14

Ich war bitter enttäuscht über den Ausgang unserer Erlebnisse in Chinatown. Um gleich damit zu beginnen: Der Führer der Bande war entkommen. Als Japps Beamte auf Poirots Signal am Tatort erschienen, fanden sie vier bewusstlose Chinesen im Treppenhaus, jedoch der Mann, der mich mit dem Tod bedroht hatte, war nicht unter ihnen. Ich erinnerte mich später, dass dieser Mann sich im Hintergrund gehalten hatte, als man mich zwang, auf die Schwelle hinauszugehen, um Poirot ins Haus zu locken. Er hatte sich also wohl außerhalb der Gefahrenzone der Gasbombe befunden und mochte durch einen der vielen Ausgänge entwichen sein, die wir erst später entdeckten.

Von den vier Chinesen, die in unserer Hand waren, erfuhren wir gar nichts. Eine gründliche Untersuchung durch die Polizei erbrachte keinen Hinweis auf irgendeine Verbindung mit den Großen Vier. Die Gefangenen erwiesen sich als gänzlich harmlose Einwohner des Stadtteils und versicherten, niemand mit dem Namen Li Chang Yen zu kennen. Ein wohlhabender Chinese hatte sie in seinen Dienst genommen im Haus, das am Wasser gelegen war, und alle beteuerten, auch nicht das Geringste über seine Privatangelegenheiten berichten zu können. Im Verlauf des nächsten Tages hatte ich mich, abgesehen von leichten Kopfschmerzen, vollkommen von den Auswirkungen meiner Abenteuer erholt. Wir begaben uns zusammen nach Chinatown und untersuchten das Haus. Die Liegenschaft bestand aus zwei Häusern, die durch einen Tunnel miteinander verbunden waren. Die Erdgeschosse sowie die oberen Räume waren leer und unbewohnt, die zerbrochenen Scheiben verdeckt durch die Sonnenblenden. Japp hatte in den Kellerräumen herumgeschnüffelt und bereits das Geheimnis des Zutritts zu der unterirdischen Kammer, mit welcher mich so schreckliche Erinnerungen verbanden, ergründet. Eine nähere Untersuchung bestätigte den Eindruck, den der Raum zuvor auf mich gemacht hatte. Die Seidenbehänge der Wände sowie die Diwane und die Teppiche auf dem Boden waren von auserlesener Qualität. Obwohl ich nicht viel von chinesischer Kunst verstehe, konnte man unschwer erkennen, dass jeder Gegenstand von großem Wert war.

Mit Hilfe von Japp und seinen Leuten führten wir eine mehr als gründliche Untersuchung durch. Ich hatte zuerst große Hoffnungen darauf gesetzt, Dokumente von Wichtigkeit auffinden zu können, vielleicht sogar eine Liste der wichtigsten Agenten der Großen Vier, oder chiffrierte Nachrichten über deren Pläne, jedoch blieben unsere Bemühungen in dieser Richtung ohne Erfolg. Die einzigen schriftlichen Aufzeichnungen, die wir dort ermitteln konnten, waren jene, deren sich der Chinese bei der Abfassung des Schreibens an Poirot bedient hatte. Sie bestanden aus einigen sehr ausführlichen Notizen über jede Phase unseres Werdeganges, Betrachtungen über unsere Charaktereigenschaften und Hinweise auf schwache Punkte, die als beste Angriffspunkte erachtet wurden.

Poirot freute sich wie ein Kind über diese Entdeckung. Mir persönlich schien das gänzlich wertlos, besonders da derjenige, der die Bemerkungen zu Papier gebracht hatte, in einigen Punkten völlig danebengegriffen hatte. Ich wies auch meinen Freund auf diesen Mangel hin, als wir wieder in unserer Wohnung saßen.

«Mein lieber Poirot», bemerkte ich, «nun bist du im Bilde, wie unsere Gegner über uns denken. Es scheint so, als wenn man eine reichlich übertriebene Vorstellung von deinen geistigen Fähigkeiten hätte und die meinigen völlig unterschätzte, aber ich kann nicht einsehen, welchen Wert dies alles für uns hat.»

Poirot lachte in sich hinein, als ob er nicht ganz meine Meinung teilte.

«Für dich wohl etwas undurchsichtig, nicht wahr? Doch soviel steht fest, wir können unsere Vorkehrungen gegen ihre Angriffspläne besser treffen, wenn wir unsere eigenen Fehler besser kennen. Beispielsweise wissen wir jetzt, mein Freund, dass du jede deiner Handlungen sorgfältig überlegen musst, und ferner, sollte dir wieder einmal eine rothaarige Dame begegnen, die deiner Hilfe bedarf, so solltest du dabei äußerste Vorsicht nicht außer Acht lassen, nicht wahr?»

Die Aufzeichnungen hatten ebenfalls einige unzutreffende Betrachtungen über meine vermeintliche Unbeherrschtheit enthalten, und nebenbei war bemerkt, dass ich nicht ganz unempfindlich in Bezug auf die Reize junger Damen mit einer bestimmten Haarfarbe sei. Ich betrachtete Poirots diesbezügliche Anspielungen als recht geschmacklos, war aber glücklicherweise in der Lage, ihnen zu begegnen.

«Und was dich nun selbst betrifft», fragte ich ihn, «wirst du dich endlich befleißigen, deine anmaßende Eitelkeit abzulegen? Dazu deinen übertriebenen Ordnungssinn?»

Ich zitierte wörtlich die in den gefundenen Aufzeichnungen enthaltenen Bemerkungen und konnte feststellen, dass er von meinem Gegenhieb sehr wenig erbaut war.

«Zweifellos, Hastings, täuscht man sich in einzelnen Feststellungen – mehr oder weniger, doch man wird schon noch dahinter kommen. Inzwischen haben wir auch wieder dazugelernt und – bereit sein bedeutet alles.»

Dies war in letzter Zeit ständig sein Schlagwort, und er wandte es so häufig an, dass ich dessen überdrüssig wurde.

«Wir sammeln immer neue Erfahrungen, Hastings», fuhr Poirot fort, «und durchschauen ihre Pläne, was uns sehr zugute kommt, aber wir wissen noch lange nicht genug. Wir müssen noch viel mehr herausfinden.»

«Wie willst du das anstellen?»

Poirot lehnte sich in seinen Sessel zurück, legte eine Schachtel Zündhölzer, die ich achtlos auf den Tisch geworfen hatte, ordentlich hin und setzte sich in Positur. Ich erkannte, dass er im Begriff stand, sich in längere Betrachtungen einzulassen. «Sieh einmal, Hastings, wir haben gegen vier Widersacher zu kämpfen, das bedeutet, gegen vier verschiedene Charaktere. Mit Nummer eins sind wir noch nie in persönlichen Kontakt gekommen, wir kennen ihn nur hinsichtlich seiner Bestrebungen – und nach allem, was bisher geschehen ist, Hastings, will ich dir verraten, dass ich beginne, seine Pläne zu erkennen –, er verfügt über den großen Scharfsinn, der den Orientalen eigen ist – jeder Anschlag, dem wir uns gegenübersahen, entstammt dem Gehirn Li Chang Yens. Nummer zwei und Nummer drei sind hochgestellte Persönlichkeiten und so mächtig, dass sie im Augenblick gegen unsere Angriffe immun sind. Nichtsdestoweniger, was sie schützt, schützt uns ebenfalls in umgekehrtem Sinne. Sie stehen so sehr im Blickpunkt des öffentlichen Lebens, dass sie gezwungen sind, mit äußerster Vorsicht zu operieren. Und so kommen wir zum letzten Glied der Bande – nämlich zu dem Mann, der uns als Nummer vier bekannt ist.»

Poirots Stimme veränderte sich schlagartig, wie es stets der Fall war, wenn er von diesem Manne sprach.

«Nummer zwei und Nummer drei sind dank ihrer Berühmtheit und ihrer gesicherten Position in der Lage, Erfolge zu erzielen und ihren Weg unangefochten fortzusetzen. Nummer vier dagegen verzeichnet seine Fortschritte unter einem anderen Vorzeichen – er geht dunkle Wege. Wer sich hinter der Maske verbirgt, weiß niemand. Wie er in Wirklichkeit aussieht, ist auch nicht bekannt. Wie oft haben wir ihn gemeinsam gesehen, bereits fünfmal, wenn ich nicht irre. Und keiner von uns kann mit Bestimmtheit behaupten, dass er ihn wiedererkennen würde, oder bist du anderer Meinung?»

Ich musste verneinen, wenn ich meine Gedanken zu jenen fünf ganz verschiedenen Personen zurückschweifen ließ, die – so unglaublich es auch erscheinen mochte – von ein und demselben Mann verkörpert wurden. Der stämmige Aufseher der Heilanstalt, der Mann in dem hochgeschlossenen Mantel in Paris, der Diener James, der Mediziner im Fall Paynter und zuletzt der russische Professor. Bei keinem Anlass hatte einer dieser Leute mit dem anderen die geringste Ähnlichkeit.

«Nein», sagte ich ziemlich entmutigt, «auch nicht die kleinsten Anhaltspunkte sind uns gegeben.»

Poirot lächelte.

«Nun bitte ich dich, betrachte die Angelegenheit nicht gar zu aussichtslos, denn einige Feststellungen haben wir doch gemacht.»

«Und welcher Art sind diese?»

«Es ist uns bekannt, dass es sich um einen Mann mittlerer Statur handelt und dass er dunkelblondes oder blondes Haar hat. Wenn er von großer Statur und dunkler Hautfarbe wäre, hätte er sich nie für den blonden, ernsten Arzt ausgeben können. Es dürfte kaum schwierig sein, drei Zentimeter größer zu erscheinen, wie im Falle des Dieners James oder des Professors. Ferner muss er eine kurze gerade Nase haben. Veränderungen sind durch ein entsprechendes Make-up leicht zu bewerkstelligen, aber eine große Nase lässt sich nicht so leicht zu einer kleineren umgestalten. Dazu muss er ziemlich jung sein, kaum über fünfunddreißig. Du siehst also, wir kommen der Sache schon etwas näher. Es handelt sich also um einen Mann zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren, mittlerer Statur und Haarfarbe, einen Experten in der Kunst, sich zu schminken, und mit wenigen oder gar keinen eigenen Zähnen.»

«Wie kommst du zu dieser Annahme?»

«Ganz einfach, Hastings; bei dem Aufseher waren die Zähne abgebrochen und missfarbig, in Paris waren sie ebenmäßig und weiß, beim Doktor standen sie etwas nach vorn, und bei Savaronoff waren sie ungewöhnlich lang. Nichts verändert ein Gesicht derart wie verschiedene Prothesen, du siehst also, wohin das führt.»

«Nicht ganz», erwiderte ich vorsichtig.

«Nun, man sagt, dass der Beruf einem Manne im Gesicht geschrieben steht.»

«Hier handelt es sich aber um einen Verbrecher!», rief ich aus.

«Auf jeden Fall ist er ein Experte in der Kunst des Schminkens.»

«Das dürfte dasselbe sein.»

«Eine ziemlich gewagte Behauptung, lieber Hastings; in der Theaterwelt würde man wenig erbaut über eine derartige Unterstellung sein. Erkennst du denn nicht, dass der Mann ein Schauspieler ist oder wenigstens gewesen ist – vielleicht vor ein paar Jahren einmal?»

«Ein Schauspieler?»

«Na selbstverständlich. Denn die ganze Technik ist ihm geläufig. Es gibt nun zwei Klassen von Schauspielern: den einen, der sich in seine Rolle vertieft, und den anderen, der versucht, eine Rolle seiner Persönlichkeit entsprechend anzupassen. Aus der letzten Kategorie gehen gewöhnlich die Darsteller berühmter Persönlichkeiten hervor.

Diese übernehmen eine Rolle, die ihrer Art am besten entspricht. Die erstgenannte Kategorie Schauspieler hingegen hat sich darauf spezialisiert, sich in die darzustellende Persönlichkeit gleichsam zu verwandeln. Zu dieser Klasse gehört auch Nummer vier. Er ist ein hervorragender Künstler und wächst in seine Rolle, die er zu spielen hat, hinein.»

Die Ausführungen meines Freundes waren für mich von größtem Interesse.

«So versuchst du also, seiner Identität durch Vermittlung der Bühne auf die Spur zu kommen?»

«Deine Kombinationsgabe ist sehr beachtlich, Hastings!»

«Es wäre besser gewesen», bemerkte ich kühl, «wenn du bereits früher zu dieser Erkenntnis gekommen wärest. So haben wir sehr viel Zeit nutzlos vergeudet.»

«Da bist du sehr im Irrtum, mon ami, wir haben nicht mehr Zeit vertan als unvermeidlich war. Seit einigen Monaten sind meine Agenten sehr aktiv. Einer davon ist Joseph Aarons, erinnerst du dich an ihn? Er hat für mich eine Liste von Männern zusammengestellt, die die notwendigen Eigenschaften besitzen – junge Männer im Alter von ungefähr dreißig Jahren, von mehr oder weniger zutreffender Erscheinung und mit der Eignung, Charakterrollen zu spielen. Dazu solche, die mit Bestimmtheit während der letzten drei Jahre nicht mehr aufgetreten sind.»

«Ja, und weiter?», fragte ich, äußerst gespannt.

«Die Liste war natürlich ziemlich umfangreich, und es hat eine gewisse Zeit gebraucht, bis wir schließlich vier Darsteller in die engere Wahl ziehen konnten. Hier haben wir sie, mein Freund.» Er reichte mir einen Bogen Papier herüber, dessen Inhalt ich laut vorlas.


«Ernest Luttrell, Sohn eines Pfarrers aus Nordengland. Hatte stets besondere Einfälle in der Charakterdarstellung. Wurde von der Schule ausgeschlossen, ging im Alter von fünfundzwanzig Jahren zum Theater.» (Es folgte eine Aufstellung über gespielte Rollen.) «Später dem Rauschgift verfallen, vermutlich vor vier Jahren nach Australien ausgewandert. Unauffindbar, seit er England verlassen hat. Alter zweiunddreißig Jahre, Größe einsfünfundsiebzig glatt rasiert, Haare braun, gerade Nase, Gesichtsfarbe hell, Augen grau.

– John St. Maur. Künstlername, richtiger Name unbekannt, vermutlich gebürtiger Londoner, seit der Kindheit beim Theater. Stellte Personen der Gesellschaft dar, seit drei Jahren verschollen, Alter zirka dreiunddreißig Jahre, Größe einsfünfundsiebzig schlanke Erscheinung, blaue Augen, Haarfarbe blond.

– Austen Lee. Künstlername, Familienname Austen Foly, angesehene Familie, hatte stets Vorliebe für Darstellungskunst und zeichnete sich diesbezüglich in Oxford aus. Ausgezeichnete Kriegsdienst-Beurteilung. Spielte in…» (Es folgte die übliche Zusammenstellung der Rollen.) «Bewährte sich hauptsächlich als Darsteller von Kriminalrollen, hatte vor dreieinhalb Jahren infolge eines Autounfalles einen schweren Nervenschock und ist seitdem nicht mehr auf der Bühne aufgetreten. Anhaltspunkte über jetzigen Aufenthalt fehlen. Alter fünfunddreißig Größe einsdreiundsiebzig Gesichtsfarbe blass, Augen blau, Haare braun.

– Claude Darrell. Vermutlich richtiger Name, Abstammung unbekannt, spielte hauptsächlich Charakterrollen, scheint keine intimen Freunde gehabt zu haben, lebte im Jahre 1939 in China, kam nach Amerika und spielte dort einige Rollen in New York. Erschien eines Abends nicht mehr zur Vorstellung man spricht von geheimnisvollem Verschwinden. Alter zirka dreiunddreißig Jahre, Haare blond, blasse Gesichtsfarbe, graue Augen, Größe einsfünfundsiebzig.»


«Äußerst interessant», sagte ich, den Bogen niederlegend. «Und dieses ist nun das Ergebnis von monatelangen Nachforschungen; wen hast du im Verdacht?»

Poirot zuckte verlegen mit den Achseln.

«Im Moment ist die Frage noch gänzlich offen, mon ami, ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass Claude Darrell in China und Amerika war – eine nicht zu übersehende Tatsache. Jedoch darf ich es mir keinesfalls erlauben, daraus voreilige Schlüsse zu ziehen – es mag ein reiner Zufall sein.»

«Und was gedenkst du als Nächstes zu tun?», drängte ich.

«Die Sache ist bereits in vollem Gange; täglich werden sorgfältig abgefasste Inserate in den Tageszeitungen erscheinen.

Freunde oder Bekannte des einen oder anderen werden darin gebeten, mit meinem Rechtsanwalt in Verbindung zu treten. Schon heute können wir – ah, das Telefon läutet! Wahrscheinlich wie gewöhnlich eine falsche Verbindung, und man wird bedauern, uns gestört zu haben, aber – es könnte auch sein, dass sich etwas Neues ereignet hat.»

Ich lief zum Apparat und nahm den Hörer auf.

«Ja, hier ist Monsieur Poirots Wohnung. Jawohl, hier spricht Hauptmann Hastings. Oh, Sie sind es, Mr McNeil?» (McNeil und Hodgson waren Poirots Rechtsanwälte.) «Ja, ich werde es ihm sagen, und dann werden wir sofort zu Ihnen hinüberkommen.» Ich legte den Hörer auf die Gabel zurück und wandte mich Poirot zu; meine Augen leuchteten vor Erregung.

«Es ist eine Frau aufgetaucht, Poirot, die mit Claude Darrell befreundet war; ihr Name ist Flossie Monro. McNeil bittet uns, ihn unverzüglich aufzusuchen.»

«Da werden wir auch keine Sekunde verlieren», rief Poirot, verschwand in seinem Schlafzimmer und erschien gleich darauf mit dem Hut auf dem Kopf.

Ein Taxi brachte uns in kürzester Zeit an unseren Bestimmungsort, und wir wurden sogleich in Mr McNeils Privatbüro geführt. In einen Armsessel zurückgelehnt, dem Rechtsanwalt gegenüber, saß eine auffallend geschminkte, nicht mehr ganz junge Dame. Ihr Haar hatte einen unnatürlich gelben Farbton und kräuselte sich kunstvoll über die Ohren; über den Augenlidern lagen dunkle Schatten, auch hatte sie nicht versäumt, Rouge auf Wangen und Lippen dick aufzutragen.

«Ah, da kommt Poirot!» sagte McNeil. «Monsieur Poirot, dies ist Miss – hm – Monro, die so freundlich war, bei uns zu erscheinen, um uns einige Informationen zu geben.»

«Oh, das ist außerordentlich freundlich!» erwiderte Poirot. Mit großer Herzlichkeit ging er auf die Dame zu und drückte ihr warm die Hand.

«Mademoiselle ist eine Blüte in diesem Büro voller Aktenstaub», fügte er hinzu, ohne McNeils diesbezüglichen Empfindungen Beachtung zu schenken. Die übertriebene Schmeichelei verfehlte ihre Wirkung nicht. Miss Monro errötete verlegen lächelnd.

«Oh, übertreiben Sie nicht, Monsieur Poirot!», sprudelte sie hervor. «Ihr Franzosen seid euch alle gleich.»

«Mademoiselle, wir sind eben nicht unempfindlich gegen Schönheit wie die meisten Engländer. Übrigens bin ich kein Franzose – sondern Belgier, wenn es Ihnen nichts ausmacht.»

«Oh, ich bin auch schon in Ostende gewesen», sagte Miss Monro. Die Angelegenheit wickelte sich völlig reibungslos ab – wie Poirot stets zu sagen pflegt.

«Also Sie sind in der Lage, uns über Claude Darrell zu berichten», fuhr Poirot fort.

«Ja, ich war einst sehr gut mit ihm bekannt», erwiderte sie. «Ich sah Ihre Anzeige in der Zeitung, und da ich im Moment keine Bindungen habe und über meine freie Zeit beliebig verfügen kann, sagte ich mir: Da will jemand etwas über den guten armen Claudie wissen – und noch dazu Rechtsanwälte –, vielleicht wartet ein Vermögen auf seinen rechtmäßigen Erben; da gehe ich am besten gleich hin.»

Mr McNeil erhob sich.

«Nun, Monsieur Poirot, darf ich Sie zu dieser kleinen Unterredung mit Miss Monro allein lassen?»

«Oh, Sie sind zu liebenswürdig, doch bleiben Sie bitte, mir kommt da gerade ein Einfall. Es ist gleich Zeit, einen kleinen Imbiss zu nehmen; Mademoiselle, würden Sie mir die Ehre erweisen, mit uns zu speisen?»

Miss Monros Augen leuchteten auf. Ich hatte den Eindruck, dass sie in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte und ihr die Gelegenheit einer Einladung zum Essen höchst willkommen war.

Einige Minuten später saßen wir in einem Taxi, auf dem Wege zu einem der vornehmsten Restaurants. Dort angekommen, bestellte Poirot sogleich ein reichhaltiges Menü und wandte sich dann seinem Gast zu.

«Und welchen Wein würden Sie bevorzugen, Mademoiselle? Was meinen Sie zu einem Gläschen Champagner?»

Miss Monro schwieg entzückt. Das Essen verlief sehr zufrieden stellend. Poirot füllte das Glas der Dame immer wieder mit aufmerksamer Beharrlichkeit und gelangte schließlich vorsichtig zu dem Thema, welches ihm am Herzen lag.

«Der arme Darrell! Wie schade, dass er nicht bei uns sein kann.»

«Ja, in der Tat», seufzte Miss Monro. «Armer Junge, ich möchte gern wissen, was aus ihm geworden ist.»

«Es ist wohl lange Zeit her, dass Sie ihn gesehen haben, nicht wahr.»

«Oh, schon eine ganze Ewigkeit – seit dem Kriege nicht mehr. Er war ein komischer Junge, unser Claudie, in allen Dingen sehr zugeknöpft, niemals sprach er auch nur ein Wort über sich selbst. Aber natürlich, wenn er der Erbe eines Vermögens ist. Handelt es sich um einen Adelssitz, Monsieur Poirot?»

«Weit davon entfernt, nur eine unbedeutende Erbschaft», log Poirot, ohne zu erröten. «Aber Sie werden verstehen, es handelt sich zunächst darum, ihn zu identifizieren. Das ist auch der Grund, warum es nötig ist, jemand zu finden, der ihm wirklich nahe gestanden hat. Sie kannten ihn doch wahrscheinlich sehr gut, nicht wahr, Mademoiselle?»

«Ich brauche Ihnen diesbezüglich nichts zu verheimlichen, Monsieur Poirot. Da sind Sie – ein Gentleman und wissen sogar, wie man ein Menü für eine Dame zusammenstellt – was mehr ist, als diese jungen Bürschchen heutzutage vermögen. Sie als Franzose werden für meine Erklärungen das richtige Verständnis haben. Oh, ihr Franzosen, alle seid ihr Schwerenöter!» Sie drohte ihm mit dem Finger in einem Anflug von Schelmerei. «Nun, so war es zwischen mir und Claudie, wir waren jung – was konnte man anderes erwarten? Und immer noch habe ich sehr freundschaftliche Gefühle für ihn, obgleich ich gestehen muss, dass er mich gar nicht gut behandelt hat – nein, ganz und gar nicht. Nicht so, wie es eine Dame erwarten kann. So sind sie aber alle, wenn es ums liebe Geld geht.»

«Aber bitte nicht, Mademoiselle, sagen Sie so etwas nicht», protestierte Poirot, indem er nochmals das Glas nachfüllte.

«Könnten Sie mir Mr Darrell etwas näher beschreiben?»

«Er war gar nicht so sehr ansprechend», sagte Flossie Monro.

«Weder groß noch klein, aber recht gut gewachsen, sehr gepflegt und mit graublauen Augen. Ziemlich helles Haar, soweit ich mich erinnern kann. Aber, welch ein Künstler! Ich habe niemals jemand gesehen, der in seinem Beruf an ihn herangereicht hätte. Bestimmt hätte er sich einen Namen machen können, wenn er nicht so eifersüchtig gewesen wäre. Oh, Monsieur Poirot, die Eifersucht… Sie werden es kaum glauben, wie wir Künstler unter der Eifersucht zu leiden haben. Ich erinnere mich da speziell eines Falles in Manchester…»

Wir taten unser Bestes, einer langen und komplizierten Darstellung geduldig zuzuhören, die das niederträchtige Benehmen eines Hauptdarstellers zum Inhalt hatte. Dann lenkte Poirot langsam das Gespräch wieder auf Claude Darrell zurück.

«Alles, was Sie uns da über Mr Darrell erzählt haben, war sehr interessant für uns. Frauen sind so wunderbare Beobachter – sie sehen alles und merken sich Kleinigkeiten, die uns Männern leicht entgehen. Ich habe einmal erlebt, dass eine Frau einen Mann aus einem Dutzend anderer identifiziert hat – und wissen Sie, auf welche Art? Sie hatte beobachtet, dass er die Gewohnheit hatte, sich die Nase zu reiben, wenn er erregt war. Würde jemals ein Mann auch nur daran denken, etwas wie dies zu bemerken?»

«Sehr richtig», bestätigte Miss Monro. «Da fällt mir übrigens auch etwas ein. Ich erinnere mich, jetzt komme ich darauf: Claudie hat bei Tisch immer mit dem Brot gespielt. Er nahm ein kleines Stück zwischen die Finger und betupfte damit die herumliegenden Brotkrumen. Ich habe ihn dabei hundertmal beobachtet und würde ihn überall und in jeder Maske daran erkennen.»

«Ist es nicht gerade das, was ich bereits sagte? Die ausgezeichnete Beobachtungsgabe einer Frau! Und haben Sie ihn jemals auf diese Angewohnheit aufmerksam gemacht, Mademoiselle?»

«Nein, das habe ich nicht getan, Monsieur Poirot. Sie wissen ja, wie die Männer sind, sie haben es nicht gern, beobachtet zu werden, speziell wenn sie merken, dass man sie damit necken möchte. Nie sagte ich darüber auch nur ein Wort – aber oft habe ich darüber innerlich gelächelt. Gott behüte, er war sich dieser Eigenart nie bewusst.»

Poirot nickte nachdenklich, und ich bemerkte, dass seine Hand leicht zitterte, als er zum Glas griff.

«Ferner gibt es noch charakteristische Merkmale in der Handschrift, um eine Identität festzustellen», fuhr er fort. «Sie haben ohne Zweifel noch einen Brief von Mr Darrell in Ihrem Besitz?»

Flossie Monro schüttelte bedauernd den Kopf. «Er hatte eine Abneigung gegen das Schreiben, niemals hat er mir auch nur eine Zeile geschrieben.»

«Das ist sehr bedauerlich», sagte Poirot.

«Doch will ich Ihnen etwas sagen», erwiderte Miss Monro plötzlich. «Ich habe noch eine Fotografie, wenn Ihnen die etwas nützen kann?»

«Sie haben ein Foto?» Poirot sprang vor Aufregung beinahe von seinem Sitz hoch.

«Es ist ein ziemlich altes Bild…»

«Das macht gar nichts – es spielt gar keine Rolle, wie alt und verblichen es auch sein mag! Ah, ma foi, welch erstaunliches Glück, Sie werden mir wohl erlauben, es anzusehen, Mademoiselle?»

«Warum nicht, selbstverständlich.»

«Vielleicht werden Sie mir sogar gestatten, eine Kopie davon anfertigen zu lassen? Es würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.»

«Sicher, wenn Sie darauf Wert legen.»

Miss Monro erhob sich.

«Nun, ich muss jetzt eilen», erklärte sie scherzhaft. «Sehr erfreut, Sie und Ihren Freund kennen gelernt zu haben, Monsieur Poirot.»

«Und das Foto? Wann können wir es haben?»

«Ich suche es noch heute Abend heraus. Ich glaube mich noch zu erinnern, wo ich es hingetan habe, und werde es Ihnen umgehend zusenden.»

«Tausend Dank, Mademoiselle. Sie sind die personifizierte Liebenswürdigkeit. Ich hoffe, dass wir bald wieder einmal ein kleines gemeinsames Essen arrangieren können.»

«Wann immer es Ihnen recht ist», erwiderte Miss Monro. «Ich bin stets mit von der Partie.»

«Ich werde mich bald melden, bin aber leider noch nicht im Besitze Ihrer Anschrift.»

Mit großer Geste entnahm Miss Monro ihrer Handtasche eine Karte und gab sie ihm. Sie war zwar etwas angeschmutzt, und die ursprüngliche Adresse war ausgestrichen und durch eine handgeschriebene ersetzt. Dann, mit übertrieben viel Verbeugungen und entsprechenden Handbewegungen seitens Poirots, verabschiedeten wir uns von der Dame und gingen heim.

«Bist du wirklich der Meinung, dieses Foto sei so wichtig?», fragte ich Poirot.

«Jawohl, mon ami, die Kamera lügt nicht. Man kann ein Foto vergrößern und ins Auge fallende Punkte erkennen, die andernfalls unbeachtet bleiben. Und dann gibt es noch tausend Einzelheiten – wie zum Beispiel die Stellung der Ohren, die niemand beschreiben kann. O ja, es ist eine große Chance, die sich uns da bietet, deshalb schlage ich vor, einige vorsorgliche Maßnahmen zu ergreifen.»

Er begab sich zur nächsten Telefonzelle und verlangte eine Nummer, von der ich wusste, dass sie einem privaten Detektivbüro gehörte, dessen Hilfe er gelegentlich in Anspruch nahm. Seine Instruktionen waren knapp und deutlich, zwei Mann sollten zu der angegebenen Adresse gehen und unablässig über die Sicherheit von Miss Monro wachen. Sie sollten ihr folgen, wohin sie auch immer gehen mochte. Poirot beendete seinen Anruf und kam befriedigt zu mir zurück.

«Hältst du das wirklich für notwendig, Poirot?», fragte ich.

«Unter Umständen ja. Zweifellos werden wir beobachtet, du sowohl wie ich, und da dem so ist, so wird man bald wissen, mit wem wir heute gemeinsam gespeist haben. Möglicherweise wittert Nummer vier dann Gefahr.»

Kaum waren wir zu Hause, läutete das Telefon, und ich ging an den Apparat. Eine höfliche Stimme sprach zu mir.

«Ist dort Monsieur Poirot? Hier spricht das St.-James-Hospital. Eine junge Frau wurde vor zehn Minuten hier eingeliefert: Verkehrsunfall. Miss Flossie Monro. Sie fragt dringend nach Monsieur Poirot. Aber er muss sofort kommen, denn es kann möglicherweise nicht mehr lange mit ihr dauern.»

Ich wiederholte Poirot das Gehörte. Sein Gesicht wurde kreideweiß.

«Schnell, Hastings, wir müssen hin wie der Wind.»

Ein Taxi brachte uns in weniger als zehn Minuten zum Hospital.

Wir fragten nach Miss Monro und wurden sofort zur Unfallabteilung geführt. Eine Schwester in weißer Haube empfing uns am Eingang.

Poirot las die Trauerbotschaft bereits aus ihrem Gesicht.

«Es ist zu spät, nicht wahr?»

«Ja, sie starb vor zehn Minuten.»

Poirot stand da wie zu Stein erstarrt.

Die Schwester, seine innere Bewegung missdeutend, begann mit sanfter Stimme zu sprechen.

«Sie hat nicht zu leiden brauchen, war halb bewusstlos bis zum letzten Moment – ist von einem Auto überfahren worden –; der Fahrer hat nicht einmal angehalten, unverantwortlich, nicht wahr? Ich hoffe, dass man wenigstens die Nummer notiert hat.»

«Das Schicksal ist gegen uns», sagte Poirot mit leiser Stimme.

«Würden Sie sie gern sehen?»

Die Schwester ging voran, und wir folgten ihr.

Arme Flossie Monro, mit ihrem Rouge und dem gefärbten Haar. Sie lag so friedlich da mit einem Lächeln auf den Lippen.

«Ja», murmelte Poirot, «die Gestirne sind uns nicht hold – aber sind es wirklich die Gestirne?»

Er hob seinen Kopf, als käme ihm eine plötzliche Idee.

«Sind es die Gestirne, Hastings? Andernfalls – wenn sie es nicht sind… Oh, dann schwöre ich dir, mein Freund, hier an der Leiche dieser armen Frau, dass ich keine Gnade kennen werde, wenn die Zeit kommt!»

«Was meinst du damit?» fragte ich.

Aber Poirot hatte sich bereits wieder der Schwester zugewandt und stellte eifrig Nachforschungen an. Eine Liste der Habseligkeiten, die man in der Handtasche der Toten gefunden hatte, wurde schließlich zusammengestellt. Poirot stieß einen unterdrückten Schrei aus, als er sie durchsah.

«Siehst du, Hastings, genau wie ich vermutete!»

«Was hast du entdeckt?»

«Es ist kein Hausschlüssel zu finden, doch sie muss einen solchen bei sich gehabt haben. Ja, nur so kann es gewesen sein, sie ist kaltblütig überfahren worden, und die erste Person, die sich über sie beugte, entnahm ihrer Handtasche den Hausschlüssel. Aber noch können wir zur rechten Zeit kommen, und er mag noch nicht das gefunden haben, wonach er suchte.»

Ein anderes Taxi brachte uns zu der uns von Flossie Monro angegebenen Adresse, einem vernachlässigten Block mit Mietwohnungen in einer ärmlichen Gegend. Es bedurfte einiger Zeit, bevor wir Zutritt zu Miss Monros Wohnung erhielten, jedoch hatten wir wenigstens die Gewissheit, dass sie niemand verlassen konnte, solange wir draußen warteten. Als wir schließlich eintraten, mussten wir erkennen, dass uns bereits jemand zuvorgekommen war. Der Inhalt der Schubladen und Schränke war über den Fußboden verstreut, Schlösser waren erbrochen und Tische und Stühle umgeworfen; der Suchende musste in fieberhafter Eile gehandelt haben. Poirot begann sofort das Durcheinander zu durchsuchen. Mit einem erstaunten Ausruf erhob er sich plötzlich und hielt etwas in der Hand. Es war ein altmodischer Bilderrahmen – und zwar leer. Auf der Rückseite klebte ein runder Zettel – offenbar ein Preiszettel.

«Er hat vier Shilling gekostet», bemerkte ich.

«.Mon Dieu, Hastings, merkst du denn nicht, dass es ein vollkommen neuer Zettel ist! Dieser wurde durch den Mann aufgeklebt, der das Foto entnommen hat, denselben Mann, der uns zuvorgekommen ist und genau wusste, dass wir auf dem Wege hierher waren. Dieser Zettel wurde speziell für uns hinterlassen, von niemand anders als Claude Darrell – alias Nummer vier.»

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