Mali«, sagte Charles, als er spätabends mit Henri ein Glas Wein trank, »ich habe sie geliebt, wie ich noch nie jemanden zuvor geliebt habe. Ich hätte nicht geglaubt, dass ein Mensch solche Gefühle haben kann, Gefühle, die stärker sind als Wind, Wasser und Gewehrkugeln.«

Henri kratzte sich verlegen am Ohr.

»Sie war einmalig«, sagte Charles leise, »ihr habe ich mein Herz geschenkt. Man kann sein Herz nur einmal verschenken, man kann nur einmal lieben, dann ist die Liebe vergeben. Was du später gibst, ist irgendetwas, aber man nennt es nicht Liebe.«

»Es muss nicht Liebe sein«, sagte Henri, »man kann auch ohne leben.«

»Aber nicht wenn man das Paradies gesehen hat.« Charles nahm ein Amulett aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch. »Das ist die geborstene Glocke der Sansons, eine Glocke ohne Ton. Es war ein Geschenk für einen unserer Vorfahren. Sie wurde in der Neuen Welt in Silber gegossen. Sie gehört jetzt dir. Ich bin viele Tode gestorben, Henri. Der Tod kann nicht schlimmer sein als das Leid, das ich auf Erden erfahren habe. Ich sterbe ohne Angst.«

»Aber Vater«, sagte Henri entsetzt, »es ist noch nicht Zeit zum Sterben.«

»Beende die Dynastie der Henker«, sagte Charles, »erlöse unser Geschlecht. Deine Nachkommen sollen irgendetwas werden, Bäcker, Schreiner, Buchdrucker, irgendetwas, aber nicht Henker.«

»Fühlst du dich nicht gut, Vater?«

»Das Leben weicht aus meinem Körper«, flüsterte Charles, »es will nicht mehr. Irgendeinmal ist Schluss, Henri.«

Charles war vor Erschöpfung eingeschlafen. Doch nach wenigen Stunden kamen die Dämonen und peinigten ihn. Er träumte immerzu, dass Dan-Mali nicht tot war, dass sie irgendwo war und lebte. Aber sie lebte nur in seinen Träumen. »Sie ist tot«, riefen ihm die Menschen in seinen Träumen zu, aber er achtete nicht auf dieses Geschwätz und schleppte Dan-Malis Leichnam hinter sich her, auf der Suche nach jemandem, der ihm bestätigte, dass sie nicht tot war. Aber in seinen Träumen mochte das niemand bestätigen. Und wenn er aufwachte, wusste er, dass Dan-Mali tot war. Er trat in den Hof hinaus und starrte in den Nachthimmel. Er fühlte sich vollkommen einsam.

Er wartete darauf, dass die Müdigkeit zurückkam. Manchmal trank er Wein. Dann kehrte er in die Pharmacie zurück und legte sich wieder ins Bett. Er fand keinen tiefen Schlaf. Er döste einfach vor sich hin. Plötzlich schreckte er hoch und hörte die Stimme wieder, die ihn aus seinem Traum gerissen hatte. »Kun kwaun.«

Charles blieb liegen. »Bist du es, Dan-Mali?«

»Kun kwaun.«

»Bist du drüben?«, fragte Charles. Er rührte sich nicht. Er spürte einen feinen Luftzug und atmete den Duft ihrer Haut. »Bist du bei mir?«

»Kun kwaun«, wiederholte sie noch zärtlicher als zuvor.

Charles fühlte, wie Tränen über seine Wangen liefen. »Bist du es wirklich? Dan-Mali, ich dachte, die Toten kehren nicht zurück. Aber einige schon, nicht wahr?«

Dan-Mali antwortete nicht.

»Es ist nur ein Traum, nicht wahr?«

Dan-Mali schwieg.

Charles sah das Licht, das unter dem Türspalt in die Pharmacie drang. Obwohl es dunkel war, sah er auch das Blut. Es floss schnell, wie nach einem Dammbruch. Jetzt wurden Türen und Fenster eingedrückt, und überall drangen riesige Blutmengen herein. Manchmal war ein Kopf darunter. Ausgemergelte Köpfe mit Haut wie Pergamentpapier und Augen wie verkohlte Aprikosenkerne. Die Flut riss Charles mit, nach draussen. Am Ende der Strasse sah er die Guillotine auf sich zuschwimmen. Das hohe Blutgerüst wankte, aber es kippte nicht. Es wollte zu ihm. Die Guillotine war unterwegs. Zu ihm.

»Nein«, schrie Charles, »ich habe kein rotes Hemd, ihr könnt mich nicht mitnehmen. Das ist Vorschrift. Ohne rotes Hemd geht keiner aufs Schafott.«

Ein Zwerg mit schwarzem Dreispitz zupfte Charles am Ärmel. »Monsieur de Paris! Der Nationalkonvent hat verfügt, dass Schuhmacher nur noch für die Verteidiger der Nation arbeiten dürfen, und wer dagegen verstösst, dem werden alle Schuhe beschlagnahmt. Deshalb waten immer mehr Menschen barfuss im Blut. Wir kriegen die Blutströme nicht mehr unter Kontrolle. Die Erde mag das viele Blut nicht mehr aufsaugen. Das Blut steht wie ein Bergsee. Es klebt an den Barfüssigen, es klebt an den Schuhträgern, es klebt an den Rädern der Karren, an den Hufen der Pferde. Es regnet nicht mehr. Die Sonne scheint. Es stinkt. Nach Fäulnis. Gott mag es nicht, dass wir so viele Schuhmacher guillotinieren. Morgen haben wir keine Schuhmacher mehr. Ich sage Ihnen, uns werden die Schuhmacher ausgehen. Dann laufen wir alle barfuss im Blut herum.«

»Aufhören!«, schrie Charles und begann nach dem Zwerg zu treten. Doch er trat ins Leere. Da war kein Zwerg.

Die Karikatur erschien am 17. Juni 1794. Sie zeigte den Henker Charles-Henri Sanson, wie er sich selbst unter die Guillotine legt und den Eisenbolzen zieht, der das Fallbeil arretiert. »Warum guillotiniert sich der Henker selbst?«, stand in der Bildlegende. »Weil er der letzte Bürger von Paris ist. Jetzt endlich ist Paris gesäubert.«

Im Juni hatten Charles, Henri und ihre Gehilfen sechshundertachtundachtzig Todesurteile zu vollstrecken. Ein neues Gesetz war erlassen worden, das verbot, sich vor Gericht verteidigen zu dürfen. Die Radikalen um Robespierre, Saint-Just und Fouquier hatten sich derart vom Volk entfernt, dass sie ihren Wahnsinn nicht mehr erkannten. Alle wurden guillotiniert: Assignatenfälscher, Soldaten, Offiziere, Generäle, Priester, Jugendliche, Tuchhändler, Kriegsinvaliden, Behinderte, denen man zuerst die Knochen brechen musste, damit sie aufs Brett passten, gebrechliche alte Menschen, die nicht mehr allein die Treppe zum Schafott hochkamen. Die Revolutionäre brachten nicht Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern Tod und Verderben und füllten die Friedhöfe.

Jetzt regierte tatsächlich Robespierre, der die Monarchie abgeschafft hatte, um dem Bürger die Freiheit zu geben. König Robespierre. Im Ausland sprach man von Robespierres Feldzügen, von Robespierres Truppen, von Robespierres Gesetzen und auch davon, dass er die Königskrone anstrebe. Diese Gerüchte freuten seine lauernden Feinde, denn sie liessen Robespierre als Tyrannen erscheinen, den es zu stürzen galt. Als einer den Mut hatte, dies öffentlich zu machen, floh Robespierre. Er kannte die Architektur des Terrors. In die Enge getrieben, schoss er sich bei einem missglückten Selbstmordversuch den Kiefer weg. Dieser Schreibtischtäter war in praktischen Dingen sehr ungeschickt, und Anatomie war nie seine Stärke gewesen. Nicht erstaunlich, dachte Charles, als er am 28. Juli zusah, wie Henri und die Gehilfen den Schlächter Robespierre zur Guillotine führten. Zwischen dem Erlass vom 10. Juni und dem Sturz Robespierres waren 1376 Menschen guillotiniert worden.

»Jetzt fehlt nur noch einer«, sagte Charles, als Henri die Treppe des Schafotts hinunterstieg.

»Lass es gut sein, Vater, ich will dich nicht da oben in einem roten Hemd sehen. Das Terrorregime löst sich auf. Es ist bald vorbei.«

»Ich sehne den Tag herbei, an dem ich endlich abschliessen kann.«

»Du hast abgeschlossen, Vater. Du hast mir dein Amt übergeben.«

»Es fehlt noch ein Urteil«, insistierte Charles, »ich werde so lange in die Conciergerie gehen, bis der Name auf der Liste steht.«

»Du vergeudest deine Zeit, Vater.« Henri berührte sanft seinen Arm.

»Ich weiss, Henri, aber vielleicht ist es das Letzte, das ich tun werde.«

Bereits am nächsten Tag suchte Charles die Conciergerie auf. Das Büro von Antoine Fouquier.

»Klopfst du nicht mehr an, Bürger Sanson?« Fouquier beugte sich wieder über seine Akten. »Dein Sohn hat die Liste bereits abgeholt.«

»Ich habe sie gesehen, Antoine, deine Liste. Es fehlt noch ein Name.«

Fouquier blickte kurz hoch. »Oh, du bringst mir einen Namen?«

»Ja«, sagte Charles, trat hinter den Schreibtisch und fasste Antoines Schultern. »Antoine Fouquier de Tinville!«

»Lass mich los, du tust mir weh.«

»Genau deshalb bin ich hergekommen, Antoine, um dir weh zu tun. Ich wurde ausgebildet, um den Menschen Schmerzen zuzufügen. Aber ich wollte heilen.«

Antoine riss sich los und wollte sich erheben, doch Charles drückte ihn mit Gewalt auf seinen Stuhl zurück und nahm seinen Nacken in einen eisernen Griff. »Auch ich habe Nachforschungen angestellt«, sagte er leise, »wie du damals in Rouen, Antoine Fouquier de Tinville, erinnerst du dich?«

»Ich werde die Wachen rufen«, schrie Antoine und versuchte vergeblich, sich aus der Umklammerung des Henkers zu befreien.

»Sie sind schon unterwegs«, sagte Charles, »du brauchst sie nicht mehr zu rufen.«

»Was soll das, Charles? Lass mich endlich los!«

»Du hast Gorsas unter die Guillotine geschickt, nachdem er aus London zurückkam. Er hat uns von dort etwas mitgebracht.«

»Ach ja?« Antoine ruderte hilflos mit den Armen.

»Ja, Antoine, ja.«

»Charles, wo soll das enden? Wie hast du dir das vorgestellt? Hier kommst du niemals lebend raus. Also lass mich endlich los!« Antoine geriet plötzlich in Panik und versuchte erneut, sich zu befreien.

Charles hatte den Stuhl umgedreht und schlug kräftig auf ihn ein. Wie eine Maschine schlug Charles zu, als wolle er jeden Einzelnen der Hingerichteten rächen. Und die Schläge trafen Antoine wie die Hufe eines Pferdes, das zu lange im Stall gestanden hatte. Selbst als Antoine schon blutüberströmt am Boden lag und sich wie ein Wurm vor Schmerzen krümmte, trat Charles nach ihm. Erst als sich Antoine nicht mehr bewegte, setzte sich Charles auf den Stuhl des obersten Anklägers. Sein Fuss ruhte auf Antoines Nacken.

»Ihr habt ein Gesetz erlassen, das den Besitz von Gold verbietet, damit ihr weiterhin das ganze Land mit eurem wertlosen Papiergeld ersticken könnt. Wer sein Gold nicht abliefert und gegen wertlose Assignaten eintauscht, wird sechs Jahre in Eisen gelegt. Aber auf den Dokumenten, die Gorsas in London von Walter Boyd erhalten hat, stehst du und deine gesamte Sippe an erster Stelle. Ihr habt eure eigenen Gesetze gebrochen und Millionen in Gold ausser Landes gebracht. Und du sollst nach deinen eigenen Gesetzen verurteilt und hingerichtet werden.«

»Damit kommst du nicht durch«, flüsterte Antoine. Er wollte sich erheben, doch Charles drückte ihn nieder. Antoine starrte entgeistert auf den Hünen über ihm. »Bist du von Sinnen, dafür endest du unter der Guillotine!«

Charles packte Antoine und riss ihn hoch. Er warf ihn auf den Tisch und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Dann zog er ihn an einem Bein zu sich heran und schlug erbarmungslos zu. Antoine kroch blutend unter den Tisch. Charles stellte ihn wieder auf die Beine. In diesem Augenblick griff Antoine blitzschnell nach der Glocke auf seinem Schreibtisch und schmiss sie gegen die Tür. Fast im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestossen, und vier Gardesoldaten betraten das Büro.

»Nehmt ihn fest!«, befahl Antoine.

Die Gardesoldaten umzingelten beide.

»Ihr sollt ihn festnehmen, habe ich gesagt. Er soll noch heute unters Messer.«

Einer der Soldaten packte Antoines Arme, ein anderer fesselte sie.

»Was hat das zu bedeuten?«, schrie Antoine und versuchte sich zu befreien.

»Wir führen nur Befehle aus, Bürger Fouquier. Sie werden verhaftet, weil Sie widerrechtlich Gold besessen und es überdies ins feindliche Ausland gebracht haben. Sie haben der Revolution geschadet und mit dem Feind kollaboriert.«

»Wir sehen uns dann auf dem Schafott, Antoine Fouquier de Tinville. Ich bin gespannt, welche Farbe dein Blut hat«, sagte Charles.

»Gott hasst euch alle!«, schrie Antoine, während ihn die Soldaten aus dem Büro schleppten.

Charles stand bereits neben der Treppe zum Schafott, als Henri und die Gehilfen mit dem Wagen eintrafen. Sie hatten nur einen einzigen Gefangenen. Er sollte einer der Letzten sein, die am Ende des Terrorregimes in den Sack spuckten. Die Zuschauer waren zahlreich, der ganze Platz bis auf den letzten Quadratzentimeter besetzt.

»Fouquier«, brüllte jemand, so laut wie er konnte. Der Todgeweihte drehte sich um. Tobias Schmidt bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er torkelte zur Treppe und fiel vor Fouquier der Länge nach hin. Er war betrunken. »Sag mir dann, wie dir die Guillotine gefallen hat. Vielleicht hast du Verbesserungsvorschläge. Die Bolzen, Zungen und Nuten sollten aus Eisen sein und nicht aus Holz, nicht wahr? Und wie wär’s mit einem gelben Anstrich?«

Fouquier wandte sich von Schmidt ab und schritt selbständig die Treppe zum Schafott hoch. Firmin und Barre hielten Schmidt davon ab, ihm zu folgen. Charles stellte sich hinter die Guillotine, zwischen die beiden senkrechten Balken. Charles’ Konterfei war das Letzte, was Fouquier sah, als man ihn aufs Brett band und in die Waagerechte klappte.

Das Blut quoll über die Holzbohlen. Charles wurde nicht befleckt. Er wusste, wo man zu stehen hat.

Fouquiers Tod veranlasste Charles, erneut sein Tagebuch hervorzunehmen. Es war sein letzter Eintrag. Danach schwieg er für immer. Er war zu schwach, um die Feder zu führen. Es war zu viel für die Hand, die dreitausend Menschen guillotiniert hatte. Die letzten Worte in seinem Tagebuch waren: »Es gibt keinen Fluch. Es gab nie einen Fluch. Es gibt nur einen Fluch, wenn man daran glaubt. Aber ich glaube nicht mehr daran. Der Mensch ist frei in seinen Entscheidungen.«

Charles-Henri Sanson sah nie mehr ein Schafott. Er sass oft unten am Fluss und starrte ins Wasser. Er überlegte, ob es möglich sei, dass eins der Opfer wiederkehre. Eine spirituelle Begegnung oder etwas Vergleichbares. Bei so vielen Geköpften konnte es doch sein, dass einem Einzigen die Wiederkehr gelang. Wenn sich jemand näherte, versetzte ihn dies in Angst und Schrecken. War es real, oder war es die befürchtete Wiederkehr? Wenn er traurige Blicke sah, kam ihm stets in den Sinn, wie traurig viele Verurteilte ihn jeweils angeschaut hatten. Ich muss schon gehen, während andere bleiben können, schienen sie zu sagen. Die werden folgen, dachte Charles. Immer wieder zuckte er zusammen. Jedes Geräusch verband er mit der Maschine, die ihn versklavt hatte. Das Knarren der Holzbohlen, das giftige Quietschen, wenn das Klappbrett nach vorn gestossen wurde, das Zuklappen der Lünette, das Lösen des Bolzens, das Heruntersausen des Fallbeils, das dumpfe Aufschlagen des Kopfes im Weidenkorb.

Auch in der Küche gab es viele Geräusche, die ähnlich klangen. Sassen sie beim Essen am Tisch, fuhr er plötzlich hoch, sein Herz pochte, und das Blut wich aus seinem Gesicht. Er starrte Marie-Anne an, als wollte er in ihrem Gesicht lesen, ob er sich das alles eingebildet hatte. Sie lächelte und ging auf ihn zu. Er verstand nicht, wieso sie jetzt hier war und lächelte. Sanft legte sie von hinten ihre Hände auf seine Schultern. Manchmal sprach sie sogar zu ihm. Sie sagte, alles sei gut. Oder sie fragte ihn, ob er noch Suppe wolle. War er noch hungrig, nickte er. Es war ein besonderer Kopf, kahl, hager, und wenn ihn keine Geräusche aufschreckten, strahlte er eine grosse Ruhe und Würde aus. Seinen Gehilfen entging nicht, wie er sich veränderte. Aber zu gross war der Respekt, den sie Monsieur de Paris entgegenbrachten. Henri sass immer zu seiner Rechten am Tisch und legte stets seine Hand auf die seines Vaters, wenn diese kaum merklich zitterte. Fast zärtlich berührte er die Hand und fuhr mit dem Daumen darüber.

Charles ritt am Gärtnerhaus seiner verstorbenen Schwiegereltern vorbei, den endlosen Gemüsebeeten entlang, bis er den Wald erreichte. Er nahm den schmalen Pfad, der sich im Laufe der Jahre gebildet hatte, und ritt hoch hinauf in den Wald, bis er oben auf dem Hügel die saftigen Wiesen sah, die von Felsen begrenzt wurden. Dort, wo die Wiesen im Schatten lagen, waren sie immer nass, so dass sein Pferd mit den Hufen darin versank. Er stieg ab und stampfte durch den Matsch. Dann sah er die Pilze. Der Fruchtkörper hatte ungefähr die Höhe einer Hand. Als Charles den Pilz pflückte, verfärbte sich die Bruchstelle blau. Er ritt zurück in den Wald, bis er die Seite erreichte, die der Sonne zugewandt war. Dann ritt er hinunter zum Fluss. Hier war der Boden trocken. Er nahm den Sattel von seinem Pferd und warf ihn über einen Baumstrunk. Er legte sich hin und ass den Pilz.

Zuerst hörte er nur vereinzelte Vogelstimmen, dann wurden es mehr und mehr. Es war, als würde die ganze Welt für ihn singen. Der Himmel begann zu atmen, aber er hatte keine Angst, erdrückt zu werden, denn er fühlte sich so leicht, als schwebte er auf Daunen. Charles wusste aus der Literatur, die ihm sein Vater hinterlassen hatte, dass dieser Pilz in grauer Vorzeit dazu benutzt worden war, das Schicksal zu befragen. Deshalb nannte man ihn das Fleisch der Götter. Er spürte, wie Gott in ihn fuhr. Er spürte das Kribbeln von Ameisen in seinen Schultern, spürte, wie sie langsam der Wirbelsäule entlang hinabwanderten, bis sie den ganzen Körper besetzt hatten. Dann setzte die Kälte ein. Er versuchte aufzustehen, doch er schwankte wie ein Betrunkener. Selbst sein Pferd wich vor ihm zurück. Die Farben und Lichter um ihn herum begannen zu sprühen, und plötzlich sah er etwas kommen, wie in einem Kaleidoskop. Er legte sich wieder hin und spürte einen Hauch von Ewigkeit.

»Vater«, sagte Henri, »was ist mit dir?«

»Ich habe Gott gegessen«, flüsterte Charles. »Doch Gott ist nur ein Pilz«, fügte er mit einem leisen Anflug von Bedauern an, »nur ein Pilz.«

Henri löste sich aus dem Kaleidoskop. Er kniete vor seinem Vater nieder.

Der Fluss, sagte Charles melancholisch, sei der wahre Lehrmeister des Lebens. »Alles fliesst. Nichts bleibt stehen. Du kannst den Fluss nicht festhalten, Henri. Das Wasser zerrinnt in deinen Händen. So ist das Leben. Du schwimmst mit, und kein Tropfen ist von Bedeutung, aber alle Tropfen zusammen, alle zusammen mögen eine Bedeutung haben, aber es spielt keine Rolle. Hast du schon einmal versucht, dir einen Tropfen Wasser im Fluss zu merken? Am Ende spielt eh alles keine Rolle. Ob du kurz oder lange gelebt hast, die Ewigkeit relativiert die Anzahl der Jahre, die du hier auf Erden verbracht hast. Und letztendlich hat auch der Fluss keine Bedeutung.«

»Vater«, sagte Henri, »wieso sprichst du so?«

»Der Tod ist die Befreiung und das Ende aller Übel. Über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus. Er versetzt uns in jene Ruhe zurück, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«

Charles sass inmitten seiner Kräuter im Hof seines Hauses. Er trug eine braune Kniebundhose, graue Strümpfe und schwarze Lederschuhe, deren Rist von einer grossen Schnalle überzogen war, ein braunes Hemd und einen schwarzen Dreispitz. Er überlegte, ob er nochmals hinaufreiten und nach Pilzen suchen sollte. Doch dann vergass er den Gedanken und konnte sich mit dem besten Willen nicht mehr erinnern, woran er gerade gedacht hatte. Vielleicht an die Köpfe auf dem Friedhof. Musste er sie wieder ausgraben? Das war wohl das mindeste, was er für sie tun könnte. Vielleicht warteten sie auf ihn.

»Der Tod besucht jeden«, flüsterte Charles, »einige leben lange, andere sterben jung. So kommt der Tod zu Menschen jeden Alters, wie bei den Tieren und den Bäumen, und niemand lebt wirklich lange.«

Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Es roch nach nassem Hundefell. Nach anfänglichem Zögern berührte er die Hand und hielt sie fest. Es war Zeit für das Abendessen.

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