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Der Inspektor zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür zum Bungalow. Nach einem schönen, trockenen Sommertag konnten unsere Schuhe kaum irgendwelche Spuren hinterlassen. Trotzdem reinigten wir sie sorgfältig auf der Matte, bevor wir hineingingen. Eine Frau kam uns aus dem dämmerigen Flur entgegen und sprach einige Worte zum Inspektor, der sich ihr zuwandte und Poirot über die Schulter zurief:

«Sehen Sie sich gut um, Monsieur Poirot, und übersehen Sie nichts. Ich bin in ungefähr zehn Minuten wieder zurück. Nebenbei, hier sind Grants Stiefel.»

Wir gingen in das Wohnzimmer, während des Inspektors Schritte draußen verhallten. Ingles’ Aufmerksamkeit wurde durch einige chinesische Raritäten gefesselt, die auf einem Tisch in der Ecke standen. Er ging hinüber, um sie sich anzusehen, und schien Poirots Untersuchungen vergessen zu haben, während ich meinen Freund mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete. Der Boden war mit einem dunkelgrünen Linoleum belegt, auf welchem Fußspuren deutlich erkennbar waren. Eine Tür am Ende des Raumes führte zu der kleinen Küche, von dort eine andere zum Spülraum (von da führte die Hintertür ins Freie) und eine weitere zur Schlafkammer Robert Grants. Nachdem Poirot den Fußboden untersucht hatte, führte er leise Selbstgespräche über seine Wahrnehmungen. «Hier hat die Leiche gelegen, jener große Fleck und die Spritzer rundherum bezeichnen die Lage. Hier sieht man Spuren von Hausschuhen und anderen Schuhen der Größe neun, jedoch alles ziemlich verschwommen. Sodann zwei verschiedene Abdrücke, die nach der Küche und wieder zurück führen. Wer auch immer der Mörder gewesen sein mag, er ist auf diesem Wege hereingekommen.

Hast du die Stiefel bei dir, Hastings? Gib sie mir bitte.»

Er verglich sie sorgfältig mit den Spuren.

«Ja, beide sind von derselben Person, von Robert Grant. Er kam auf diesem Wege herein, tötete den alten Herrn und ging zur Küche zurück. Dabei trat er in die Blutlache, man sieht die Flecke, die er beim Hinausgehen hinterließ. In der Küche lässt sich nichts mehr feststellen, das halbe Dorf ist darin herumgelaufen. Dann ging er in sein Zimmer – nein, zuvor ging er nochmals zurück zum Tatort – vielleicht um die Jadefiguren zu holen? Oder hatte er etwas übersehen, das ihn verraten mochte?»

«Vielleicht tötete er den alten Herrn erst, als er beim zweiten Male das Zimmer betrat», warf ich ein.

«Du beobachtest nicht scharf genug. Über einer der nach draußen gerichteten Fußspuren zeichnet sich ganz deutlich eine ab, die nach innen geht. Ich möchte zu gerne wissen, warum er nochmals zurückkam, vielleicht doch, um die Jadefiguren zu holen? Es ist alles so sinnlos und lächerlich.»

«Nun gut, dann sitzt er ziemlich hoffnungslos in der Falle.»

«N’est-ce-pas, Hastings? Aber ich wiederhole, alles widerspricht dem klaren Verstand, so dass es mir keine Ruhe lässt. Lass uns mal einen Blick in die Kammer werfen. Siehst du, da ist die Blutspur auf der Schwelle und ein schwacher blutbeschmierter Schuhabdruck. Robert Grant war der Einzige, der sich zu der Zeit in der Nähe des Hauses befand – er muss es gewesen sein, er und kein anderer.»

«Wie denkst du über die alte Frau?», fragte ich dazwischen.

«Sie war allein im Haus, nachdem Grant gegangen war, um Milch zu holen. Sie könnte ihn getötet und dann das Zimmer verlassen haben. Ihre Schuhe hätten keine Spuren hinterlassen, denn sie war noch nicht draußen gewesen.»

«Sehr gut, Hastings, ich wartete darauf, dass dir etwas dergleichen einfallen würde. Ich hatte selbst auch schon daran gedacht, aber Betsy Andrews ist eine Frau aus dem Orte und überall bekannt. Sie kann keine Verbindung mit den Großen Vier haben, und außerdem war der alte Whalley ein ziemlich kräftiger Mann. Diese Tat ist die eines Mannes.»

«Wäre es nicht denkbar, dass die Großen Vier in der Zimmerdecke irgendeine teuflische Vorrichtung angebracht hätten, etwas, was sich automatisch senkt, den Hals des alten Herrn durchschneidet und dann wieder nach oben verschwindet?»

«Wie die Jakobsleiter? Ich weiß, Hastings, du hast eine blühende Fantasie; aber bitte, halte sie in Grenzen.»

Ich gab mich geschlagen. Poirot setzte seine Untersuchungen fort, schnüffelte in allen Behältern und Regalen mit einem ausgesprochen missmutigen Gesichtsausdruck herum. Plötzlich jedoch stieß er einen aufgeregten Laut aus, der an das Gejaule eines Jagdhundes erinnerte. Ich rannte zu ihm. Er. stand mitten in der Speisekammer und schwang dramatisch eine Hammelkeule!

«Mein lieber Poirot», rief ich, «was ist los mit dir, hast du plötzlich den Verstand verloren?»

«Sieh dir einmal diese Keule an, aber bitte ganz sorgfältig!»

Ich betrachtete das Fleisch so genau wie irgend möglich, konnte aber daran nichts Außergewöhnliches feststellen. Es erschien mir wie eine ganz normale Hammelkeule, und ich brachte das unumwunden zum Ausdruck. Poirot warf mir einen vernichtenden Blick zu.

«Aber siehst du denn nicht das – und das – und das?»

Er begleitete jeden Hinweis mit einem Hieb gegen das harmlose Stück Fleisch, wobei kleine Eispartikel sich lösten.

Poirot hatte mir gerade vorgeworfen, ich sollte meine Fantasie im Zaum halten, jetzt hatte ich jedoch das Gefühl, dass er selbst die Grenzen überschritt. War er wirklich der Meinung, diese Eiskristalle hätten irgendwelche tiefere Bedeutung? Ich konnte keine zufriedenstellende Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten finden.

«Es ist Gefrierfleisch», bemerkte ich seelenruhig, «importiert aus Neuseeland, wenn du es nicht wissen solltest.»

Er starrte mich eine Zeit lang an und stieß alsdann ein gezwungenes Lachen aus. «Wie harmlos doch mein Freund Hastings ist! Er weiß alles und sieht alles nur mit seinen Augen. Typisch für meinen guten Hastings.»

Er warf die Hammelkeule in die Schüssel zurück, verließ die Speisekammer und sah aus dem Fenster.

«Da kommt unser Freund, der Inspektor. Das ist mir recht, ich habe alles gefunden, wonach ich suchte.» Er trommelte gedankenverloren auf den Tisch, wie wenn er angestrengt über etwas nachdächte. Dann fragte er plötzlich: «Was ist heute für ein Tag?»

«Montag», sagte ich ziemlich erstaunt. «Warum?»

«So, also Montag; ein schlechter Wochentag. Am Montag einen Mord zu begehen ist immer ein großer Fehler.»

Er begab sich in das Wohnzimmer und klopfte an das Barometer, an, welchem sich ein Thermometer befand.

«Schönwetter und einundzwanzig Grad Celsius. Ein richtiger englischer Sommertag.»

Ingles untersuchte indessen immer noch verschiedene seltene Stücke chinesischen Porzellans.

«Sie haben wohl nicht allzu großes Interesse an meinen Untersuchungen, Monsieur?», fragte Poirot.

Mr Ingles lächelte leise vor sich hin.

«Sehen Sie, das ist nichts für mich. Ich bin zwar Sachverständiger auf verschiedenen Gebieten, aber dieses gehört nicht dazu. So halte ich mich denn im Hintergrund und stehe keinem im Wege. Ich habe das im Fernen Osten gelernt.»

Der Inspektor kam außer Atem an und entschuldigte sich, so lange fortgeblieben zu sein. Er bestand darauf, uns noch weiteren Einblick in die Umstände zu vermitteln, doch machten wir uns schließlich auf den Weg.

«Ich muss Ihnen immer wieder sagen, Inspektor, dass ich Ihnen für Ihre vielen Hinweise sehr verbunden bin», sagte Poirot unterwegs. «Ich habe aber noch einen letzten Wunsch.»

«Sie wünschen sicherlich die Leiche zu sehen, Sir?»

«O nein, keinesfalls. Daran habe ich nicht das geringste Interesse, aber ich möchte gerne mit Grant sprechen.»

«Dann müssen Sie mit mir nach Moreton fahren, Sir.»

«Gut, das können wir machen. Aber ich muss unter vier Augen mit ihm sprechen.»

Der Inspektor nagte an seiner Oberlippe.

«Schauen Sie, Sir, ich bin nicht ganz sicher, ob ich zu solch einer Genehmigung berechtigt bin.»

«Dann kann ich Ihnen versichern, dass Sie die sofortige Genehmigung dazu erhalten werden, wenn Sie Scotland Yard anrufen.»

«Ich habe natürlich schon viel von Ihnen gehört, Sir, und ich weiß auch, dass Sie uns dann und wann unschätzbare Hilfe geleistet haben. Aber es steht nun einmal gänzlich im Gegensatz zu unseren Bestimmungen.»

«Trotzdem ist es notwendig», drängte Poirot. «Es ist schon deshalb notwendig, weil – Grant gar nicht der Mörder ist.»

«Was sagen Sie da? Wer ist denn der Mörder?»

«Nach meiner Überzeugung war der Mörder ein Mann in mittleren Jahren. Er fuhr zum Bungalow in einem offenen leichten Wagen, betrat das Haus, beging den Mord, kam heraus und fuhr wieder fort. Er trug keine Kopfbedeckung, aber einen mit Blutspritzern bedeckten weißen Mantel.»

«Aber dann hätte ihn doch die ganze Ortschaft gesehen!»

«Nicht unter den hier gegebenen Umständen.»

«Wenn es dunkel gewesen wäre, vielleicht nicht, das Verbrechen wurde aber am hellen Tag verübt.» Poirot lächelte nur.

«Und wie kommen Sie auf den offenen Wagen, Sir? Es ist zwar eine ganze Anzahl von Fahrzeugen an dem Haus vorbeigefahren, aber keines, auf das Ihre Beschreibung passen würde.»

«Es wurde zwar nicht mit den Augen wahrgenommen, aber in meiner Vorstellung, mein Lieber.»

Der Inspektor griff sich viel sagend an die Stirn und sah mich dabei lächelnd an. Ich war äußerst verwirrt, hatte jedoch volles Vertrauen zu Poirot. Weitere Diskussionen unterblieben, und wir fuhren gemeinsam mit dem Inspektor nach Moreton. Poirot und ich wurden zu Grant geführt, jedoch musste ein Polizeibeamter bei unserer Unterredung zugegen sein. Poirot kam gleich zur Sache.

«Grant, ich bin überzeugt von Ihrer Unschuld; erläutern Sie mir nochmals mit Ihren eigenen Worten, was tatsächlich geschehen ist.»

Der Gefangene war ein Mann mittlerer Statur, mit auffallend unangenehmen Gesichtszügen. Wenn jemand einem Galgenvogel glich, so war er es.

«Bei meiner Ehre, ich habe nichts mit dem Mord zu tun», winselte er. «Irgendjemand hat jene kleinen Glasfiguren zwischen meinen Sachen versteckt. Es geschah wirklich nur zu dem Zwecke, mich in Verdacht zu bringen. Wie ich bereits gesagt habe, ging ich auf direktem Wege zu meiner Kammer, als ich das Haus betrat. Ich war völlig ahnungslos bis zu dem Zeitpunkt, da Betsy aufschrie. So wahr mir Gott helfe, ich habe nichts damit zu tun.»

Poirot erhob sich.

«Wenn Sie mir nicht die volle Wahrheit sagen können, muss ich unsere Unterredung als beendet ansehen.»

«Aber, hochverehrter Herr –!»

«Sie betraten das Mordzimmer und wussten, dass Ihr Herr ermordet worden war, und waren bereits im Begriff, das Weite zu suchen, als Betsy ihre grauenvolle Entdeckung machte.»

Der Mann starrte Poirot mit herunterhängendem Unterkiefer an.

«Nun, gestehen Sie schon, ist es nicht so? Ich kann Ihnen verraten – auf mein Ehrenwort –, Ihre einzige Chance besteht darin, die volle Wahrheit zu sagen.»

«So riskiere ich es eben», erklärte der Mann plötzlich. «Es war genauso, wie Sie sagten. Ich betrat das Haus und ging geradewegs zu meinem Herrn; ich fand ihn blutüberströmt am Boden liegen. Es galt, klar zu überlegen. Man würde sofort meine Vorstrafen feststellen und mich mit Sicherheit dieses Verbrechens beschuldigen. Mein einziger Gedanke war, mich unverzüglich aus dem Staub zu machen, bevor das Verbrechen entdeckt wurde.»

«Und die Jadefiguren?»

Der Mann zögerte.

«Sehen Sie –»

«Sagen Sie doch schon, Sie nahmen sie rein instinktiv an sich. Sie haben von Ihrem Herrn gehört, dass sie einen gewissen Wert hatten, und waren der Meinung, nicht halbe Arbeit machen zu wollen. Das kann ich begreifen. Nun beantworten Sie mir bitte Folgendes: Nahmen Sie die Figuren an sich, als Sie zum zweiten Male das Zimmer betraten?»

«Ich war nur einmal im Zimmer, das hat mir völlig gereicht.»

«Sind Sie ganz sicher?»

«Absolut sicher.»

«Gut; wann kamen Sie zuletzt aus dem Gefängnis?»

«Vor zwei Monaten.»

«Wie kamen Sie zu dieser Anstellung?»

«Durch eine Hilfsaktion für entlassene Strafgefangene. Ein Mann erwartete mich, als ich entlassen wurde.»

«Was war das für ein Mann?»

«So etwas wie ein Geistlicher; weicher schwarzer Hut und eine gewählte Sprache. Hatte einen zerbrochenen Vorderzahn und trug eine Brille. Saunders war sein Name. Er sagte, er hoffe, dass ich reumütig sei, und er wolle mir deshalb eine gute Stelle verschaffen. Ich trat meinen Posten beim alten Whalley auf seine Empfehlung an.»

«Ich danke Ihnen; ich glaube jetzt alles durchschauen zu können. Haben Sie noch etwas Geduld.»

Er blieb beim Ausgang stehen und sagte: «Saunders gab Ihnen ein Paar Schuhe, nicht wahr?»

Grant staunte nur.

Poirot erhob sich.

«Ja, freilich, doch wie können Sie das wissen?»

«Es gehört nun einmal zu meinem Beruf, über verschiedene Dinge unterrichtet zu sein», sagte Poirot mit großem Ernst.

Nach einigen Worten mit dem Inspektor gingen wir zum «Weißen Hirschen», um bei Schinken mit Ei, dazu Apfelwein aus Devonshire, die Angelegenheit zu besprechen.

«Können Sie uns schon irgendwelche Erklärungen geben?», fragte Ingles lächelnd.

«Ja, die Angelegenheit liegt für mich ziemlich klar, jedoch werden Sie verstehen, dass es nicht so ganz leicht sein wird, Beweise zu erbringen.

Whalley wurde auf Befehl der Großen Vier getötet – aber nicht von Grant. Ein durchtriebener Bursche besorgte Grant den Posten und plante mit großer Umsicht, ihn zum Sündenbock zu machen – eine nicht zu schwierige Aufgabe bei Grants Vorstrafen. Er gab ihm ein Paar Schuhe, eines von zwei vollständig gleichen Paaren. Das andere Paar behielt er selbst. Es war alles denkbar einfach. Zu dem Zeitpunkt, als Grant sich außerhalb des Hauses befand und Betsy zu einem Schwätzchen ausgegangen war (was sie wahrscheinlich jeden Tag zu tun pflegte), fuhr er bei dem Hause vor und trug bei dieser Gelegenheit die gleichen Schuhe. Er betrat die Küche, ging zum Wohnzimmer, streckte den alten Herrn mit einem Schlag nieder und schnitt ihm die Kehle durch. Dann begab er sich zurück in die Küche, zog die Schuhe aus, tauschte sie gegen die vor der Tür stehenden aus, verließ mit Grants Schuhen das Haus und fuhr mit seinem Wagen davon.»

Ingles betrachtete Poirot aufmerksam.

«Da taucht noch die Frage auf, wieso ihn niemand gesehen hat.»

«Ah, nach meiner Überzeugung kann man hier erkennen, mit welcher Schlauheit Nummer vier zu Werke ging. Ein jeder sah ihn – und wiederum sah ihn niemand, denn er benutzte zu seinem Vorhaben einen Metzgerwagen!»

Ich stieß einen Ruf der Überraschung aus.

«Die Hammelkeule?»

«Genau das, Hastings, die Hammelkeule. Jedermann konnte beschwören, dass kein Fremder an diesem Morgen ‹Granite Bungalow› betreten hatte, und doch fand ich in der Speisekammer die noch steifgefrorene Hammelkeule. Es ist Montag, so muss das Fleisch heute Morgen geliefert worden sein, denn wäre es bereits am Sonnabend geliefert worden, wäre es bei dem heißen Wetter nicht bis zum Montag in gefrorenem Zustand verblieben. Also ist tatsächlich jemand dort gewesen, und ein Mann als Metzger verkleidet, mit blutbefleckter Schürze, hat wahrscheinlich keine oder nur wenig Aufmerksamkeit erregt.»

«Verdammt genial zusammengereimt», sagte Ingles zustimmend.

«Ja, das hat unsere Nummer vier tatsächlich schlau eingefädelt», bekräftigte Poirot.

«Er ist ebenso schlau wie unser Hercule Poirot», bemerkte ich leise.

Mein Freund warf mir einen missbilligenden Blick zu. «Deine scherzhaften Bemerkungen sind an dieser Stelle durchaus nicht angebracht, Hastings», sagte er kurz angebunden. «Habe ich nicht einen Unschuldigen vor dem Galgen gerettet?»

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