3

Charles mochte Rouen auf Anhieb. Es war das Tor zu fremden Welten, zu anderen Kontinenten, zu neuem Wissen. Die Patres waren entspannter als die zornigen Gottesmänner, die von den Kanzeln der Pariser Kirchen auf ihre verarmte und eingeschüchterte Kundschaft hinunterschrien. In Rouen hörte man sich gegenseitig zu, man tauschte Argumente aus und schätzte die Gespräche, auch wenn die Meinungen auseinandergingen. Hier hatte es keinen Platz für eine wie Grossmutter Dubut, und das genoss Charles jeden Morgen. Er schlief zusammen mit sechzig anderen Klosterschülern in einem grossen Saal. Frühmorgens wurden sie von einer Glocke geweckt. Schweigend hatten sie den Hof aufzusuchen, wo sie sich am Brunnen wuschen. Danach versammelten sie sich in der Kapelle zum Morgengebet und suchten anschliessend gemeinsam den Speisesaal auf. Alles war streng geregelt, und jede Abweichung wurde geahndet. Aber selbst Strafen wurden nicht zornig, sondern freundlich ausgesprochen. Charles störte sich nicht an seinem neuen Tagesrhythmus. Er wollte lernen. Er wollte wissen. Er wollte den menschlichen Körper verstehen.

Und dann gab es noch etwas in Rouen, was sofort Charles’ Leidenschaft weckte. Im Speisesaal stand ein Klavier, das die Schüler nach Einnahme der Abendmahlzeit benutzen durften. Aber niemand machte davon Gebrauch, und Charles getraute sich nicht. Eines Abends jedoch, als alle ihre Mahlzeit beendet hatten und ein Pater mit der Glocke das Zeichen gab, den Tisch verlassen zu dürfen, blieb Charles sitzen. Er liess das Klavier nicht aus den Augen. Ein schmächtiger Junge setzte sich daran und begann sanft und einfühlsam in die Tasten zu greifen. Doch kaum war der Saal leer, haute der Junge immer wilder in die Tasten und stampfte wie von Sinnen auf den Pedalen herum. Charles stand auf und ging zu ihm hinüber. Neben dem Klavier blieb er stehen und beobachtete aufmerksam die Spielweise des Mitschülers. Dieser hatte Charles längst bemerkt. Er genoss die Aufmerksamkeit, die er ihm entgegenbrachte. Plötzlich schrie er, ohne aufzuschauen: »Setz dich schon, ich weiss, dass du spielen kannst. Ich bin Antoine.«

Charles liess sich nicht zweimal bitten. Antoine rutschte auf der Klavierbank zur Seite. Charles setzte sich und begann gleich zu spielen. Antoine schnitt eine Grimasse und intensivierte sein impulsives Spiel. Nun spielten beide drauflos, konzentriert und mit grosser Ernsthaftigkeit. Ab und zu warfen sie sich einen Blick zu und lachten lauthals. Dann beschleunigten sie erneut ihr Spiel. Es war grossartig.

»Wo hast du gelernt?«, fragte Antoine.

»Meine Schwester Dominique hat mir alles beigebracht.«

»Hat sie grosse Titten?«

Sie spielten noch über eine Stunde, bis schliesslich im Flur der Gong ertönte, der die Schüler aufforderte, die Schlafräume aufzusuchen. Antoine sprang von der Bank auf. »Wie heisst du?«

»Charles.«

»Hast du auch einen Nachnamen?«

»Einfach Charles.«

»Nun gut, Charles, lass uns morgen Abend wieder spielen. Oder gehst du lieber in die Kapelle beten?«

»Nein, wir spielen.«

»Gut«, sagte Antoine und grinste, »der liebe Gott hat unser ewiges Gesabber eh satt. Ich bin übrigens Antoine Quentin Fouquier de Tinville. Wie war schon wieder dein Nachname?«

Charles war irritiert. Er war diese Art von Humor nicht gewohnt.

Über die Musik fanden die beiden zueinander. Im Gegensatz zu Charles interessierte sich Antoine wenig für Anatomie und Pharmazie. Ihn interessierten die Musik, das Geld, das ihm seine Eltern jeden Monat schickten, und die Werbeseiten einer Pariser Druckerei, die jeden Monat Neuheiten aus den Pariser Gemeinschaftswarenhäusern publizierte. Das waren überdachte Märkte, in denen weit über hundert kleine Händler ihre Waren feilboten. Darunter waren viele unnütze Dinge, aber Antoine faszinierte jede neue Maschine, die über eine ausgeklügelte Mechanik verfügte und einen Nutzen hatte. Er konnte unendlich lange darüber referieren, denn er hörte sich gern reden. Und da er an Charles einen Narren gefressen hatte und dieser ein geduldiger, stiller Zuhörer war, liess er seinen neuen Freund nicht mehr aus den Augen. Er folgte ihm auf Schritt und Tritt. Die beiden waren ein seltsames Duo. Charles überragte alle seine Mitschüler um einen Kopf. Aus der Schülerschar stach er heraus wie der Koloss von Rhodos. Trotz seiner zurückhaltenden Art verkörperte er eine enorme physische Stärke und Präsenz. Das schien dem eher kleingewachsenen und schmächtigen Antoine zu imponieren. An der Seite von Charles wagte es Antoine, sich über seine Mitschüler zu mokieren. Charles entging das in keiner Weise, und es gefiel ihm überhaupt nicht. Aber er sah darüber hinweg, denn am Abend würden sie wieder gemeinsam am Klavier sitzen. Für eine Freundschaft ist es nicht zwingend notwendig, dass man alle Interessen und Meinungen teilt, dachte er. Eine Leidenschaft genügt. Bei ihnen war es nun mal die Musik, das Klavier.

»Ich mag es nicht, wenn du dich über die Armut einiger deiner Mitschüler lustig machst«, sagte Charles eines Abends nach dem Klavierspiel.

»Ach je«, erwiderte Antoine und lachte, »ich mache doch nur Spass.«

»Niemand kann etwas dafür, dass er arm geboren wurde. Den Eltern dieser Schüler gebührt grosses Lob, dass sie sich einschränken, um ihren Söhnen eine Schule bezahlen zu können.«

»Mir kommen gleich die Tränen«, seufzte Antoine und spielte den Verzweifelten. »Sie würden ihre Söhne besser nicht auf solche Schulen schicken, denn später fehlt ihnen eh das Geld, um ein Amt zu kaufen. Was hat ihnen denn die Schule gebracht ausser Entbehrungen?«

»Es ist kein Verdienst, reich geboren worden zu sein.«

»Es ist doch ein Unterschied, ob ich Antoine Quentin Fouquier de Tinville heisse oder Charles … wie war schon wieder dein Nachname?«

»Ich bin der Sohn des Chevaliers Sanson de Longval«, entgegnete Charles und bereute gleich, dies ausgesprochen zu haben. »Mein Vater ist Arzt«, log er obendrein.

»Sanson de Longval? Noch nie gehört.« Antoine machte ein Gesicht, als hätte er soeben etwas Saures heruntergewürgt. »Aber dein Vater schickt dir nie Geld. Hat er keins, oder verhurt er es?«

»Ich habe genug«, sagte Charles, »ich bin hier, um zu lernen.«

»Du scheinst ein Herz für arme Leute zu haben, Charles. Weil deine Familie nichts hat? Ausser Hunger. Und den grossen Titten deiner Schwester.«

»Wir sind eine Familie von Ärzten. Unsere Aufgabe ist es, das Leid zu lindern. Wir lieben die Menschen, egal ob sie arm oder reich sind.«

»Ich mag nur dich hier, Charles, ich mag deine stille Art. Ich rede wie ein Wasserfall, und du hörst mir zu. Ich beleidige dich ab und zu, und du schweigst. Manchmal frage ich mich, was ich dir antun muss, damit du aufbegehrst. Platzt dir denn nie der Kragen?«

Charles schwieg.

»Das meine ich gerade. Nichts bringt dich aus der Fassung. Manchmal reizt es mich, dir ins Gesicht zu schlagen, einfach um zu sehen, wie du reagierst. Aber meine Arme sind wohl zu kurz.« Antoine lachte vergnügt. »Und ich bin kein mutiger Mensch. Ich bin eher ängstlich. Ich habe zwar ein grosses Mundwerk, aber tief in meinem Innern mach ich mir in die Hosen. Kannst du das verstehen?«

Charles nickte.

Antoine klopfte ihm auf die Schulter. »Aber erzähl es nicht weiter. Ich habe dir eben ein Geheimnis anvertraut.«

Charles nickte erneut.

»Am Samstagabend will ich in der Taverne zum Goldenen Fass essen gehen. Es gibt frisches Wild. Leistest du mir Gesellschaft? Ich lade dich ein.«

Charles zögerte.

»Bitte, Charles, Geld habe ich genug, aber ich brauche einen Freund.« Antoine gab ihm erneut einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. »Antoine Quentin Fouquier de Tinville bittet zu Tisch.«

Jetzt musste auch Charles schmunzeln.

Von da an beschenkte Antoine seinen neuen Freund regelmässig und äusserst grosszügig. Er kaufte Charles sogar medizinische Fachbücher, die nicht ganz billig waren. »Für meinen zukünftigen Hausarzt«, pflegte er zu sagen. Einen solchen würde er brauchen, denn er hatte immer irgendwelche Beschwerden: Nadelstiche im Oberschenkel, Atemnot, zu viel Luft in den Gedärmen, ein Pfeifen im Ohr, diffuse Rückenschmerzen oder ganz einfach Albträume. Charles wusste auf fast alle Fragen eine Antwort. So wurde Antoine immer abhängiger von ihm. Und Charles vertiefte sich dank Antoine in jedes Organ. Deshalb festigte nebst der Musik auch Antoines Hypochondrie die freundschaftlichen Bande zwischen den beiden ungleichen jungen Männern. Bald hatte Charles eine ganze Bibliothek über den menschlichen Körper beisammen. Antoine verlangte noch mehr Geld von seiner Mutter. Er gab es mit beiden Händen aus, als handelte es sich dabei um wertlose Papierschnitzel. In der Schule nützte ihm das viele Geld nichts. Er war ein miserabler Schüler. Ohne Charles’ Hilfe hätte er nicht einmal das erste Jahr überstanden. Er wusste es, und manchmal kränkte ihn das so sehr, dass er das Bedürfnis hatte, Charles mit Boshaftigkeiten zu verletzen. Doch Charles nahm auch das einfach so hin. Er hatte nie gelernt, sich aufzubäumen. Widerstand war nicht Teil seines Repertoires. Er war es gewohnt, im Stillen zu leiden und das Schicksal mit all seinen täglichen Widrigkeiten zu ertragen. Charles konzentrierte sich auf die Schule, er war ein guter Schüler. Doch seine Leistungen spornten Antoine nicht an. Stattdessen gedieh der Neid in dessen Brust wie ein bösartiges Geschwür.

»Du bist nicht für die Medizin geschaffen«, sagte Charles eines Tages, als sie zusammen den Blutkreislauf studierten. »Ich will ganz offen sein, Antoine, du liebst die Menschen zu wenig. Du liebst nur dich selbst, und das ist für einen Arzt zu wenig.«

»Das tut richtig weh«, röchelte Antoine mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Was empfiehlst du mir denn?«

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Charles, als sie sich am Abend wieder ans Klavier setzten. »Du musst dir überlegen, was du besonders gut kannst. Was kannst du, was andere nicht oder nicht so gut können?«

»Reden, den Leuten die Sätze im Mund verdrehen, spotten. Soll ich Schauspieler werden?« Antoine haute in die Tasten und stampfte auf den Pedalen herum. »Suizid wäre auch eine Lösung. Oder ich suche mir in Paris ein hübsches Bordell und warte dort mein Erbe ab. Meine Mutter schrieb mir kürzlich, mein alter Herr huste Blut. Sie wollte, dass ich mit dem Arzt rede. Soll sie ihn doch selber fragen, wie lange es unsere Geldbörse noch macht!«

»Anwalt«, sagte Charles plötzlich, »du solltest Anwalt werden. Du könntest sowohl Mörder als auch Opfer verteidigen. Mit der gleichen Akribie. Denn dich interessiert nur der Sieg. Nicht die Gerechtigkeit.«

Antoine schmunzelte. »Du hast mich durchschaut, grosser Mann, meine Waffe ist die Sprache, mein Gehirn, mein Gedächtnis. Ich geniesse es, Menschen zur Schnecke zu machen. Am liebsten öffentlich, vor grosser Kulisse. Ich bin geltungssüchtig, ich will ein Grosser werden, ich geb’s zu. Und ich stehe dazu. Und? Ist das etwa peinlich? Wen kümmert das schon?«

»Hast du denn nie das Bedürfnis nach Frieden, nach Ruhe …?«

»Sag jetzt bloss nicht Harmonie. Welch grässliches Wort. Ich liebe den Streit, den Konflikt, die Auseinandersetzung. Die Hitze des Gefechts erweckt mich zu neuem Leben. Das spornt mich an. Sogar mehr als eine nackte Frau. Jedes Wortspiel ist mir lieber als ein guter Freund. Aber sag mal, kann man sich im Bordell tatsächlich so kleine Sauereien holen? Ich meine Pilze und solches Gemüse auf der Eichel?«

»Diese Geschwüre treten drei bis vier Wochen nach dem Bordellbesuch auf. Sie sind schmerzlos.«

»Dann bin ich ja beruhigt«, sagte Antoine und atmete hörbar aus. »Ich werde später wirklich einen privaten Hausarzt brauchen, Charles.«

»Dann schwellen die Lymphknoten an …«

»Oh, das war erst der Anfang? Wo zum Teufel sind denn schon wieder die Lymphknoten?«

»Dann gibt es Rötungen, und eine farblose Flüssigkeit wird ausgeschieden.«

»Aber nicht etwa durch meinen Schwanz? Hör auf, das wird ja richtig eklig.«

»Es folgen Symptome wie bei einer schweren Grippe. Die Haare fallen dir aus. Der Körper wird von schweren Entzündungen ruiniert. Wenn das Gehirn betroffen ist, verkümmern die Sprache und die Denkfähigkeit. Du fällst auf den Stand eines Vierjährigen zurück. Du kannst Blase und Darm nicht mehr kontrollieren. Die Sehnerven sterben ab, und dein Körper wird gelähmt.«

»Sag jetzt bloss noch, dass ich dann keinen mehr hochkriege.«

»Bei deinem Humor ist alles möglich.«

»Schon gut«, winkte Antoine ab, »dann werde ich wohl Anwalt, Charles, und du wirst ein kleiner Landarzt. Vielleicht reicht es nicht ganz zum Landarzt, dann wirst du halt Veterinär und wühlst in den Ärschen von abgemagerten Kühen und stinkst den ganzen Tag nach Scheisse.« Er gab Charles einen Klaps auf die Schulter und lachte amüsiert. Es war kein besonders freundlicher Klaps. Etwas hart und aggressiv. Und seine Augen funkelten dabei gefährlich. Charles ahnte, dass in dieser Brust noch eine andere, dunkle Seele wohnte.

Aufgrund seiner ausgezeichneten Leistungen durfte Charles mit Pater Collin nach Le Havre fahren, um neue Kräuter einzukaufen. Der Pater erzählte ihm unterwegs, wie einst die Wikinger Rouen überfielen, wie die Normandie an England fiel, und er zeigte ihm, als sie über den Marktplatz zum Westtor fuhren, die Stelle, an der Jeanne d’Arc im Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannte.

Im Hafen von Le Havre ankerten Handelsschiffe mit grossen Segelflächen. Damit die Schiffe nicht kippten, brauchten sie einen dicken Rumpf. Es war kaum zu glauben, was alles aus diesen Schiffsbäuchen herauskam: Menschen, wilde Tiere in Käfigen, exotische Hölzer, farbige Stoffe, Porzellan, kostbare Seide, Statuen, Fässer und Holzkisten, aus denen halbverwelkte Pflanzen hingen. Besonders begehrt waren Tee, Kaffee, Gewürze und pflanzliche Arzneistoffe. Diese Handelsschiffe gehörten meist der Französischen Ostindienkompanie. Die Kompanie hatte die rechtliche Form einer Aktiengesellschaft. Jeder konnte Aktien kaufen, Aktionär werden und am Gewinn der Gesellschaft partizipieren. Die Französische Ostindienkompanie war ein sehr bedeutendes Unternehmen. Sie hatte vom König die Rechte für den Seehandel mit Afrika, Arabien, Madagaskar, Südostasien, China und mit der Neuen Welt. Die französische Krone hatte die Handelsgesellschaft mit enormen Privilegien ausgestattet. So hatte sie nicht nur das Monopol auf alle eroberten Gebiete ausserhalb Frankreichs, sondern auch das Recht, eigene Kriegsschiffe und eigene Truppen auszurüsten. Sie hatte ihre eigene Gerichtsbarkeit und schlug ihre eigenen Münzen.

Charles konnte sich kaum sattsehen. Hinter den Handelsschiffen ankerten die begleitenden Kriegsschiffe der Kompanie, die mit Kanonen ausgestattet waren. Denn die Händler hatten sich nicht nur gegen fremdländische Völker zu behaupten, sondern auch gegen die konkurrierenden Holländer und Engländer, die ab und zu auf hoher See, fernab der Zivilisation, die Piratenflagge hissten und im Auftrag ihrer Könige raubten und plünderten.

Charles und Pater Collin flanierten den Quai entlang. Ein Schiff reihte sich an das andere. Vor einem imposanten Handelsschiff blieben sie stehen. Es trug grosse Wappen auf den Segeln, die goldenen Lilien des Königs auf blauem Hintergrund. Darauf die Krone.

»Florebo quocumque ferar« stand auf einem Segel. »Ich blühe überall dort, wo ich gepflanzt werde.« Der Pater lächelte. »Ich denke, dass die Händler eines Tages bedeutender sein werden als die Krone. Denn sie sind auf allen Ozeanen zu Hause.«

»Und die Kirche?«, fragte Charles.

»Die Kirche? Sie wird einen schweren Stand haben. Bibliotheken werden den Glauben ersetzen. Wenn keine Fragen mehr offen sind, wird es auch keinen Gott mehr brauchen. Religion ist nichts anderes als Nichtwissen.«

Schwarzafrikaner wurden in Ketten über den Quai getrieben. Charles hatte noch nie solche Menschen gesehen. Sie lösten in ihm Neugierde und Furcht aus.

»Schau dir die Leute an, die aus den Schiffen kommen«, sagte Pater Collin, »fällt dir etwas auf?«

»Sie haben schlechte Zähne. Einige bluten aus dem Mund, sie haben Geschwüre an den Lippen. Viele hinken und haben einen merkwürdigen Gang.«

»Sie leiden an Skorbut. Wenn sie länger als drei Monate unterwegs sind und kein Obst und kein Gemüse essen, fehlt dem Körper etwas. Die Schleimhäute beginnen zu bluten, und die Zähne fallen aus. Wenn es eines Tages jemandem gelingt, Nahrungsmittel besser zu konservieren, wird das eine Revolution in der Geschichte der Menschheit sein.«

»Das wird aber auch die Kriege verlängern. Mancher Krieg wird durch fehlenden Nachschub an Nahrungsmitteln gestoppt.«

Der Pater lächelte. Er mochte Charles. Er winkte jemandem zu, der an der Reling eines gigantischen Handelsschiffes stand, das mit fünfzig Kanonen bestückt war. Es war der niederländischen Fleute nachempfunden und verfügte über ein enormes Ladevermögen. Diese Art Schiffe waren etwas schwerfällig und hatten im Kampf gegen die Piraten im Indischen Ozean keine Chance. Deshalb wurden sie stets von kleineren, wendigen Kriegsschiffen begleitet. Der Unbekannte an der Reling winkte zurück und bat den Pater hinauf. Er trug einen orangenen, orientalisch anmutenden Umhang aus leichtem Stoff. Charles folgte Pater Collin. Sie zwängten sich an den Lastenträgern vorbei und bestiegen das Schiff.

»Das ist Pater Gerbillon«, sagte Collin, »er besucht im Auftrag des Königs das Königreich Siam. Er ist ein Jesuitenpater aus Paris.«

Die beiden Patres umarmten sich herzlich. Gerbillon war braungebrannt und von heiterem Gemüt. Seine Bewegungen hatten etwas Affektiertes, so wie es am Hof in Versailles zum guten Ton gehörte. In seinem Umhang, der bis zu den Knöcheln reichte, fiel er auf wie ein Paradiesvogel.

»Das ist Charles, mein bester Schüler«, sagte Pater Collin nicht ohne Stolz. Gerbillon musterte den grossgewachsenen Charles anerkennend. Er hatte dabei ein merkwürdiges Lächeln auf den Lippen. Es war nicht einfach der Schalk in seinen Augen, es war mehr. Etwas Konspiratives. Es irritierte Charles. Einem Menschen wie Gerbillon war er noch nie begegnet. Gerbillon war anders.

»Was haben Sie uns mitgebracht?«, fragte Collin.

Gerbillon zeigte zum Bug. Dort standen ein Dutzend Jugendliche, in lange Gewänder gekleidet. Er winkte sie herbei. Sie eilten auf Gerbillon zu, umringten Pater Collin und Charles und legten die Hände vor der Brust aneinander. Dabei senkten sie ehrerbietig den Kopf. »Das sind meine kleinen Freundinnen und Freunde aus dem Königreich Siam«, erklärte Gerbillon. »Sie werden in Paris am Collège Louisle-Grand studieren. Im Gegenzug studieren junge Französinnen und Franzosen in Siam. Der König wünscht dieses Austauschprogramm.«

»Sind die nicht etwas jung?«, fragte Collin.

»Das täuscht. Sie sind alle schon über sechzehn, aber sie sehen aus wie Zwölfjährige.«

Charles musterte die Jugendlichen. Die dunkle Haut und die langen schwarzen Haare faszinierten ihn. Sie hatten feine Gesichter, und ihre Lippen waren aufreizend schön und voll.

»Werden Sie erneut nach Siam reisen?«, fragte Collin.

»Auf jeden Fall«, sagte Gerbillon mit einem Lächeln, »das Wetter ist warm, die siamesische Küche ist ein Traum, und der König von Siam ist ein begeisterter Schüler. Ich habe ihm alles beigebracht über die Astronomie, wie wir sie hier praktizieren, aber er will noch mehr lernen. Er ist begeistert von den Instrumenten, die wir ihm aus Paris mitgebracht haben. Und es gibt eine Menge zu tun. Wir zeichnen erstmals exakte Seekarten. Das wird die Handelswege verkürzen. Und wenn wir dadurch den Holländern und Engländern ein Schnippchen schlagen können, hat sich das Ganze schon gelohnt.«

»Und Gott?«

Gerbillon vollführte ein paar kokette Bewegungen. »Das ist schon schwieriger. Gott hat es schwer gegen Buddha. Es ist zwar ein und dasselbe, aber ihr Buddha ist einfach freundlicher. Ich denke, wenn wir Siam erobern wollen, müssen wir ihnen ihre Religion lassen. So haben es die Römer getan und waren damit erfolgreich. Und Buddha ist nicht so prüde wie unser Gott.« Gerbillon lachte. »Sie kennen keine Scheu. Wenn sie lieben, empfinden sie keine Scham.«

»Wie wollen Sie das so genau wissen?«

»Man hat es mir so zugetragen.« Gerbillons Unschuldsmiene sprach Bände. Wie viele Menschen, die lange in den Kolonien lebten, hatte er die Sitten und Bräuche seines Heimatlandes weitgehend aufgegeben und die fremde Kultur angenommen.

Arbeiter trugen Käfige aus dem Bauch des Schiffes. Die gefangenen Tiere glichen riesigen Katzen. Ihr Fell war gelb und schwarz gestreift. Als ein Tier zu fauchen begann, sah man in eine furchterregende Schnauze mit riesigen Zähnen, die jedes andere Tier zerreissen konnten.

»Das sind Tiger«, sagte Gerbillon, »angeblich kann man die zähmen, aber ich hab’s nicht versucht. Ich hoffe, sie werden unserem König gefallen. Er wollte etwas Ausgefallenes für seinen Zoo.«

»Verstehen Sie unsere Sprache?«, fragte Charles eines der Mädchen. Sie war die Kleinste von allen, und trotzdem schien sie die anderen anzuführen. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht mit feinen Wangenknochen und einem vollen Mund. Ihre Augen waren schwarz wie die Nacht, ihr Blick schien Charles zu durchdringen. Sie strahlte Wärme aus, Zuneigung, aber es war nicht zu übersehen, dass sie zäh war und über viel Energie verfügte. Das Mädchen zeigte auf ihre Brust und sagte: »Lan Na Thai.«

»Das ist unsere kleine Dan-Mali«, sagte Gerbillon nicht ohne Stolz, »sie ist die Gescheiteste von allen. Sie hat ein Gedächtnis wie eine Bibliothek und vergisst nichts. Sie wird unsere Sprache rasch erlernen.«

»Was heisst Lan Na Thai?«, fragte Charles.

»Königreich der Millionen Reisfelder. So nennen sie Siam in ihrer Sprache.«

Charles lächelte und nickte Dan-Mali aufgeregt zu. Er hatte verstanden. Er konnte sich kaum an ihr sattsehen. Ihr leicht vorstehendes Kinn faszinierte ihn. Es hatte etwas Animalisches, Gefährliches, Erotisches.

»Haben Sie uns Zimt mitgebracht?«, fragte Collin und fixierte Charles eindringlich, damit dieser endlich aufhöre, die Siamesin anzustarren.

»Nicht nur.« Gerbillon lächelte vieldeutig. »Ich habe zum ersten Mal Kurkuma mitgebracht. Es ist die Pflanze der Mönche. Sie zermalmen die gelbe Wurzel zu Pulver. Es besiegt die schwarzen Geschwüre, die wie Blumenkohl in den Brüsten der Frauen wuchern. Und es soll auch gegen andere Formen von faulenden Geschwüren helfen. Es wächst wild im Gebirge. Aber nur jene Arten sind wirksam, die in der Nähe von Teakbäumen wachsen. Probiert es aus, und gebt mir im nächsten Frühjahr Bescheid.«

Die Jugendlichen holten Kisten und Körbe und blieben hinter Pater Gerbillon stehen. Er nahm ein Stück Rinde aus einem Korb. »Das ist die Rinde des Lorbeerbaums.« Er wandte sich an Charles. »Sie ist trocken. Du kannst sie zerstampfen, bis sie zu Pulver wird.«

»Es fördert tatsächlich die Verdauung«, sagte Pater Collin, »ich hab’s an mir selber ausprobiert. Man kann sie auch in einer Sauce einkochen. Das gibt dem Essen einen ganz besonderen Geschmack.«

»In Siam umwickeln wir das Fleisch damit, bevor wir es übers Feuer legen. Der Hof ist ganz verrückt danach. Deshalb hat sich der Preis bereits verdreifacht.« Gerbillon lachte.

Charles nickte und drehte verstohlen den Kopf. Er musste noch mal Dan-Mali ansehen. Sie faszinierte ihn wie noch keine junge Frau zuvor, und er erwiderte ihr schüchternes Lächeln. Obwohl sie einer ihm völlig fremden Kultur entstammte, fühlte er sich von ihr magisch angezogen. Er glaubte zu spüren, dass auch sie eine Entwurzelte war, die einsam inmitten von Menschen war und Frieden und Geborgenheit suchte.

Pater Gerbillon wandte sich erneut an Charles, den er ins Herz geschlossen zu haben schien. »Wenn du mit deinem Studium fertig bist, musst du uns unbedingt in Paris besuchen«, sagte er, »ich werde dir alle Kräuter aus dem Königreich Siam zeigen.«

»Aber nicht übertreiben«, scherzte Collin, »sonst will er am Ende nicht mehr Arzt werden, sondern Koch.«

Nein, Charles wollte immer noch Arzt werden. Seiner Mutter zuliebe. Das Gefühl der Ohnmacht an ihrem Sterbebett war immer noch lebendig in ihm, und irgendwie bildete er sich ein, nachträglich etwas Gutes zu tun, wenn er Arzt würde. Dass seine Mutter längst tot war, war ihm bewusst, und auch dass er nichts rückgängig machen konnte. Es war eine völlig unlogische Verknüpfung, die sich in seinem Denken festgesetzt hatte. Aber Charles handelte nicht immer rational. Er war getrieben. Er wurde von Gerüchen heimgesucht, die ihn an seine Mutter erinnerten. Es war zum Beispiel der Geruch, den er geliebt hatte, wenn sie ihn zärtlich an ihre weiche Brust drückte. Es war kein besonderer Duft, aber es war der Duft seiner Mutter.

Das Studium ging Charles nicht schnell genug voran. Sein Arbeitseifer liess nie nach. Er hatte stets Angst, dass irgendetwas dazwischenkäme, dass das Schicksal zuschlagen und alles beenden könnte. Kaum freute er sich über etwas, ergriff ihn diese Angst. Die Angst, etwas Geliebtes zu verlieren. Mit der Zeit ergriff ihn auch die Angst vor der Angst, und er begann guten Nachrichten so sehr zu misstrauen, dass er sich kaum noch darüber freute.

Einmal im Monat musste er mit Antoine Quentin Fouquier de Tinville die Krankenhäuser aufsuchen und nach Leichen fragen. Sie waren billig zu haben und wurden auf einem Schubkarren in die Klosterschule gefahren. Diese Aufgabe oblag stets Charles und Antoine.

»Du hast recht, Charles«, sagte Antoine, als sie den Karren über das holprige Pflaster schoben, »das Medizinstudium ist wahrscheinlich nicht das Richtige für mich. Aber erklär das mal meiner Mutter! Sie hat allen erzählt, dass ich Arzt werde, also bleibt mir nichts anderes übrig, ich will sie ja nicht blamieren. Dabei weiss sie ganz genau, dass ich in praktischen Dingen so ungeschickt bin, dass ich für meine Patienten eine Gefahr wäre. Als Gott mich schuf, hat er sich auf mein Gehirn konzentriert und mir aus Versehen zwei linke Hände gegeben. Ich mache ihm deswegen keinen Vorwurf. Das Gehirn ist den Händen überlegen. Selbst in einem Rollstuhl kannst du noch eine Armee kommandieren. Da wären wir beim anderen Problem. Ich ertrage es nicht, wenn man mir sagt, was ich zu tun habe. Ich könnte nie Soldat sein. General wäre das mindeste.«

»Aber du hörst auf deine Mutter«, sagte Charles in seiner gewohnt emotionslosen Art.

»Wir hören doch alle auf unsere Mütter, und ich ganz besonders. Denn wenn mein alter Herr zu seinem Schöpfer zurückkehrt, erbe ich seine irdischen Güter. Und dann zahlt sich meine Herkunft eben doch noch aus. Weisst du, Charles, du bist zwar ein hervorragender Schüler, aber wahrscheinlich kommst du aus sehr einfachen Verhältnissen.« Er grinste hämisch. »Dein Vater war vielleicht der Erste seiner Sippe … ach, was red ich da, ihr habt bestimmt nicht mal einen Stammbaum … also, er war der Erste, der einen mittelmässigen Beruf erlernte: Arzt. Aber in Paris, da zählen einzig Herkunft und Vermögen. Womit willst du dir später ein Amt kaufen? Schon tragisch, nicht, der beste Schüler von Rouen endet in der Gosse, und ich, ein verwöhnter, fauler Adelsspross …«

Charles hielt den Schubkarren an. Der Arm einer Leiche war unter der Decke hervorgerutscht und baumelte jetzt über die Ladefläche. Antoine packte den Arm und schob ihn wieder unter die Decke. Sie gingen weiter.

»Selbst die Leichen wollen sich vor mir aus dem Staub machen«, sinnierte er nun mit ernstem Gesicht. »Ich hoffe, meine Äusserungen haben dich nicht allzu deprimiert, Charles. Die Wahrheit ist manchmal bitter. Du bist der bessere Schüler, aber ich werde später das bessere Leben haben.«

»Wenn ich Arzt werde«, sagte Charles, »werde ich mit meinem Leben zufrieden sein. Ich brauche kein besseres Leben.«

»Oh, jetzt erstaunst du mich aber, Charles. Man sehnt sich immer nach etwas Besserem. Das unterscheidet uns vom Tier. Wir sind nie satt. Wir sind immer hungrig. Und wenn du einmal genug Geld hast, sehnst du dich nach Ruhm und Anerkennung. Nach Macht. Die Welt soll dir Denkmäler errichten und Plätze nach dir benennen.«

»Ich möchte nicht, dass man mir ein Denkmal errichtet«, murmelte Charles, »wozu auch?«

»Keine Angst, das wird nicht geschehen. Aber eins kann ich dir versprechen: Wenn du eines Tages an meine Tür klopfst, krank und verarmt, dann kriegst du von meinen Dienern eine warme Suppe. Geld werde ich dir keins geben, denn ich werde dir nie verzeihen, dass du der bessere Schüler von uns beiden warst.« Er lachte. »Eigentlich wollte ich dich zu meinem Hausarzt machen, aber ich könnte es nicht ertragen, jeden Tag den Mann zu sehen, der mir hier in Rouen meine Mittelmässigkeit vorgeführt hat.« Dann legte er freundschaftlich den Arm auf Charles’ Schulter. »Du bist mein bester Freund, Charles. Ohne dich würde ich es hier nicht aushalten. Ich bin manchmal etwas böse, aber ich mag dich.« Erneut lachte er los und schaute zwei jungen Frauen nach, die gerade an ihnen vorbeigegangen waren.

»Oh, die Schwarzhaarige macht mich richtig scharf. Was denkst du, Charles, wen würden die beiden Damen bevorzugen? Den reichen Antoine oder den selbstlosen Samariter Charles?«

»Du kriegst Besuch«, sagte Charles leise.

Antoine erkannte gleich den Ernst in Charles’ Stimme und schaute nach vorn. Sie waren in eine schmale Gasse eingebogen. Am Ende des Weges standen drei junge Männer in ihrem Alter.

»Kennst du die?«, fragte Charles und verlangsamte nun seinen Schritt.

»Nur flüchtig.« Antoine konnte seine Nervosität nicht verbergen. »Ich kenne nur den Kerl in der Mitte. Ich habe seine Schwester als Nutte bezeichnet und ihn als Abschaum der Evolution. Glaubst du, das war ein Fehler?«

»Warum musst du ständig andere Leute beleidigen?«

»Du hilfst mir, Charles, nicht wahr? Du weisst, Gott gab mir zwei linke Hände.«

Nun standen die drei jungen Männer vor dem Karren und versperrten ihnen den Weg. »Wir wollen eine Entschuldigung«, sagte der eine.

»Geht uns aus dem Weg«, sagte Antoine, »oder mein Freund verliert die Geduld.« Er hatte Angst, grosse Angst und schaute hilfesuchend zu Charles.

»Wir werden dich jetzt so verprügeln, dass dich dein Freund auf seinen Schubkarren laden wird.« Die drei stürmten auf Antoine zu. Zwei packten ihn, der Dritte schlug ihn sofort zu Boden. Nun setzte Charles den Schubkarren ab und eilte Antoine zu Hilfe. Er warf den Ersten zu Boden, schlug dem Zweiten die Faust ins Gesicht und packte den Dritten mit solcher Wucht am Nacken, dass dieser wimmernd in die Knie sank. Als die anderen beiden davonrannten, liess Charles sein Opfer los. Antoine kniete noch am Boden und starrte auf das Blut an seiner Hand.

»Es ist nur die Nase«, sagte Charles.

»Nur die Nase!«, schrie Antoine. »Wieso hast du so lange gewartet? Die haben mir die Nase gebrochen.«

»Nein«, sagte Charles ruhig, »deine Nase ist nicht gebrochen. Sie blutet nur ein bisschen.«

»Ein bisschen! Du machst dich wohl lustig über mich? Vielleicht verblute ich hier!« Antoine erhob sich und trottete, ohne auf Charles zu warten, die Gasse hinunter. Von da an war Antoine ein anderer. Er schämte sich, dass Charles Zeuge seiner Angst und Hilflosigkeit geworden war. Dafür begann er ihn zu hassen.

Die Leichen wurden im Saal über der Turnhalle seziert. Während sich einige Schüler während der Vorführung entsetzt abwandten, sah Charles nichts Unnatürliches in diesen leblosen Körpern. Er hatte nur Augen für die Struktur der bläulich aufgedunsenen Körper. Er inspizierte sie wie fremdartige Maschinen, bewegte die Glieder, als seien es bloss Türscharniere. Für Antoine gab es jedoch nur den Penis oder die Brüste der Leichen. Er mokierte sich über diese Körperteile und versuchte seine Mitschüler zu unterhalten. Wenn Charles ihn ignorierte, sagte er mit grossem Bedauern in der Stimme, dass Charles eben studieren müsse, da sein Vater Schauspieler sei und noch zehn Jahre Bastille vor sich habe.

Charles konzentrierte sich auf sein Studium. Mit jedem Monat wuchs in ihm die Gewissheit, dass es möglich sein musste, einen Körper zu begreifen. Und wenn man ihn begriff, wenn man ihn »lesen« konnte, konnte man ihn auch heilen. Dieser Gedanke beherrschte ihn Tag und Nacht. Aber es gab da noch einen anderen Gedanken. Er wollte die junge Siamesin Dan-Mali wiedersehen. Er wusste, dass sie erst sechzehn war. Aber sie würde älter werden. Und in einigen Jahren würde er sein Medizinstudium abgeschlossen haben und nach Paris zurückkehren. Sie war ständig in seinen Gedanken. Sie hatte sich förmlich in seiner imaginären Welt eingenistet. Er kannte die geheimnisvolle Siamesin nicht, er hatte noch nie mit ihr ein richtiges Gespräch geführt, aber ein einziger Blick hatte genügt, ihm mitzuteilen, dass sie auf ihn warten würde.

Eines Morgens erhielten sie den Körper eines Landstreichers, der vor der Schule tot zusammengebrochen war. Die Patres entschieden, den Leichnam in der Halle aufzubahren, damit die Studenten den körperlichen Prozess unmittelbar nach Eintritt des Todes beobachten konnten. Anfangs schien der Landstreicher zu schlafen, doch schon bald fielen seine Wangen ein, und es bildete sich ein tiefliegendes Dreieck um die Nase herum. Das Blut hatte aufgehört zu zirkulieren und setzte sich. Dort, wo die Leiche auflag, bildeten sich dunkle blaue Flecken.

»Ist das Charles’ Vater«, fragte Antoine mit gespieltem Entsetzen, »der Chevalier Sanson de Longval?« Er schaute zu Charles. »Ich dachte, dein Vater sei Arzt.«

»Welcher Teufel hat dich denn jetzt wieder geritten?«, fragte ein Mitschüler.

»Was ist daran falsch? Ihr wisst alles über meine Herkunft …«

»Wir hören es ja oft genug«, brummte Charles.

»Ja, weil ich nichts zu verbergen habe. Aber Charles, dein Schweigen ist der Boden für die wildesten Spekulationen. Niemand kennt einen Arzt, der … wie heisst dein alter Herr schon wieder?«

»Soll ich denn den ganzen Tag mit meinem Stammbaum herumlaufen?«

»Dürfte schwierig werden. Sehr schwierig. Denn du hast keinen.«

Es war nicht Charles’ Tag. Entnervt behauptete er, man könne den Stammbaum seiner Familie bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. »Einer meiner Ahnen war der Kartograph Nicolas Sanson d’Abbeville. Er hat mehrere Atlanten publiziert und König Louis XIV in Geographie unterrichtet.«

»Sagt mir nichts«, unterbrach ihn Antoine mürrisch.

»Natürlich nicht«, spottete nun Charles seinerseits, »dazu fehlt dir jegliche Bildung.«

Die anderen Schüler lachten.

»Verstehe«, heuchelte Antoine, »wenn man weder Geld hat noch adliger Herkunft ist, braucht man natürlich Bildung. Wenn ich mit meinen Freunden auf die Jagd gehe, will keiner etwas von Geographie hören. Wir reden über unsere Ländereien, unsere Mätressen, unsere Intrigen und all das Zeug, das wir täglich genussvoll in uns reinstopfen. Aber wenn man nichts hat, malt man Landkarten und langweilt seine Umgebung mit nutzlosem Wissen.«

»Neulich hast du den Mund nicht so voll genommen«, sagte Charles, »irgendwann wird einer kommen und dir dein blödes Maul stopfen.«

»Habt ihr es bemerkt? Wir haben einen wunden Punkt getroffen: seine Herkunft. Wer weiss, vielleicht stammt er von den Affen ab, die in Höhlen hausen und rohes Bärenfleisch verzehren. Am Wochenende ist Besuchstag. Ich bin gespannt, ob sein Vater kommt. Kommt die Schwester mit den grossen Titten auch?«

Jean-Baptiste Sanson kam. Es war der Tag, an dem die Eltern der Schüler anreisten, um dem Unterricht ein paar Stunden zu folgen und anschliessend mit den Patres über die Leistungen ihrer Söhne zu sprechen. Zuerst versammelten sich die Eltern im Innenhof und begrüssten ihre Kinder. Zwei Nonnen aus dem benachbarten Kloster servierten Brot und Apfelmost. Charles’ Vater war mit Grossmutter Dubut angereist. Er fühlte sich sichtlich unwohl inmitten der anderen Eltern. Er konnte seine niedrige Herkunft kaum verbergen. Charles sah, wie Antoine seinen alten Vater begrüsste. Dieser schien sehr mürrisch, übelgelaunt. Er raunte Antoine etwas zu. Irgendetwas schien ihm zu missfallen. Antoines Mutter hingegen schien eher entspannt, amüsiert. Sie drückte ihren Sohn mehrfach an die Brust und küsste ihn auf die Stirn. Antoine mochte das nicht besonders. Er löste sich von ihr und ging dann auf Charles zu, der sich mit seinem Vater unterhielt.

»Das ist mein Vater«, sagte Charles. Antoine verbeugte sich knapp und reichte Jean-Baptiste Sanson die Hand.

»Ich bin ein Bewunderer einer Ihrer Vorfahren«, heuchelte Antoine, und Charles wusste gleich, dass nun eine giftige Pointe folgen würde. »Es ist schon tragisch, wie er geendet hat. Zuerst war er königlicher Kartenmacher und unterrichtete Louis XIV in Geographie, später wurde er in den Gassen von Paris erstochen.«

Jean-Baptiste verzog keine Miene. Er war diese Art von Humor nicht gewohnt. Ironie war ihm fremd, Doppeldeutigkeiten suspekt.

»Und Sie sind Arzt«, sagte Antoine und nickte dabei bedeutungsvoll.

Jean-Baptiste blickte irritiert zu seinem Sohn. Grossmutter Dubut verzog enerviert den Mund: »Lasst uns reingehen, ich werde mich hier draussen noch erkälten.«

Im Klassenzimmer sprach Pater Collin über die Dreckapotheke des Mittelalters. Wie man gedörrte Kröten, verbrannte Maulwürfe und die Exkremente von Ziegen pulverisierte. Er sprach über die ersten medizinischen Bücher, die bereits im sechzehnten Jahrhundert als Kräuterfibeln erschienen waren. Er geisselte die Humoralpathologie, die auf Autorität und nicht auf Erfolgen oder gar empirischem Wissen basierte. Er geisselte die Unart des Aderlasses, der Klistiere und des provozierten Erbrechens. Er sprach von einer neuen Zeit, die gekommen sei, und von der Notwendigkeit, sich an die richtige Dosis von Heilpflanzen heranzupirschen. »Wer heute forscht, kann morgen die Welt verändern«, schloss der Pater seine Lektion ab.

Die anwesenden Eltern nickten anerkennend. Sie waren stolz, dass ihre Kinder so gescheiten Unterricht erhielten, auch wenn sie selbst wenig davon verstanden.

Antoine stiess Charles mit dem Ellbogen an. »Das war ein sehr bewegender Moment, als ich deinen Vater begrüssen durfte. Sag mal, hat er viele Patienten, ich meine Stammkunden, Menschen, die immer wiederkommen?«

Charles schaute ihn irritiert an. Er suchte nach der Pointe.

»Es ist so«, flüsterte Antoine scheinbar bedrückt, »wenn dein Vater einem Patienten den Kopf abschlägt, dann wird es ganz, ganz schwierig, ihn als Patienten zu behalten. Oder kommen die manchmal zurück mit dem abgeschlagenen Kopf unter dem Arm?«

Charles verschlug es den Atem. Er wollte sich empören, aber liess alles über sich ergehen.

»Ich dachte, es kann nicht schaden, wenn ich meine Bildung vervollständige. Deshalb habe ich in der Bibliothek ein bisschen geforscht. Und ein Onkel von mir, er ist Anwalt in Paris, hat auch ein bisschen geforscht. Warum hast du mir das verschwiegen, Charles? Wir sind doch Freunde.«

Charles suchte instinktiv den Blickkontakt zu seinem Vater. Dann sah er, dass Antoines Vater auf ihn zuging. Er schien sehr aufgebracht. Er sagte irgendetwas und klopfte mit seinem Stock mehrfach auf den Boden. Nun galt die ganze Aufmerksamkeit Antoines Vater. Die anderen Eltern begannen zu tuscheln. Einige umringten Pater Collin.

»Pater Collin«, schrie Antoines Vater plötzlich, »ich bin der Marquis Fouquier de Tinville und möchte hiermit kundtun, dass dieser Mann dort drüben«, er zeigte auf Charles’ Vater, »der Henker von Paris ist.« Ein heftiges Raunen erschütterte das Klassenzimmer. Die Schüler sahen sich verstohlen an und versuchten, einen Blick auf den Henker von Paris zu werfen. »Besucht etwa der Sohn des Henkers die Klosterschule?«, fragte ein anderer Besucher laut. Antoine mimte Bedauern und Betroffenheit, doch dann grinste er schadenfroh übers ganze Gesicht.

»Liebe Eltern«, sprach Pater Collin mit lauter Stimme, »ich bitte um Ruhe. Wir werden die Sache klären.« Dann wandte er sich an Jean-Baptiste Sanson: »Können Sie das bestätigen, Monsieur?«

Charles’ Vater hatte es die Sprache verschlagen.

»Er ist Beamter der Pariser Justiz«, sagte Grossmutter Dubut, so laut sie konnte. Dabei überschlug sich ihre Stimme.

»Messieurs«, rief einer der Väter und stellte sich vor die schwarze Schiefertafel, »ich bezahle kein Schulgeld, damit mein Sohn mit dem Sohn des Henkers von Paris unterrichtet wird.«

»Monsieur«, bat Pater Collin versöhnlich, »wir unterrichten den Sohn und nicht den Vater. Der Sohn studiert Medizin und beabsichtigt in keiner Weise, für die Justiz zu arbeiten.«

Nun gab es immer mehr Zwischenrufe, die schliesslich in einen Tumult ausarteten. Die anwesenden Väter protestierten vehement. Pater Collin bahnte sich einen Weg durch die aufgebrachte Besucherschar und ging auf Jean-Baptiste Sanson zu. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr und verliess darauf rasch das Klassenzimmer. Charles beobachtete mit einigem Bangen die Szene. Sein Vater nickte ihm zu und wies mit dem Kopf zur Tür. Charles packte seine Sachen und ging. Die Menge teilte sich, als habe er Pest, Cholera und Pocken gleichzeitig.

»Pater Collin«, fragte Charles beim Abschied im Gang, »kann es einen Fluch geben, der auf einer ganzen Dynastie lastet?«

»Noah verfluchte seinen Enkel Kanaan, den Sohn Hams. Doch im Buch Mose steht geschrieben, dass Gott zuallererst die Schlange und dann den Erdboden verflucht hat. Wenn du an Gott glaubst, glaubst du an Flüche.«

»Und wenn ich nicht mehr an Gott glaube?«

»Dann gibt es keine Flüche mehr. Dann wirst du ein Suchender in der endlosen Wüste.«

Im Innenhof wartete Antoine, er hatte das Klassenzimmer, von Charles unbemerkt, ebenfalls verlassen. Dieser ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. »Siehst du«, rief ihm Antoine nach und folgte ihm einige Schritte, »Geld ist alles. Ohne Stammbaum bist du nichts. Denk daran, eine warme Suppe hast du auf sicher!«

Charles blieb stehen und stellte sich drohend vor Antoine auf. »Du hast jetzt niemanden mehr, der dich beschützt.«

Antoine lachte. »Wer soll mir schon etwas antun?«

»Ich«, sagte Charles, »ich zum Beispiel!« Er verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

Antoine hielt sich verdutzt die stark gerötete Wange und wich einen Schritt zurück. »Das wird dir noch leidtun.« Er beeilte sich, ins Schulgebäude zurückzukehren.

Schweigend traten die Sansons die lange Heimfahrt nach Paris an. Charles war wütend, dass ihm das Erbe seiner Familie zum Verhängnis geworden war, umso mehr, als er damit nichts zu tun haben wollte. Jean-Baptiste sass geknickt in der Kutsche und starrte aus dem Fenster. Der erste Schnee hatte sich über die Felder gelegt. Eisige Luft blies durch die Ritzen der Kutsche ins Innere. Der Fussboden war eiskalt. Jean-Baptiste bedauerte zutiefst, was geschehen war, und es kränkte ihn, dass man ihn derart ächtete. Ihn und seine ganze Familie.

Später sagte dann Grossmutter Dubut, sie sei sehr stolz darauf, die Mutter des Henkers von Paris zu sein. »Du bist nicht irgendein Henker«, ereiferte sie sich, »du bist Monsieur de Paris.« Jean-Baptiste schwieg. Dann wandte sie sich an Charles: »Du solltest stolz auf deinen Vater sein, auf deinen Grossvater, auf alle Sansons, die dieses Amt je ausgeübt haben. Dieses Erbe ist keine Bürde. Oder sind zehntausend Livre etwa eine Bürde?«

Jean-Baptiste und Charles schwiegen. Sie dachten beide dasselbe: Wieso kann sie nicht endlich die Klappe halten?

»Zehntausend Livre im Jahr, das ist der Monatsverdienst von dreihundert Arbeitern«, fuhr sie fort. »Die anderen Henker Frankreichs verdienen zweitausendvierhundert bis sechstausend Livre im Jahr, je nach Grösse der Stadt.«

Charles wünschte sich sehnlichst, sie würde endlich tot umfallen und schweigen. Selbst ihre Stimme ertrug er kaum noch.

»Überleg dir gut, ob du noch Arzt werden willst, Charles. Die Gesellschaft wird dich nie mögen. Du wirst immer der Sohn des Henkers sein, bis du eines Tages selbst ein grosser Henker wirst. Monsieur de Paris.«

»Ich will Arzt werden«, sagte Charles trotzig, »ich will heilen, nicht töten.«

Grossmutter Dubut machte eine unwirsche Handbewegung. »Wo kriegt man denn heute fünfundzwanzig Livre für das Abhacken einer Hand? Ganz Paris würde sich um eine solche Anstellung bemühen.«

»Vater«, sagte Charles und wandte sich bittend an Jean-Baptiste, der noch immer auf den Boden starrte, »schickst du mich auf eine andere Schule?«

Jean-Baptiste wandte sich seinem Sohn zu und nickte. »Wir werden eine Lösung finden, Charles. Und nächstes Mal gibst du dich besser als Waise aus.«

»Er soll seine Herkunft verleugnen?«, fauchte Grossmutter Dubut.

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