Im Hof der Conciergerie thronte die Maschine. Ihre himmelwärts gerichteten senkrechten Balken warfen ihre schmalen Schatten auf die kleine Versammlung, die dem Spektakel beiwohnte. Man schrieb den 15. April 1792. Anwesend waren Doktor Louis und Doktor Guillotin, die Staatsanwälte Roederer und Fouquier sowie Charles mit seinen Gehilfen und seinem Sohn Henri. Das Gefängnispersonal hielt sich im Hintergrund. Etwas verspätet traf noch Gorsas ein, der von Fouquier mit einem wohlwollenden Nicken begrüsst wurde. Doch das Spektakel bestand vorerst aus einem schmutzigen Schaf, das wie von Sinnen um die Maschine herumrannte. Vergebens hatten Charles’ Gehilfen versucht, es einzufangen. Nun kamen ihnen einige Aufseher zu Hilfe. Gemeinsam gelang es ihnen, und sie banden es auf das Klappbrett. Dann brachten sie das Brett in die Waagerechte und schoben es unter das Fallbeil, das im gleichen Augenblick heruntersauste. Der Kopf des Schafes wurde mit einem sauberen Schnitt vom Rumpf getrennt. Das Blut spritzte über den Hof. Charles hatte nichts anderes getan, als den Metallschieber zu ziehen, der das Fallbeil arretierte. Alle waren sichtlich verblüfft angesichts der Schnelligkeit der Ausführung.
»Haben Sie Leichen?«, fragte Louis.
»Ja«, antwortete Charles und gab seinen Gehilfen ein Zeichen. Auf einem Schubkarren führten sie drei Leichen in den Hof, es waren Männer mit kräftigen Nacken. Der eine ein Selbstmörder, der andere ein Trinker und der Letzte ein im Duell getöteter Musketier des Königs. »Sie wurden uns von Krankenhäusern zur Verfügung gestellt.«
Die ersten beiden Leichen wurden schnell und sauber enthauptet, bei der dritten wollte Doktor Louis, dass die Gehilfen das Fallbeil austauschten und die halbmondförmige Schneide anbrachten, die man vor der Korrektur durch Louis XVI in Betracht gezogen hatte. Der Versuch misslang, sehr zur Genugtuung von Doktor Louis, der sich darüber freute, seinem König mitteilen zu können, dass er recht behalten hatte.
»Wie nennen wir diese Maschine nun?«, fragte Gorsas aus heiterem Himmel. »Es wird in Zukunft viele neue Maschinen geben. Deshalb braucht sie einen eigenen Namen. Louisette?«
»Das kommt nicht in Frage«, sagte Louis empört, »ich bin Arzt. Wie wäre es mit Guillotine?«
»Ich bin ebenfalls Arzt«, wehrte Guillotin ab. Die beiden wandten sich Charles zu.
»Sansonette?« Gorsas lachte.
»Ich bin nur der Arm der Maschine«, entgegnete Charles.
Gorsas schüttelte den Kopf. »Louisette würde mir gefallen, das klingt so melodiös.«
»Wieso nicht?«, sagte Fouquier. »Es gibt schliesslich viele Menschen, die den Namen Louis tragen.« Er lachte. Dann wandte er sich an Charles: »Bürger Sanson, ich habe mit Ihnen zu reden. Aber zuerst bringen Sie Pelletier unters Messer. Der Glückspilz. Er wird in die Geschichtsbücher eingehen als erster Mensch, der mit der Louisette hingerichtet wurde.«
Charles schnitt Nicolas Jacques Pelletier in der Conciergerie die schulterlangen Haare und entfernte den Hemdkragen, so dass der Nacken sichtbar und sauber war. Firmin und Barre halfen dem Verurteilten, sich ein blutrotes Hemd überzuziehen, und banden ihm anschliessend die Hände hinter den Rücken. Dann begleiteten sie ihn zum Karren, der für seine letzte Reise bereitstand. Pelletier hatte bei einem schweren Raubüberfall in der Rue Bourbon-Villeneuve achthundert Livre erbeutet. Dafür sollte er unter das Fallbeil.
Vor der Conciergerie warteten bereits Tausende von Schaulustigen. Der Karren kam kaum voran. Endlich verliess Lafayette, der Kommandant der Nationalgarde, den Innenhof des Gefängnisses, zwängte sich am Karren vorbei und übernahm unter dem fröhlichen Applaus der Menge die Führung. Die zähflüssige Fahrt zum Schafott dauerte über zwei Stunden. Die Menschen standen dichtgedrängt in den Strassen und Gassen, sie lehnten sich aus den Fenstern. Die Adligen sassen auf ihren Balkonen. Ein Flugblatt beschrieb den Ablauf der Hinrichtung wie eine Theateraufführung. Zwischen den Arkaden waren Würstchenbuden eingerichtet worden. Die umliegenden Restaurants hatten den Namen des Verurteilten auf der ersten Seite der Speisekarte gedruckt. Auf jedem Tisch stand eins von Tobias Schmidts Miniaturmodellen der Maschine, mit denen man Karotten und Spargel köpfen konnte. Als der Karren vorbeizog, wurde Pelletier verhöhnt und verspottet. Man hörte die unmöglichsten Wortschöpfungen. Bald würde er »in den Sack spucken«, das »Rasiermesser der Nation« würde ihn bestrafen. Ein stadtbekannter Clown namens Jacot schwang sich plötzlich auf eins von Charles’ Pferden, schnitt Grimassen und machte sich über den Verurteilten lustig. Während das Publikum ihm applaudierte, nahm Charles seine Peitsche und trieb den Clown wieder in die Menge zurück. War denn der Tod nicht Strafe genug? Pelletier wurde von verfaultem Gemüse getroffen und wollte unter der Sitzbank Schutz suchen, aber Charles hinderte ihn daran. So wollte es das Protokoll, das ihm Fouquier überreicht hatte.
Als sie auf die Place de Grève einbogen, sahen sie die beiden Balken des Blutgerüsts senkrecht in den Himmel ragen. Das Fallbeil blitzte für einen kurzen Augenblick in der Sonne. Henri hatte mit den Gehilfen ein ansehnliches Schafott errichtet und die Louisette darauf installiert. Lafayettes Reiter umringten das Schafott. Pelletier wurde die Holztreppe hinaufgeführt. Er schien erstaunt, als er von oben über die Place de Grève blickte. So viele Menschen waren gekommen, um ihn sterben zu sehen. Charles rief Pelletiers Namen laut über den Platz und zählte dessen persönliche Gegenstände auf, während Henri den Verurteilten zusammen mit Gros, Barre und Firmin auf das senkrechte Holzbrett band. Sie kippten es wie eine Schaukel in die Waagerechte und stiessen es nach vorn zwischen die beiden senkrechten Balken. Und schon sauste das Fallbeil herunter, und der abgetrennte Kopf plumpste wie ein abgesägter Ast in den Weidenkorb. Während das Blut noch wie eine Fontäne aus dem Rumpf spritzte, klatschten einige Beifall. Aber die meisten waren enttäuscht, besonders die Weiberfurien, die um das Schafott herumstanden, um die Todgeweihten mit vulgärem Spott zu verhöhnen. Es war alles so schnell gegangen, dass man den Ablauf gar nicht begriffen hatte. Keine minutenlange Agonie in siedendem Wasser, kein Würgen, wenn der Hals am Strick hing, kein Zischen, wenn Extremitäten verbrannt wurden, nichts. Henri nahm den bluttriefenden Kopf aus dem Korb und zeigte ihn der Menge. Vereinzelte Buhrufe waren zu hören. »Gebt uns unseren Galgen zurück«, schrien einige. Dann skandierten sie immer lauter: »Gebt uns unseren Galgen zurück.«
Noch immer floss das Blut aus dem Rumpf des Hingerichteten. Charles stand auf der obersten Stufe des Schafotts und beobachtete aufmerksam, ob sich in der Menge irgendeine Bewegung bildete, die der Maschine feindlich gesinnt war.
»Es mag brutal sein, aber es ist gerecht, und die Schnelligkeit der Abwicklung steht im Einklang mit dem humanitären Gedanken, der dahintersteckt.« Es war Gorsas, der mit ernster Miene das Gespräch suchte. »Was haben Sie empfunden, Bürger Sanson? Lassen Sie es unsere Leser wissen.« Mit diesen Worten drängte sich Gorsas an Charles heran.
»Ich habe ein Strafurteil vollstreckt«, antwortete Charles, »an meinen Händen klebt kein Blut mehr. Ich beginne diese Maschine zu mögen.«
»Die Maschine hat jetzt einen Namen«, sagte Gorsas, »Guillotine. Das hat der König entschieden, um seinen Hausarzt zu schützen. Doktor Guillotin hat protestiert, aber er ist zu schwach. Seine Nachkommen werden ihn wohl verfluchen, denn ihr Name bleibt jetzt auf ewig mit der Tötungsmaschine verbunden. Die Ironie des Schicksals erheitert mich immer wieder. Das ist der Stoff, aus denen ich meine Geschichten mache.« Gorsas hob kurz die Hand zum Gruss. »Auf ein anderes Mal, Monsieur de Paris. Ich muss noch vor Redaktionsschluss meinen Bericht abliefern.«
Charles schaute Gorsas nach. Dieser nuckelte mit gewichtiger Miene an seiner Pfeife und bahnte sich enerviert einen Weg durch die Menge, die er insgeheim verachtete. Dann sah Charles die kleine Frau, die an Gorsas vorbeischlich. Es war Dan-Mali. Sie hatte ihn wahrscheinlich die ganze Zeit über beobachtet. Dan-Mali blieb vor der Treppe zum Schafott stehen. Charles stieg zu ihr hinunter. Sie legte die Hände unter dem Kinn aneinander und senkte ehrfürchtig den Kopf.
»Charles«, sagte sie und blickte ihn bewundernd an, »ich wusste nicht, dass du Menschen hinrichtest. Ich bedaure, dass ich dir nicht den nötigen Respekt entgegengebracht habe.« Charles musterte sie skeptisch. »Nur heilige Menschen dürfen in Siam Menschen hinrichten«, fuhr sie fort. »Sie werden eins mit dem Verurteilten und vereinen sich mit den Göttern.«
»Warst du nicht schon mal bei einer Hinrichtung? Als Damiens gefoltert wurde?«
»Nein«, sagte Dan-Mali, »du musst mich verwechselt haben.«
Nun wurde es eng um das Schafott herum. Immer mehr Menschen drängten zum Weidenkorb, um den abgetrennten Kopf mit einem Schaudern, aber nicht ohne Faszination anzuschauen. Einige tunkten ihr Taschentuch in das Blut. Die Gehilfen luden die Leiche in den sargähnlichen Weidenkorb und legten den Kopf zwischen die Beine.
»Ich muss zum Friedhof«, sagte Charles zu Dan-Mali.
»Darf ich morgen zu dir kommen?«, fragte sie bittend.
»Bleib bei mir. Du kannst bei mir wohnen. Wir haben Platz genug.« Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. In diesem Moment setzte Regen ein, und die Menge begann sich aufzulösen.
Charles liess seine Gehilfen zurück, damit sie die Guillotine abbauen konnten, und bat Henri, neben dem Leichnam im Karren Platz zu nehmen. Dan-Mali setzte sich neben Charles, der die Zügel ergriff. Einige von Lafayettes Gardesoldaten bahnten den Weg zum nächsten Vorstadtfriedhof. In der Abenddämmerung erreichten sie das von Fouquier angeordnete Massengrab auf dem Friedhof Madeleine. »Einzelgräber sind aus Platzgründen nicht mehr möglich«, hatte er gesagt, »es werden zu viele folgen.«
An der Friedhofsmauer sprang Henri vom Wagen und öffnete das Eisentor. Sie fuhren zu der frisch ausgehobenen Grube im Süden. Dort nahmen sie den kopflosen Leichnam und warfen ihn hinein. Sie schütteten eine Mischung aus Ammoniak, Kohlensäure und Wasser über die Leiche. Anschliessend bedeckten sie sie mit einer gehörigen Portion Löschkalk. Da trat plötzlich eine junge Frau zwischen den Grabsteinen hervor und rief: »Monsieur de Paris!« Charles hielt sie für eine Schaulustige, die ihr Taschentuch mit Blut besudeln oder abgetrennte Gliedmassen ergattern wollte. »Kann ich den Kopf haben?«
»Nein«, antwortete Charles, »es ist mir verboten, Handel zu treiben.«
»Ich bezahle nichts, dann ist es kein Handel. Ich brauche ihn nur für eine halbe Stunde.«
»Wozu?«, fragte Charles ungeduldig.
»Ich betreibe zusammen mit meinem Onkel Philippe Curtius das Wachsfigurenkabinett im Palais Royal. Ich will den Kopf nachmodellieren, der als Erster unter das Fallbeil kam.«
»Fragen Sie die Staatsanwälte Fouquier oder Roederer, von mir kriegen Sie keine Köpfe«, sagte Charles, packte den losen Kopf am Haar und warf ihn in die Grube.
»Ich werde meine Köpfe bekommen«, sagte sie trotzig.
»Sicher, und mehr, als Ihnen lieb ist.«
»Wie lange soll das noch dauern?«, fragte Marie-Anne wütend, als sie, ohne anzuklopfen, die Pharmacie betrat.
»Sie bleibt jetzt hier. Wir haben ja darüber gesprochen«, sagte Charles. »Sie wird mir in der Pharmacie helfen und kochen.«
»Was wird sie denn kochen?«, höhnte Marie-Anne. »Heuschrecken, die Speiseröhren von Hühnern und komisches Zeug, das dir die Zunge verbrennt?«
»In Siam essen sie auch Hunde.«
Marie-Anne lief rot an. »Das reicht! Ich gehe zu meiner Schwester. Hier werde ich eh nicht mehr gebraucht.« Sie stampfte den Flur hinunter, durchquerte die Küche und sah Dan-Mali ein Feuer machen. Sie wollte etwas sagen, etwas Hässliches, doch dann ging sie wortlos in den Hof hinaus, um ihr Pferd zu satteln.
Antoine Fouquier hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und schaute zum Fenster hinaus. Charles stand immer noch vor seinem Schreibtisch und wartete. Fouquier hatte gute Laune und vergass darüber sogar das herablassende Duzen. »Gratulation zur geglückten Hinrichtung. Ihre Maschine funktioniert tatsächlich, aber Ihr Freund, dieser deutsche Klavierbauer, wird den Auftrag dennoch nicht erhalten. Roederer möchte einen Verwandten begünstigen. Dieser ist zwar viel teurer, aber eben verwandt. Sehen Sie, hier kommt wieder zum Zuge, wovor ich Sie bereits im Internat gewarnt habe. Adelsblut schlägt Wissen, und Verwandtschaft schlägt Qualität. Sie werden nie eine Chance haben, Charles. Ihr lebt in Grotten, und ihr werdet die Felsdecke über euren Köpfen nie durchbrechen können. Aber Leute wie ich, die werden frei geboren, und nur der Himmel kann uns Grenzen setzen.«
»War das alles?«, fragte Charles unbeeindruckt.
Fouquier ignorierte die Frage. Sie schien ihm ein bisschen frech zu sein. »Ist dir mittlerweile ein Name eingefallen?«, stichelte er.
Charles atmete tief ein und blies die Luft wieder aus.
»Also, ich warte auf Namen. Nenn mir wenigstens einen einzigen Namen.« Fouquier wandte sich wieder dem Fenster zu und schaute in den Hof hinunter. »Übrigens: Die Kleine vom Friedhof hat sich hier beschwert. Ihr solltet der Dame die Köpfe jeweils für eine halbe Stunde ausleihen. Die Menschen sollen die Opfer der Revolution sehen. Das wirkt abschreckend. Es werden viele Köpfe werden. Denn die Gruben in den Friedhöfen sollen voll sein und nicht unsere Gefängnisse. Bürger Sanson, ich warte immer noch auf Namen. Einen einzigen Namen!«
»Pater Gerbillon«, hörte sich Charles sagen.
»Ich habe es nicht ganz verstanden«, sagte Fouquier. »Pater …?«
»Pater Gerbillon«, wiederholte Charles, »ein Jesuit. Er wurde als Mathematiker des Königs nach Siam geschickt.«
»Ich erinnere mich, Gorsas hatte es kürzlich erwähnt. Unser Mathematiker sollte dort den Sternenhimmel beobachten und neue Seekarten zeichnen, stattdessen hat er die Ärsche von kleinen Jungs und kleinen Mädchen beobachtet. König Rama I. wird uns noch den Krieg erklären …« Er lachte. »Gerbillon genoss stets die Protektion des Hofes, weil er«, und nun schrie Fouquier, »ein gottverdammter Royalist ist. Ich hasse ihn. Ich habe ihn immer gehasst!«
Charles hob kurz die Augenbrauen, als wollte er sagen: Nun ja, so wird es wohl sein.
»War das so schwierig, Bürger Sanson?« Als Charles gehen wollte, sagte Fouquier: »Dein Freund, der Orgelbauer, kann die Guillotine bauen: dreiundachtzig Stück zu neunhundertsechzig Livre. Wenn eine versagt, ist der restliche Auftrag storniert.«
»Aber Sie sagten doch …«
»Du hast mir einen Namen geschenkt, also zeige auch ich mich erkenntlich. So hast du die einmalige Gelegenheit, die Spielregeln zu begreifen. Und wer weiss, Bürger Sanson, vielleicht könnten wir doch noch zu alter Freundschaft zurückfinden.«
Tobias Schmidt war betrunken. Er lag auf einem ausrangierten Sofa in seiner Werkstatt und murmelte unverständliches Zeug. An den Wänden hingen neue Skizzen. Eine zeigte eine Riesenguillotine, mit der man gleichzeitig vierundzwanzig Menschen köpfen konnte. Als Charles die Halle betrat, sprang Schmidt hoch, wurde aber sogleich von einer Übelkeit befallen. Er strauchelte und atmete tief durch. »Ich bin gleich so weit«, keuchte er und kniete sich auf den Boden. »Roederer will mir den Auftrag nicht geben«, jammerte er, »angeblich sei ich zu teuer und die Qualität sei schlecht. Das wäre der Auftrag meines Lebens, über achtzig Guillotinen, für jedes Departement eine.« Schmidt schnappte nach Luft. Er hatte Mühe mit dem Kreislauf.
»Kann ich Ihnen helfen, Monsieur Schmidt?« Charles reichte ihm die Hand.
Schmidt lehnte ab und zeigte auf ein Brett, das entlang der Wand am Boden lag. Darauf standen Dutzende von kleinen Guillotinemodellen, nicht grösser als ein Unterarm. »Spielzeugguillotinen«, seufzte Schmidt, »gibt es etwas Beschämenderes für einen Erfinder, als sein Genie an Kinderspielzeug zu vergeuden? Ich habe hydraulische Maschinen erfunden, neuartige Kamine und das berühmte Piano, das die Effekte von Bratsche, Cello und Geige vereint. Ich bin daran, eine Methode zu erfinden, um Gemüse und Obst zu konservieren, und verderbe mir im Selbstversuch jeden Tag den Magen. Und jetzt stelle ich Spielzeug her. Sagen Sie mir, gibt es irgendetwas Beschämenderes? Das ist so, als würden Sie einem erfolgreichen General ein Schaukelpferd geben.«
Charles half ihm auf die Beine. »Roederers Cousin verlangte 5660 Livre, Sie aber nur dreihundertvierzig …«
»Und vierundzwanzig für den Leinensack. Ein Weidenkorb wäre noch billiger.« Schmidt schien das Gleichgewicht zu verlieren, fing sich wieder auf und torkelte durch die Halle. »Ich werde alles niederbrennen«, schrie er, »alles!«
»Das hat Zeit bis morgen«, sagte Charles. »Zuerst bauen Sie die Guillotinen, zum Stückpreis von neunhundertsechzig Livre. Das ist ein Befehl von Fouquier. Roederer hat eingewilligt.«
Schmidt stürzte sich auf Charles und umarmte ihn überschwänglich. »Dreiundachtzig Guillotinen, das macht insgesamt, warten Sie, knapp achtzigtausend Livre! Monsieur Sanson, ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.«
»Mir wäre wichtig, immer noch die Zeit zu finden, mein Klavier zu stimmen und Gabriels Beinschienen anzupassen. Er stürzt in letzter Zeit wieder öfter«, sagte Charles.
»Versprochen«, sagte Schmidt und nickte mit ernster Miene. Dann begannen seine Augen zu funkeln, und er schubste Charles zu einer Werkbank, wo zahlreiche offene Konserven herumstanden. »Ich versuche zurzeit, die Dosen mit Blei zu verschliessen. Blei soll giftig sein. Die alten Römer sind bereits daran gestorben, weil ihre Wasserleitungen aus Blei waren. Aber ich verwende nur wenig Blei. Es kommt kaum mit der Nahrung in Kontakt. Wenn mir das gelingt, werden die Menschen ganze Strassenzüge nach mir benennen.« Schmidt liess sich erneut auf seine Couch fallen und griff blind nach der angebrochenen Weinflasche, die auf dem Boden stand. Er leerte sie und liess sie dann auf die unebenen Holzbohlen kollern.
»Schön und gut, aber fangen Sie jetzt gleich mit den Guillotinen an«, drängte Charles.
Als er nach Hause kam, war Dan-Mali nicht mehr da.
In der Nacht auf den 10. August 1792 läuteten in ganz Paris die Sturmglocken. Es musste nach Mitternacht sein, Charles dachte an einen Grossbrand und stand auf. Er trat mit Henri auf die Strasse hinaus. Von überall her strömten die Menschen aus ihren Häusern. Die meisten waren bewaffnet. Die Menschenmassen bewegten sich in Richtung Tuilerien. Einige Wochen zuvor hatten sie es bereits einmal getan, waren in den Palast eingedrungen, wo der König und seine Familie festgesetzt waren, hatten Louis XVI angefasst und zum Anstossen auf ihr Wohl mit einem Glas Wein gezwungen. Doch diesmal ging es um mehr. Es gab das Gerücht, dass preussische und österreichische Truppen die Grenze nach Frankreich überschritten hatten und nun den König retten wollten. Die benachbarten Monarchien fürchteten einen revolutionären Flächenbrand. Was sich in Paris abspielte, war eine zweite Revolution. Die radikalen Sansculotten hatten eine eigene Stadtverwaltung nominiert und waren damit zur Gegenregierung der gesetzgebenden demokratischen Nationalversammlung geworden. Die zehntausend Sansculotten, die da marschierten, waren zu allen Taten bereit, um ihren König ein für allemal loszuwerden. Als die Tuilerien in Sichtweite waren, skandierte die Menge: »Tod dem König!« Sie marschierte wie ein Mann auf die rund tausend Schweizergardisten zu, die den König beschützten. Die zweitausend Nationalgardisten, die im Namen der Nationalversammlung den König bewachten, flohen beim Anblick der riesigen Menschenmenge sofort und schlossen sich den wütenden Sansculotten an. Ein grosser Teil der Schweizergarde fiel dem zornigen Volk zum Opfer. Sie wurden erschossen oder so lange durch die Strassen gejagt, bis sie erschöpft zusammenbrachen, und dann mit Macheten wie Hühner geköpft. Es gab keine Ordnungsmacht mehr. Niemand konnte die Menge im Zaum halten. Die Pariser Unterwelt erwachte zu neuem Leben. Sie strömte ins Freie, beglich offene Rechnungen, tobte sich aus, kastrierte sterbende Gardisten und warf die Geschlechtsteile durch die Strassen. Die Menschen hatten keine wirklichen politischen Ziele mehr. Sie nutzten das Chaos, den rechtsfreien Raum der Strasse, um zu plündern und die verhassten Reichen abzuschlachten. Es war ein blutiges Volksfest, in dem jeder jeden öffentlich töten konnte, ohne dafür bestraft zu werden. Louis XVI, Marie Antoinette und ihre Kinder wurden infolge dieser Ereignisse in den Temple gebracht, während die Nationalversammlung noch radikalere Positionen einnahm, um den Zorn der Sansculotten zu besänftigen. Die Abgeordneten waren schockiert, aber machtlos.
Im August wurde auch ein neues Straftribunal ohne Berufungsmöglichkeiten eingerichtet, das beim kleinsten Verdacht auf »Verschwörung« sofort die Todesstrafe aussprechen konnte. Die Leute bekamen es mit der Angst zu tun und verkrochen sich in ihren Häusern.
»Es ist nicht mehr in Ordnung, was jetzt geschieht«, sagte Charles zu Henri, als sie nach getaner Arbeit Stricke schmierten. Es war ein liebgewordenes Ritual, das ihnen half, die Hinrichtungen des Tages zu vergessen, obwohl sie dank der Guillotine gar keine Stricke mehr benötigten. Viel Blut floss zwischen den Holzbohlen des Schafotts auf das Pflaster hinunter und verströmte einen üblen Geruch, der nur noch Hunde anlocken konnte. Die Menschen protestierten nicht gegen die Schlächterei, sondern gegen den Gestank. Charles und seine Gehilfen installierten die Guillotine deshalb auf der Place du Carrousel vor dem grossen Tor der Tuilerien.
Robespierre rief zur Volksjustiz an den Feinden der Revolution auf. Er versuchte damit, die entfesselte Masse wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch stattdessen stürmten Bewaffnete und Nationalgardisten die Gefängnisse und massakrierten über tausend Kleinkriminelle. Die edlen Ziele der Revolution waren ins Groteske gekippt.
Trotz der Massenmorde nahm Charles’ Arbeit von Woche zu Woche zu. Jeden Morgen sprach er in der Conciergerie bei Fouquier vor, um die am Abend zu vollstreckenden Urteile abzuholen. Zwischen Prozess, Verurteilung und Hinrichtung lagen manchmal nur noch wenige Stunden. Die Revolutionäre vertraten den Standpunkt, dass es besser war, zehn Unschuldige zu töten, als einen Schuldigen zu übersehen.
»Preussische Truppen haben die Grenze überschritten«, schrie Chefankläger Fouquier, als Charles sein Büro betrat. »Wer jetzt keinen Patriotismus beweist, den überlassen wir der Volksjustiz. In dieser Stunde stürmen Tausende erboster Bürger die Gefängnisse und nehmen dir die Arbeit ab. Sie metzeln alle nieder.«
»Wo bleiben da die edlen Ziele der Menschenrechte?«, fragte Charles sarkastisch.
»Vorsicht! Vorsicht, Bürger Sanson! Ich sagte dir schon mal, jede Revolution wird im Blut geboren. Der Nationalkonvent hat den König abgesetzt und in den Temple gebracht. Hättest du für möglich gehalten, dass du eines Tages den König guillotinierst?«
»Noch lebt er«, sagte Charles, »es gibt kein Urteil.«
»Der Nationalkonvent hat keine Macht mehr. Jetzt regiert die Strasse, die aufständische Kommune.« Fouquier reichte ihm die aktuelle Liste der zum Tode Verurteilten. Charles überflog sie: Assignatenfälscher, ein Journalist, ein Schuhmacher. Plötzlich sprang ihm ein Name ins Auge: Pater Gerbillon. Ausserdem fiel ihm ein stadtbekannter Handwerker von bestem Leumund auf, der lediglich seine Meinung geäussert hatte. »Noch Fragen, Monsieur de Paris?«
Charles schüttelte den Kopf.
Fouquier rückte seinen Stuhl zurecht und nahm eine distanzierte Haltung ein. »Ich hörte, dass der Clown Jacot ab und zu deinen Umzug begleitet und die Menge mit seinen Kapriolen erheitert. Du sollst ihn mit der Peitsche vertrieben haben.«
»Das ist richtig«, antwortete Charles, »eine Exekution soll nicht in ein Volksfest ausarten. Ich pflege die Urteile mit Würde zu vollstrecken.«
»Wer schreibt das vor?«, fragte Fouquier und schaute Charles verächtlich an. »Wer bist du? Vertrittst du etwa die Revolutionsregierung? Eine Exekution ist ein Volksfest der Revolution. Nimm den Kerl auf deine Lohnliste. Das ist ein Befehl. Wir müssen das Volk bei Laune halten, wer weiss, was wir ihm in den nächsten Monaten noch alles zumuten müssen. Und vollstrecke erst nach Einbruch der Dämmerung. Statte das Schafott mit Fackeln aus. Wir wollen sehen, ob das Volk das mehr schätzt.«
Charles nickte zögerlich.
»Du hast noch etwas auf dem Herzen, ich sehe es dir an.«
»Ich möchte endlich mein Amt an meinen Sohn Henri übergeben.«
»Schweig! Ich will kein Wort davon hören! Das ist wohl der dümmste Augenblick, um diese Bitte vorzutragen. Du wirst den König guillotinieren, denn du bist der Henker der Revolution. Henri ist bloss ein Geselle. Du aber bist der Arm der Guillotine. Manch einer kommt zu den Hinrichtungen, nur um dich zu sehen.«
Marie-Anne hatte sich wieder einmal mit ihrer Schwester zerstritten. Plötzlich stand sie in der Küche und kochte eine Erbsensuppe. »Zum Glück bin ich wieder da«, sagte sie, »ohne mich läuft hier ja gar nichts. Ihr lasst die Zügel schleifen. Und ausserdem gehört Gabriel aufs Schafott. Er kann nicht den ganzen Tag Klavier spielen.« Sie servierte die Suppe.
»Gabriel ist den schönen Künsten zugetan«, sagte Charles und rührte entnervt in seiner Suppe.
»Damit verdient man kein Geld«, ereiferte sich Marie-Anne, »der Henkersberuf ist einer der sichersten Berufe in unserem Land, weil es immer einen Henker brauchen wird.«
»Eines Tages«, sagte Gabriel, »wird die Todesstrafe abgeschafft, und wir werden keinen Henker mehr brauchen.«
»Diesen Tag wirst du nicht mehr erleben«, schrie Marie-Anne. »Robespierre wollte die Todesstrafe abschaffen. Es ist ihm nicht gelungen. Wem soll es also gelingen?«
»Lass ihn doch endlich in Ruhe«, sagte Henri dezidiert. »Er will nun mal nicht Henker werden.«
»Misch dich nicht ein«, herrschte ihn seine Mutter an, »du hast bloss Angst, die Nachfolge deines Vaters …«
»Hört jetzt auf zu streiten«, sagte Charles und klopfte mit der flachen Hand energisch auf den Tisch. »Henri wird mein Nachfolger in Paris, das ist beschlossen, und wenn Gabriel will, werde ich ihm in einer anderen Stadt ein Amt besorgen, aber wenn er nicht will …«
»Er soll wenigstens ein einziges Mal auf das Schafott steigen, dann weiss er, ob er es wirklich nicht will.«
»Wieso bist du überhaupt zurückgekommen? Niemand hat dich vermisst«, sagte Charles.
»Ich bin immer noch die Mutter«, sagte Marie-Anne trotzig, »ob es euch passt oder nicht.«
»Nun gut«, sagte Gabriel und schob seinen Teller beiseite, »hört auf zu streiten, ich werde morgen Abend aufs Schafott steigen«.
Draussen fiel der erste Schnee. Ein beissender Wind blies zwischen den Fensterritzen ins Haus. Desmorets entfachte ein grosses Feuer im Kamin. Und Charles setzte sich mit Gabriel ans Klavier.
Die Dunkelheit war bereits angebrochen, es begann leicht zu schneien. Fackeln beleuchteten das Schafott und tauchten die Hinrichtungsstätte in ein gespenstisch flackerndes Licht. Charles vermied es, Pater Gerbillon anzuschauen. Erst als sie das Schafott erreicht hatten, trafen sich ihre Blicke. Charles half ihm beim Aussteigen. Gabriel stieg als Erster unter dem Applaus der Zuschauer die Treppe zum Schafott hoch. Zuerst wurden gemäss Protokoll die Assignatenfälscher nacheinander guillotiniert. Charles blieb unten an der Treppe stehen und schaute zu seinen Söhnen und Gehilfen hoch. Als Gabriel den Kopf eines Hingerichteten der Menge zeigte, führte Charles einen Journalisten auf das Schafott und stieg wieder hinunter. Jetzt traf ihn der Blick von Pater Gerbillon erneut. Es war ein trauriger Blick, melancholisch, aber nicht ängstlich. Charles fühlte sich mies, schäbig. Er schämte sich, dass dieser Mann seinetwegen sterben musste. Doch dann versuchte er, sich einzureden, er habe keine andere Wahl gehabt und der Pater habe es ob der Behandlung von Dan-Mali ausserdem verdient. Der Kopf des Journalisten fiel in den Korb. Charles führte nun Pater Gerbillon die Treppe zum Schafott hoch. Kaum hatte er das Schafott wieder verlassen, hörte er die gewaltige Eisenklinge heruntersausen und den Kopf des Jesuitenpaters in den Weidenkorb fallen. Gabriel nahm ihn an den Haaren und hob ihn hoch. Die Menge applaudierte, johlte, lachte, ein Menschenleben hatte keine Bedeutung mehr. Im flackernden Licht der Fackeln bewegte sich Gabriel langsam über das Schafott und schritt es bedächtig ab, als wollte er es vermessen. Doch plötzlich geschah etwas Sonderbares: Gabriel war verschwunden. Als hätte ihn ein Windstoss davongetragen. Er stand einfach nicht mehr auf dem Schafott. Charles schaute hinauf und suchte seinen Sohn. Die Menschen, die um das Schafott standen, begannen entsetzt zu schreien. Sie bildeten einen Halbkreis um den am Boden liegenden Gabriel. Er war in der Dunkelheit vom Schafott gestürzt. Die Haare des Paters waren plötzlich gerissen, und Gabriel hatte mit einer reflexartigen Bewegung den Kopf auffangen wollen. Dabei war er auf den verschneiten Holzbohlen ausgeglitten.
Charles bahnte sich einen Weg durch die Gaffer und kniete neben Gabriel nieder. Er schob seine Hand unter den Kopf und fühlte sofort, dass das Genick gebrochen war. »Gabriel«, flüsterte Charles, dann nahm er seinen Sohn in beide Arme und brüllte laut in die Nacht hinaus: »Gabriel!« Tränen strömten über seine Wangen. »Der Henker weint«, sagte jemand, und plötzlich hörte man von allen Seiten: »Der Henker weint.« Nach einer Weile legte Henri Charles die Hand auf die Schulter. »Lass uns gehen, Vater. Gabriel gehört nach Hause.« Henri trug seinen Bruder in den Wagen und fuhr allein über den schneebedeckten Platz, der vom warmen Blut der Getöteten eingefärbt war. Charles blieb noch lange auf der untersten Stufe des Schafotts sitzen.
Der Platz war bereits menschenleer, als er sich auf den Weg nach Hause machte. Niemand erwartete ihn. Das Haus war leer. Offenbar hatten Henri und die Gehilfen Gabriels Leichnam zur Aufbahrung in die Kapelle gebracht. Als Charles in den Hof trat, um in seine Räume zu gelangen, sah er am Rande der schneebedeckten Gemüsebeete eine Gestalt auf der Bank. Er ging auf sie zu, es war Marie-Anne. Er blieb einige Schritte vor ihr stehen. Er wollte sie berühren, liess es dann aber sein. Zu oft hatte sie ihn abgewiesen. »Ich brauche dich nicht«, murmelte sie und blickte kurz hoch. Ihr Gesicht war schwer gezeichnet, ihre Augen verweint.
»Du wirst dich erkälten«, sagte Charles, »komm ins Haus. Es wird kalt heute Nacht.«
»Dann werde ich mich eben erkälten«, antwortete sie, »du denkst eh, es sei alles meine Schuld.«
Charles wollte verneinen, schwieg dann aber, denn er war tatsächlich der Meinung, dass es ihre Schuld war.
»Ich hätte dich nie im Leben heiraten sollten«, sagte Marie-Anne. Der Abscheu stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Meine Mutter hatte mich gewarnt, aber ich wollte auf sie nicht hören. Sie sagte, auf dem Geschlecht der Sansons laste seit Generationen ein Fluch. Sie sollte recht behalten.«
»Es gibt keine Flüche, Marie-Anne, das ist nur der Versuch der Menschen, den Dingen einen Sinn zu geben. Wir sind frei. Und auch ich bin frei, Marie-Anne. Ich werde mein Amt niederlegen und dich verlassen.«
»Du kannst mich verlassen, Charles, aber der Fluch wird dich verfolgen. Denk daran. Ich reite morgen zu meiner Schwester.«
»Sie wird sich freuen«, sagte er. »Und wenn ich morgen Abend von der Arbeit nach Hause komme, wäre es schön, wenn du nicht mehr da wärst.«
Er ging in die Pharmacie, setzte sich aufs Bett und trank Wein. Er war plötzlich unendlich müde und fühlte sich wie ein manövrierunfähiges Schiff auf hoher See. Mit grosser Zärtlichkeit dachte er an Gabriel und empfand es als Trost, dass er nicht gelitten hatte. Wenig später entwickelte er einen fürchterlichen Zorn gegen seine Frau. Doch dann kam ihm der Gedanke, dass Gott ihn bestraft hatte. Er hatte ihm seinen Sohn genommen im Austausch gegen das Leben von Pater Gerbillon. Er glaubte plötzlich, dass Gott ihn beobachtete. Nicht Gorsas hatte ein Auge auf ihn, sondern Gott. Er war bestraft worden. Der Fluch war zurück. Marie-Anne hatte vielleicht doch recht. Dann glaubte er draussen am Fenster eine Gestalt zu erkennen. Wollte Gott ihn besuchen? Nein, er glaubte nicht an solche Geschichten. Es war Marie-Anne. Sie entfernte sich wieder und ging ins Haus. Charles trank und trank und schlief schliesslich ein.
Gegen Mittag des folgenden Tages schlief er immer noch. Niemand weckte ihn. Henri hatte die Geschäfte übernommen. Charles hörte, wie der Fuhrwagen den Hof verliess. Er drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Er wollte nur noch schlafen und nicht mehr aufwachen. Dann kam ihm Dan-Mali in den Sinn, und sein Atem wurde gleichmässiger und sein Schlaf ruhiger.
Als er wieder aufwachte, spürte er eine kleine, zarte Hand, die ihn an der Wange berührte. Das konnte nicht Marie-Anne sein. Ihre Hände waren von der Gartenarbeit rau und trocken und rochen stets nach nassem Hundefell. Diese Hand roch nach Mandelöl. Er presste sie fest an sich und schlief wieder ein. Als er erneut aufwachte, war er allein und wusste nicht, was er geträumt und was er tatsächlich erlebt hatte. Irgendwann brachte ihm Desmorets einen Teller Suppe. »Madame sagt, Sie sollten etwas zu sich nehmen. Sie ist jetzt weggeritten.« Charles stellte den Teller auf den Tisch.
Später weckte ihn Henri. »Da draussen ist ein Reiter. Er hat nach dir gefragt.«
»Was will er?«
»Ich weiss es nicht. Vielleicht ist er krank oder verletzt.«
»Lass ihn rein«, sagte Charles und stand auf. Die Abwechslung würde ihm guttun. Trotz aller widrigen Ereignisse freute es ihn, dass jemand ihn aufsuchte. Als Arzt. Der Reiter trug einen schwarzen Kapuzenmantel und kniehohe Lederstiefel. Bevor er die Pharmacie betrat, klopfte er die Stiefel gegeneinander, um den Schnee abzuschütteln.
»Legen Sie Ihren Mantel auf die Ofenbank. Dann kann er trocknen.«
»Danke, Monsieur«, sagte der Reiter und nahm seinen Kapuzenmantel ab. Darunter trug er einen vornehmen Zweiteiler aus blauem Stoff. Er setzte sich Charles gegenüber auf einen Stuhl und nahm eine lederne Geldbörse aus seiner Innentasche. Er lockerte den Lederriemen, so dass Charles die Goldstücke darin sehen konnte. »Ich habe sehr einflussreiche Freunde«, begann der Reiter behutsam, »sie sind unserem König treu ergeben. Sie erbitten nichts Unmögliches von Ihnen. Vor einer Stunde wurde unser König zum Tod verurteilt. Wir werden ihn auf dem Weg zum Schafott befreien.«
»Gehen Sie«, sagte Charles und hob abwehrend die Hände, »für kein Geld auf der Welt bin ich für ein Komplott zu gewinnen.«
»Ich weiss«, sagte der Reiter, »deshalb wage ich es auch, Sie aufzusuchen. Ich weiss, dass Sie ein rechtschaffener Mann sind. Wir bitten Sie nur, nichts zu unternehmen, das die Befreiung unseres Königs vereiteln könnte. Bleiben Sie einfach ruhig auf Ihrem Kutschbock, und rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ihnen wird nichts geschehen.«
»Ich will dieses Geld nicht«, sagte Charles, »ich mag die willkürlichen Gesetze verurteilen, die heute gelten, aber ich muss sie befolgen. Ich bin ein Beamter der Justiz.«
Der Reiter erhob sich. »Das Geld lasse ich hier. Wenn Sie es nicht wollen, geben Sie es den Armen. Gott schütze unseren König.«
»Gott schütze unseren König«, flüsterte Charles. Der Gedanke, dass sein König unter seiner Guillotine enthauptet würde, brach ihm das Herz. Andererseits, dachte Charles, hatte der König sein Schicksal sich selbst zuzuschreiben. Er hatte die Liebe seines Volkes nie erwidert. Er hatte nichts, aber auch gar nichts für sein hungerndes Volk getan. »Er hat es nicht anders gewollt«, murmelte Charles, »er allein trägt die Schuld.«