Epilog

Am 18. März 1847 betrat eine alte Frau mit schwarzem Schleier die Kirche Saint-Laurent in Paris und blieb in der Mitte des Kirchenschiffes stehen. Durch die gotischen Fenster drang nur spärliches Licht, doch die Frau sah, dass jemand in der vordersten Bank kniete. Das musste er sein. Man hatte ihr gesagt, sie würde ihn hier finden. Ihre Schritte widerhallten auf dem Steinboden. Als sie die vorderste Bank erreicht hatte, kniete sie neben dem Mann nieder und faltete die Hände zum Gebet.

»Sind Sie Henri-Clément Sanson, der Enkel des grossen Charles-Henri Sanson?«, fragte sie leise.

Der Mann rührte sich nicht. Sein Gesicht war ungepflegt und vom Alkohol aufgedunsen. Er mochte gegen fünfzig sein. »Kommen Sie mir nicht zu nahe«, murmelte er, »ich bringe den Menschen kein Glück. Auf meinem Geschlecht lastet ein Fluch. Also gehen Sie, Gott hat heute eh keine Zeit für Sie.«

»Gott hat immer Zeit«, sagte die Frau ohne jegliche Überzeugung, »oder, sagen wir, meistens.«

»Mag sein«, sagte Henri-Clément, »aber heute brauche ich ihn für mich ganz allein.« Er starrte auf das Mosaikbild über dem Altar. Es zeigte die Wiederaufstehung Jesu.

»Glauben Sie an die Auferstehung?«, fragte sie.

»Nein, Madame, ich fürchte sie. Alle meine Vorfahren haben sie gefürchtet. Weil sie die Toten fürchten. Die Rückkehr der Toten. Zuerst verspürt man nur einen feinen Luftzug. Und plötzlich sind sie da und starren. Der letzte Blick eines Sterbenden prägt sich ein wie ein Brandmal. Wir haben viele Schultern gebrandmarkt. Noch heute habe ich den Geruch von schmorendem Menschenfleisch in der Nase. Ich habe die Wunden jeweils mit Schweineschmalz und Schiesspulver eingerieben. Ich habe nicht nur getötet, ich habe auch Schmerzen gelindert, ich habe geheilt. Wie alle meine Vorfahren.« Er senkte den Kopf und versuchte zu beten. Nach einer Weile herrschte er die alte Frau an: »Finden Sie keinen anderen Ort zum Beten?«

Sie schwieg.

Er versuchte, ihr Gesicht zu sehen. Vergebens. Nachdenklich fuhr er sich über die schwarzen Bartstoppeln und flüsterte: »Mein Grossvater wollte nie Henker werden. Ich auch nicht. Ich habe diesen Beruf immer gehasst.«

»Es gab nie einen Henker wider Willen, dafür war die Bezahlung zu gut«, erwiderte sie verächtlich. »Es gab nie einen Fluch. Ich bin nach Paris gekommen, Monsieur, um die Tagebücher Ihres Grossvaters zu kaufen. Er hat doch während der Revolution Tagebuch geschrieben?«

»Ja«, sagte er, »mein Grossvater war Charles-Henri Sanson, der grosse Henker der Französischen Revolution. Man nannte ihn ehrfürchtig Monsieur de Paris. Er hat mir alles erzählt. Mein Vater hat sich kaum dafür interessiert. Die Geschichte wird ihn vergessen. Aber meinen Grossvater, den wird man nicht vergessen.«

»Wo sind die Tagebücher, Monsieur? Ich will sie sehen. Ich will lesen, was der grosse Sanson über mich geschrieben hat.«

»Über Sie? Wie auch immer: Ich bezweifle, dass Ihnen die Aufzeichnungen Freude bereiten werden. Aber wenn Sie darauf bestehen, Madame, wird es etwas kosten. Ich brauche Geld. Kennen Sie d’Olbreuse? Ein Mann der Feder. Er sucht Memoiren für seine Druckerei. Er sucht skandalträchtige Tagebücher. Balzac soll ihm bei der Überarbeitung helfen. Es ist zu viel für einen einzigen Mann. Dreitausend Morde, das kann ein Mensch allein nicht verkraften …«

»Und doch hat es einer getan«, unterbrach sie ihn.

»Er hat es getan, aber den Frieden, den hat er nicht mehr gefunden.« Henri-Clément lachte leise und warf der Frau einen prüfenden Blick zu. »Was wissen Sie schon über die Sansons?«

»Eine ganze Menge«, murmelte sie vieldeutig, »aber das ist jetzt nicht wichtig. Hat d’Olbreuse die Tagebücher schon gelesen?«

Misstrauisch schaute er zu ihr hinüber. Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Plötzlich hatte er eine Ahnung. Hatte sein Grossvater nicht die verrückte Marie erwähnt, die ihm nachts auf dem Friedhof Madeleine aufgelauert hatte? Falls diese Frau die Revolution überlebt hatte, musste sie heute … Er rechnete. Über fünfzig Jahre war das her. Über ein halbes Jahrhundert. Sie musste über achtzig Jahre alt sein.

»Ich will die Maschine und die Tagebücher«, sagte die Frau mit eiserner Stimme und streifte den Schleier ab. Jetzt konnte er ihr Gesicht deutlich sehen. Die knochige Nase stach wie ein Fels aus dem ausgemergelten Gesicht. Die Haut weiss wie der Kalk, den man damals auf dem Friedhof Madeleine über die blutüberströmten Rümpfe der Guillotinierten schüttete. Ihr Blick mumienhaft starr, als sei sie soeben einer Gruft entstiegen. Ihre Augen glasig wie Murmeln. Und jetzt, da ihr die Farbe des Zorns ins Gesicht schoss, wirkte sie fast rosa, wie eine alte Puppe aus Wachs. Wie eine Wachsfigur aus dem Kabinett des Schreckens.

»O mein Gott«, sagte Henri-Clément entsetzt und fuhr sich mit beiden Händen über das Haar. »Sind Sie etwa diese verrückte Marie vom Friedhof Madeleine? Sie sind Madame Tussaud!« Er war ein schlechter Schauspieler. Die jahrelangen Alkoholexzesse hatten ihn zerrüttet. »Ich habe alles verkauft, Madame«, fuhr er fort, ohne ihre Antwort abzuwarten, »die Locken von Louis XVI, den Schuh von Marie Antoinette, den speckigen Kragen von Danton. Nur von Robespierre haben wir nichts aufbewahrt. Ausser einem blutgetränkten Taschentuch. Ich weiss nicht, wem es gehörte. Es gab so viele Menschen, die nach der Exekution zum Schafott rannten und ihr Taschentuch im Blut tränkten. Es sollte Glück bringen. Mir blieben nur die Maschine und die Tagebücher.«

Madame Tussaud schob den zahnlosen Unterkiefer nach vorn und presste die dünnen Lippen zu einem Strich zusammen. »Ich will die Maschine und die Tagebücher«, wiederholte sie, »ich will alles.«

»O mein Gott«, seufzte er und rang nach Worten. Er verwarf die Hände, wollte aufstehen, doch er blieb knien. Ihm fehlte die Kraft. Im Übrigen wollte er beten. Er musste beten. Wie alle seine Vorfahren. Sie hatten alle viel gebetet. Für all die Seelen, die die Maschine vom Körper getrennt hatte. »Ich bin hier, um zu beten«, schrie er verzweifelt. Seine Worte widerhallten in der leeren Kirche. Wieder starrte er auf das Mosaikbild über dem Altar, als wollte er sich vergewissern, dass Gott vernommen hatte, dass er hergekommen war, um zu beten, und dass es nicht seine Schuld war, dass er immer noch am ersten Rosenkranz war. Nicht schon wieder seine Schuld.

»Monsieur«, sagte Madame Tussaud ungerührt, »Sie können schreien und toben, wie Sie wollen. Ihr Benehmen ist unwürdig. Sie sind hier, um zu beten, und ich bin aus London hergekommen, um die Maschine zu kaufen. Ich bezahle bar. Zehntausend Franc.«

»Zwanzigtausend für die Maschine«, entgegnete Henri-Clément wie aus der Pistole geschossen.

Sie reagierte nicht, sie fixierte den Altar.

»Nun gut, Madame«, lenkte er ein, »sechzehntausend, und die verfluchte Maschine gehört Ihnen.«

»Sie wären auch mit der Hälfte zufrieden«, murmelte sie.

Er musterte sie voller Verachtung. Diese Alte war es gewohnt, Geschäfte zu machen, gute Geschäfte, und einem wie ihm sah man gleich an, dass er Geld brauchte. Sie konnte ihn demütigen und den Preis drücken. Er hatte dem nichts entgegenzusetzen. Er wusste, wie man Köpfe sauber vom Rumpf trennte, aber vom Geschäft verstand er nichts. »Also einverstanden«, entgegnete er trotzig, »aber dafür kriegen Sie nur die Maschine. Keine Tagebücher.«

»Erzählen Sie mir zuerst die Geschichte der Sansons, dann werde ich entscheiden, ob ich die Tagebücher kaufe. Ich bezahle keinen Sou für dummes Geschwätz.«

»Mit mir, dem letzten Sanson, endet die Dynastie. Ich bin der Letzte, der Ihnen die Geschichte erzählen kann. Aber ich brauche Geld. Ich habe eine Menge Schulden. Und zudem hat mich meine Frau heute verlassen. Das wäre keinem Sanson passiert. Ich bin kein richtiger Sanson. Ich bin ein Versager. Die Sansons waren stark, von grossem Wuchs, charismatische Erscheinungen, imposant und würdevoll, souverän. Sie waren allein gegen den Rest der Welt, und kein Sturm zwang sie in die Knie, nichts konnte sie erschüttern, doch ich bin schwach, ich bin feige, ich habe keinerlei Ambitionen, ich saufe wie ein Bürstenbinder und besuche die verruchtesten Etablissements von Paris. Ich küsse alles, was einen Rock trägt. Und … nicht nur, was einen Rock trägt. Nein, Madame, ich habe nichts von dem, was die Sansons hatten, was einen Sanson zu einem Sanson machte. Ich bin lediglich der Letzte seiner Art, die Schande der Dynastie. Ich verdarb im Schatten der Guillotine, während mein Grossvater, der grosse Sanson, in die Geschichtsbücher eingegangen ist.«

»Lassen Sie uns gehen, Monsieur«, sagte Madame Tussaud kühl, »ich bin nicht hier, um Ihnen Trost zu spenden.«

»Haben Sie denn kein Mitgefühl, Madame?«

»Mitgefühl? Wenn Sie Mitgefühl suchen, nehmen Sie sich einen Hund. Paris ist voll von streunenden Hunden. Wo ist Ihre Maschine?«

»Es ist nicht meine Maschine«, wehrte er ab, »es war nie die Maschine der Sansons. Wir waren nur die Vollstrecker der Urteile. Wir haben diese gottverdammte Guillotine weder erfunden noch gebaut. Es waren die Ärzte Louis und Guillotin. Es ist sozusagen ein ärztliches Instrument. Aber was zum Teufel wollen Sie mit ihr?« Er sprang auf.

»Ich werde sie nach London bringen«, sagte sie ruhig und erhob sich ebenfalls. Behutsam. Man hörte das Knacken ihrer Gelenke.

»Soll ich Ihnen helfen?«, fragte Henri-Clément besorgt.

»Fassen Sie mich nicht an, ich will nur Ihre Maschine.«

»Und was werden Sie mit ihr in London tun?«

»Ich werde sie ausstellen inmitten der Robespierres, Dantons, Marats und wie sie alle heissen, denn ich habe sie alle an den Haaren aus den bluttriefenden Weidenkörben Ihres Grossvaters gefischt und in Wachs modelliert.« Sie setzte sich auf die Gebetsbank. »So wie ihr, die Sansons, das Schwert des Henkers von Generation zu Generation weitergegeben habt, will auch ich mein Werk vollenden und es an meine beiden Söhne übergeben. Aber zuerst will ich die Maschine. Es ist das Einzige, was mir noch fehlt. Und die Geschichte dazu. Ihr Grossvater ist längst tot, Monsieur, aber meine Wachsfiguren werden noch in hundert Jahren die einzige lebendige Erinnerung der Menschen an die Französische Revolution sein. Ich allein modelliere diese Erinnerung, und ich allein werde bestimmen, was man über ihre Schöpferin, Madame Tussaud, erzählen wird. Deshalb will ich die Geschichte hören und gegebenenfalls die Tagebücher erwerben. Madame Tussaud ist ein Unternehmen geworden. Ich werde nicht dulden, dass mein Lebenswerk zerstört wird. Sie werden erzählen, Monsieur, und Sie werden mir jede Frage beantworten, und ich schwöre Ihnen, junger Mann, wenn Sie es wagen, mich auch nur ein einziges Mal anzulügen, werde ich in Ihrem Schuppen die Feuerzange finden und Ihre Schulter brandmarken. Und ich werde Ihnen kein Schweineschmalz einreiben.«

»Schon gut, schon gut«, erwiderte Henri-Clément, der sich neben sie gesetzt hatte. »Ich werde Ihnen von diesem Fluch erzählen, von diesen schicksalhaften Ereignissen.«

»Hören Sie auf damit, ich sagte doch schon, es gab nie einen Fluch, es gab nie einen Henker wider Willen. Erzählen Sie schon, mein Schiff fährt heute Abend nach England zurück.«

»Sechzehntausend Franc für die Maschine? Ich kann mich darauf verlassen?«

Sie nickte.

»Aber auch ich warne Sie, Madame, der Fluch wird Sie verfolgen und Ihr Museum in Flammen aufgehen lassen. Ihre Figuren sind doch aus Wachs, nicht wahr?«

»Fangen Sie endlich an! Es gibt nichts, aber auch gar nichts, wovor ich mich noch fürchten könnte. Ich habe die Französische Revolution überlebt. Und zwei Ehemänner.«

»Madame, ich werde Sie zum Weinen bringen.«

»Daran ist noch keiner gestorben, fangen Sie an!«

»Ich brauche Wein, Madame. Anders ist es nicht zu schaffen.«

»Ich weiss, man hat mich gewarnt.« Sie nahm eine Flasche Rotwein aus ihrem Mantel hervor und stellte sie neben sich auf die Bank.

Henri-Clément griff sofort danach, riss den Korken heraus und trank die halbe Flasche in einem Zug. Dann begann er zu erzählen: »Mein Grossvater Charles-Henri Sanson starb 1806 im Alter von siebenundsechzig Jahren. Meine Grossmutter überlebte ihn um elf Jahre …« Er setzte erneut zum Trinken an.

»Monsieur«, sagte Madame Tussaud ungeduldig, »Sie sind ein erbärmlicher Trunkenbold. Geben Sie mir die Tagebücher, ich werde sie kaufen. Ich kann mir dieses larmoyante Gesabber nicht mehr länger anhören.«

»Es gibt keine« erwiderte er, »es gibt Aufzeichnungen, wer wann und warum hingerichtet worden ist. Zudem Inventarlisten der Kleider der Getöteten. Ich habe den Text ergänzt mit Zeitungsberichten aus der damaligen Zeit, Augenzeugenberichten, Aufzeichnungen von emigrierten Franzosen …«

»Ich weiss, dass es ein Originalmanuskript gibt. Ihr Grossvater führte eine Buchhaltung des Schreckens.«

»Aber um es verständlicher zu machen, musste ich es etwas ausbauen. Ich erhielt dreissigtausend Franc dafür. Der Journalist d’Olbreuse hat mir etwas geholfen, für siebzehntausend. Und als die Druckerei noch Balzac beizog, gab’s gleich fünf neue Bände. Den Mann müsste man mit der Axt erschlagen, damit er aufhört zu schreiben.« Er kramte in seiner Tasche und zog ein Amulett hervor. »Mein Vater schenkte mir diesen Glücksbringer: eine geborstene Glocke. Aber sie brachte auch mir kein Glück. Ich schenke sie Ihnen, wenn Sie mir noch eine Flasche Wein geben.«

»Ich pfeife auf Ihr Amulett und Ihre Memoiren, Monsieur. Es ist eh alles erstunken und erlogen. Zeigen Sie mir jetzt die Guillotine.«

»Sie ist nicht da«, murmelte er und senkte den Kopf.

»Wo ist sie?« Madame Tussaud war fassungslos.

»Ich habe sie ausgeliehen.«

»Ausgeliehen?«

»Dem Pfandleiher, gleich hier um die Ecke, ich brauchte Geld. Ist das so schwer zu verstehen? Sie können die Guillotine haben, aber zuerst müssen Sie sie aus dem Pfandhaus auslösen. Das geht ganz einfach, ich habe es schon oft getan. Manchmal musste es Canler tun, der Chef der Pariser Sûreté. Er hat mir gedroht, dass er mich fristlos entlässt, wenn es noch einmal passiert. Jetzt ist es wieder passiert. Wir sollten uns beeilen, bevor er es erfährt. Wann fährt Ihr Schiff nach London?«

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