16

Sogar noch heute fällt es mir schwer, von den Ereignissen jener Märztage zu sprechen.

Poirot – der einmalige, der unübertreffliche Hercule Poirot war tot! Eine wahrhaft teuflische Eingebung, das mit der Zündholzschachtel: Derjenige, der die Höllenmaschine darin verborgen hatte, kannte den unüberwindlichen Ordnungssinn Poirots. Diese Tatsache und ferner der Umstand, dass eigentlich ich es gewesen war, der an allem schuld war, hörte niemals auf, mein Gewissen zu belasten. Wie Dr. Ridgeway betont hatte, war es tatsächlich ein Wunder, dass ich nicht getötet worden und mit nur unbedeutenden Verletzungen davongekommen war.

Obgleich mir schien, dass ich nur kurze Zeit bewusstlos gewesen sein konnte, so waren doch in Wirklichkeit vierundzwanzig Stunden vergangen, bis ich wieder zu mir kam. Erst am Abend des nächsten Tages war ich in der Lage, auf unsicheren Beinen in den angrenzenden Raum zu wanken und stand dort lange Zeit vor dem bereits geschlossenen schwarzen Sarg, der die sterblichen Überreste eines Mannes enthielt, wie ihn die Welt nur einmal hervorbringen konnte.

Vom ersten Moment an, in welchem ich wieder mein Bewusstsein erlangte, hatte ich nur einen Gedanken: Poirots Tod zu rächen und die Großen Vier erbarmungslos zur Strecke zu bringen.

Ich hatte im Stillen gehofft, dass Dr. Ridgeway mich unterstützen würde, doch zu meiner größten Überraschung schien der gute Doktor wenig Verständnis dafür zu haben.

«Fahren Sie nach Südamerika zurück», lautete sein Rat bei jeder sich bietenden Gelegenheit. «Warum wollen Sie sich mit einer so schweren und beinahe unlösbaren Aufgabe belasten?» Dabei überbot er sich selbst in seinen Überredungskünsten.

«Wenn Poirot, der unvergleichliche Poirot, in diesem Kampf unterlegen war, wäre es dann denkbar, dass Sie irgendeinen Erfolg erringen könnten?»

Ich war jedoch hartnäckig. Jeder Zweifel, ob ich über die notwendige Eignung zur Lösung dieser Aufgabe verfügte, wurde von mir mit der Bemerkung abgetan, dass ich lange genug mit Poirot zusammengearbeitet hätte, um seine Methoden instinktmäßig anwenden zu können, und dass ich mich stark genug fühlte, die Arbeit dort aufzunehmen, wo er notgedrungen aufhören musste. Die Lösung des Problems bedeutete für mich eine reine Prestigefrage. Mein Freund war einem heimtückischen Mord zum Opfer gefallen, ich konnte nicht nach Südamerika zurückkehren, ohne seine Mörder der irdischen Gerechtigkeit übergeben zu haben. Dies alles und noch viel mehr brachte ich Dr. Ridgeway gegenüber zum Ausdruck, der mir aufmerksam zuhörte.

«Ihnen ist nicht zu raten», sagte er, als ich geendet hatte, «wir sind darin verschiedener Ansicht. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Poirot selbst, sofern er noch am Leben wäre, darauf bestehen würde, dass Sie abreisen. In seinem Namen, lieber Hastings, bitte ich Sie, geben Sie Ihre kühnen Pläne auf, und begeben Sie sich auf Ihre Ranch zurück.»

Ich schüttelte traurig den Kopf und hielt es für überflüssig, weitere Worte zu verlieren. Bis zur völligen Wiederherstellung meiner Gesundheit verging ein ganzer Monat. Gegen Ende April erbat ich eine Unterredung mit dem Staatssekretär, die mir auch gewährt wurde. Mr Crowthers Art erinnerte mich an die von Dr. Ridgeway. Die Unterredung bewegte sich auf derselben Linie und endete wie vorauszusehen war. Obwohl er mein Anerbieten, meine Dienste zur Lösung des Problems zur Verfügung zu stellen, sehr schätzte, so lehnte er sie doch ruhig, aber bestimmt ab. Die Papiere, die Poirot hinterlassen hatte, waren in seine Obhut übergegangen, und er versicherte mir, dass alle erdenklichen Schritte getan würden, um jeder Eventualität zu begegnen.

Auf Grund seiner kühlen Erwägungen sah ich mich gezwungen zu resignieren. Mr Crowther beendete die Unterredung mit dem dringenden Wunsche, ich solle nach Südamerika zurückkehren. Ich empfand diese Lösung als höchst unbefriedigend und konnte meinen Unmut darüber nicht verbergen. So schwer es mir auch fällt und so schmerzlich es auch für mich ist, so muss ich doch an dieser Stelle über Poirots Begräbnis berichten. Es war eine ergreifende und feierliche Zeremonie, und die außerordentlich große Zahl von Blumenspenden legte davon Zeugnis ab, wie viele Freunde er sich in seiner Wahlheimat erworben hatte. Arm und Reich folgte dem Sarge, um dem unvergesslichen Toten die letzte Ehrung zu erweisen.

Ich selbst, ich muss es offen gestehen, war zutiefst bewegt, als ich an der Gruft an die vielen glücklichen Tage und die verschiedenen Episoden zurückdachte, die wir gemeinsam erlebt hatten. Der Abschied von meinem Freunde ging mir sehr zu Herzen.

Anfang Mai entschloss ich mich zu folgendem Plan. Ich fühlte, dass es notwendig sei, nach den früheren Plänen von Poirot weitere Inserate in der Presse zu veröffentlichen, die sich mit der Person von Claude Darrell befassten. Zu diesem Zweck hatte ich eine Anzahl von Annoncen für die Morgenzeitungen zusammengestellt und befand mich gerade in einem kleinen Restaurant in Soho. Gerade war ich im Begriffe, über die Zweckmäßigkeit dieser Veröffentlichungen Erwägungen anzustellen, als ich in einem anderen Teil der Zeitung eine kleine Notiz entdeckte, die mir einen ganz gehörigen Schrecken versetzte.

In kurzen Worten wurde über das geheimnisvolle Verschwinden des Mr Ingles von Bord der «Shanghai» berichtet, kurz nachdem das Schiff den Hafen von Marseille verlassen hatte. Obgleich das Wetter ausgesprochen gut gewesen sei, so sei doch zu befürchten, dass der unglückliche Passagier über Bord gefallen sei. Der Bericht endete mit einem Hinweis auf Mr Ingles’ langes und erfolgreiches Wirken im Fernen Osten.

Diese Neuigkeit war für mich niederschmetternd, und Mr Ingles’ Verschwinden bedeutete für mich ein schlimmes Vorzeichen. Nicht einen Moment glaubte ich an einen Unfall. Ingles war ermordet worden, und sein Tod war offensichtlich auf das Konto der Großen Vier zu buchen. Ich saß wie zu Stein erstarrt und beschäftigte mich mit dieser neuen Wendung, als ich durch das merkwürdige Verhalten eines Gastes irritiert wurde, der mir gegenüber Platz genommen hatte. Bis dahin hatte ich ihn gar nicht bemerkt. Es war ein schlanker, dunkelhaariger Mann mittleren Alters von gelblicher Gesichtsfarbe, der einen kleinen gestutzten Bart trug. Er hatte so unbemerkt mir gegenüber Platz genommen, dass ich sein Kommen gar nicht wahrgenommen hatte. Sein Benehmen war höchst sonderbar. Er beugte sich über den Tisch, ergriff den vor mir stehenden Salzstreuer und machte damit auf den Rand meines Tellers herum vier kleine Häufchen.

«Sie werden verzeihen», sagte er mit tiefer Stimme, «das, was ich gerade tue, hat symbolische Bedeutung und entspricht bei den Orientalen dem Wunsche, mit einem Fremden seine Sorgen zu teilen. Manchmal mag es zutreffen, in diesem Falle möchte ich nicht hoffen, dass Sie Sorgen haben…»

Mit einer gewissen Bedächtigkeit wiederholte er sodann dieselbe Manipulation auf seinem eigenen Teller. Es war zu offensichtlich und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er mich auf die Zahl Vier unmissverständlich hinweisen wollte. Ich sah ihn durchdringend an, konnte ihn jedoch in keiner Weise mit einer der zahlreichen Personen identifizieren, die uns in diesem Zusammenhang begegnet waren. Trotzdem war ich davon überzeugt, dass ich es mit keinem Geringeren als der berüchtigten Nummer vier persönlich zu tun hatte. Seine Stimme erinnerte mich undeutlich an den bis zum Halse zugeknöpften Fremden, dem wir in Paris begegnet waren.

Ich sah mich um, unschlüssig, was ich tun sollte. Meine Gedanken lesend, lächelte er und schüttelte langsam den Kopf. «Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun», bemerkte er, «erinnern Sie sich bitte an Ihre übereilten Handlungen in Paris, und lassen Sie mich Ihnen versichern, dass mein Rückzug auch jetzt wieder sehr gut gedeckt ist. Stets neigen Sie zu unüberlegten Handlungen, Hauptmann Hastings, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.»

«Sie Teufel», zischte ich, mich vor Wut nicht mehr kennend. «Sie sind ein Teufel in Menschengestalt!»

«Sie sind sehr voreilig, ein wenig zu voreilig. Ihr verstorbener Freund würde Ihnen bei dieser Gelegenheit gesagt haben, dass ein Mann, der seine Ruhe bewahrt, stets im Vorteil ist.»

«Sie wagen es, von ihm zu reden», rief ich aus, «von dem Manne, den Sie auf dem Gewissen haben. Und Sie wagen es ferner, hierher zu kommen…»

«Ich bin hierher gekommen mit einem besonderen und äußerst friedlichen Vorsatz, nämlich, Ihnen den Rat zu geben, sofort nach Südamerika zurückzukehren. Wenn Sie dies tun, so soll es damit sein Bewenden haben, was die Großen Vier betrifft. Sie und die Ihrigen werden dann in keiner Weise mehr belästigt werden. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.»

Ich lachte zornig auf.

«Und wenn ich mich weigere, Ihren selbstherrlichen Befehlen Folge zu leisten?»

«Um einen Befehl dürfte es sich kaum handeln, wir wollen es lieber als eine Empfehlung bezeichnen.»

Eine kalte Drohung lag in seinen Worten.

«Man kann es auch als eine Warnung ansehen», sagte er leise, «es erscheint ratsam, diese nicht unbeachtet zu lassen!»

Sodann, ohne dass ich vorher seine Absicht erkannte, erhob er sich und entschlüpfte schnell zur Tür. Ich sprang auf und war in derselben Sekunde hinter ihm, unglücklicherweise kollidierte ich mit einem unförmig dicken Herrn, der mir den Weg zwischen den Tischen versperrte. Kaum hatte ich mich von diesem freigemacht – meine Jagdbeute stand schon beim Ausgang –, prallte ich mit einem Kellner zusammen, der ein großes Tablett mit Tellern trug und ganz unvermutet aufgetaucht war. Als ich schließlich zur Tür gelangte, sah ich keine Spur mehr von dem hageren Manne mit dem gestutzten Bart. Der Kellner erging sich in tausend Entschuldigungen, während der dicke Herr es sich an seinem Tisch bequem machte und seine Mahlzeit bestellte. Nichts deutete darauf hin, dass beide Zwischenfälle nicht rein zufällig gewesen waren, jedoch war ich mir darüber im Klaren, dass die Agenten der Großen Vier auch hier ihre Hand im Spiel hatten.

Ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich der mir erteilten Warnung keine Beachtung schenkte, da ich nun einmal fest entschlossen war, für die gute Sache mein Leben aufs Spiel zu setzen. Auf meine Inserate erhielt ich insgesamt nur zwei Antworten, keine davon gab mir auch nur die Spur von neuen Anhaltspunkten. Beide stammten von Schauspielern, die irgendwann mit Claude Darrell zusammengearbeitet hatten, keiner von ihnen hatte zu ihm in näherer Verbindung gestanden, und kein neues Licht fiel auf die Frage seiner Identität. Erst etwa zehn Tage später hörte ich abermals von den Großen Vier. Ich spazierte gerade, tief in Gedanken versunken, durch den Hyde Park, als eine Stimme, volltönend und fremdartig klingend, mich aufblicken ließ.

«Hauptmann Hastings, wenn ich nicht irre?»

Eine große Limousine hielt dicht am Gehweg. Eine Dame beugte sich heraus, sie war mit ausgesuchter Eleganz gekleidet und trug eine wundervolle Perlenkette. Es war dieselbe Dame, deren Bekanntschaft wir erstmals als Komtesse Rossakoff und später unter verschiedenen Decknamen als eine Agentin der Großen Vier kennen gelernt hatten. Poirot hatte aus unerfindlichen Gründen stets eine versteckte Vorliebe für die Komtesse gehabt. Etwas in ihrem liebenswürdigen Wesen hatte den kleinen Mann beeindruckt.

Er scheute sich nicht, gelegentlich einzugestehen, dass sie eine Frau unter Tausenden sei. Dass sie sich uns entgegengestellt hatte, und zwar auf der Seite unserer erbittertsten Feinde, schien seine Einstellung niemals erschüttern zu können.

«Oh, hören Sie mich bitte an», sagte die Komtesse, «ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Versuchen Sie nicht, mich etwa verhaften zu lassen, denn das wäre recht unbedacht von Ihnen. Sie haben schon immer ein wenig übereilt gehandelt, oder nicht? Sie sind sehr töricht, wenn Sie die Ihnen zugegangene Warnung in den Wind schlagen. Dies ist nun die zweite Warnung, die Ihnen diesmal durch mich übermittelt wird. Verlassen Sie unverzüglich England, denn hier können Sie absolut nichts erreichen – dies sage ich Ihnen ganz offen. Nie werden Sie Ihr Ziel erreichen!»

«In diesem Falle», erwiderte ich kühl, «erscheint es ziemlich ungewöhnlich, dass Ihre Partner so eifrig bemüht sind, mich außer Landes zu wissen.»

Die Komtesse zuckte die Achseln – bezaubernde Achseln, und dazu eine bezaubernde Geste.

«Ich persönlich finde es auch ziemlich überflüssig; ich würde Sie auch gern hier behalten, damit Sie Ihren neckischen Spielereien nachgehen können, doch die Herren Chefs, sehen Sie, sind besorgt, dass einige unbedachte Äußerungen Ihrerseits anderen Leuten mit etwas mehr Verstand von Nutzen sein könnten. Daher – müssen Sie verschwinden.»

Die Komtesse schien nicht viel von meinen Fähigkeiten zu halten, so bemühte ich mich denn, meine Enttäuschung darüber zu verbergen. Ohne Zweifel sollte ihre Haltung dazu dienen, mich zu enttäuschen und in mir Minderwertigkeitskomplexe zu erwecken.

«Es wäre natürlich ein Leichtes, Sie einfach verschwinden zu lassen», fuhr sie fort, «aber zeitweise bin ich außerordentlich sentimental, und so habe ich mich für Sie eingesetzt. Sie haben drüben irgendwo eine nette Frau, soviel mir bekannt ist. Und weiterhin würde der arme kleine Mann, der leider nicht mehr unter uns Lebenden weilt, sicher erfreut sein, zu wissen, dass weiter kein Grund vorliegt, Sie zu beseitigen. Ich mochte ihn schon immer gern, wissen Sie… er war sehr klug… außerordentlich gescheit! Hätte er nicht in einem Kampf von vier gegen einen gestanden, so wäre er uns überlegen gewesen, dessen bin ich fest überzeugt. Ich darf es offen eingestehen: ich habe in ihm meinen Meister gefunden! Auch habe ich als Zeichen meiner Bewunderung zu seinem Begräbnis einen großen Kranz mit karmesinroten Rosen geschickt – dies sind nämlich meine Lieblingsblumen.»

Schweigend und mit wachsendem Unmut hörte ich zu.

«Im Moment machen Sie auf mich den Eindruck eines Esels, der seine Ohren an den Kopf legt und nach hinten ausschlägt. Nun, ich habe Sie nochmals gewarnt. Denken Sie daran, eine dritte Warnung wird Ihnen gegebenenfalls durch den Zerstörer persönlich zugehen.»

Darauf gab sie ein Zeichen, und der Wagen schoss davon. Ich registrierte mechanisch seine Nummer, erkannte jedoch sofort die Zwecklosigkeit meines Beginnens. Die Großen Vier durfte man keinesfalls unterschätzen, nicht einmal in Nebensächlichkeiten.

Etwas ernüchtert ging ich heim, denn einiges war in mir doch haften geblieben von dem Redefluss der Komtesse. Soviel stand jedenfalls fest, ich befand mich zur Zeit in ständiger Lebensgefahr. Obwohl ich keinesfalls die Absicht hatte, den Kampf aufzugeben, hielt ich es doch zunächst für besser, auf der Stelle zu treten und jede erdenkliche Vorsicht walten zu lassen. Während ich mir nochmals alles überlegte und nach dem besten Wege suchte, um wieder in Aktion zu treten, läutete das Telefon. Ich durchquerte das Zimmer und griff zum Hörer. «Hallo, wer spricht dort?»

Eine frische Stimme antwortete.

«Hier ist das St.-Giles-Hospital. Wir haben einen Chinesen hier, der auf der Straße mit einem Messer verletzt und hier eingeliefert wurde. Sein Zustand ist sehr bedenklich, und wir rufen bei Ihnen an, weil wir in seinen Taschen einen Zettel mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse gefunden haben.»

Zwar war ich sehr erstaunt, doch sagte ich nach einer kurzen Pause der Überlegung, dass ich mich sofort auf den Weg machen wolle. Das St.-Giles-Hospital befand sich, soviel mir bekannt war, unten bei den Hafenanlagen, und deshalb kam ich zur Erkenntnis, dass es sich vielleicht um einen chinesischen Seemann handeln könnte.

Ich war schon eine Weile unterwegs, als mich ein plötzlicher Verdacht überkam. Handelte es sich vielleicht wieder einmal um eine Falle? Denn wo immer ein Chinese auftauchte, konnte Li Chang Yen seine Hand im Spiel haben. Ich erinnerte mich an das Erlebnis, in welchem ich als Köder für Poirot benutzt wurde. Handelte es sich wieder um eine List meiner Feinde? Nach reiflicher Überlegung kam ich jedoch zu der Überzeugung, dass man hinter einem Besuch im Hospital wohl nichts Derartiges vermuten konnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich wohl weniger um ein Komplott als vielmehr um einen ihrer Schachzüge. Der sterbende Chinese würde mir wahrscheinlich etwas mitzuteilen haben, was mich zum Handeln zwang und mich in die Hände der Großen Vier spielen würde. Es war also ratsam, die Augen offen zu halten und unter dem Anschein der Leichtgläubigkeit auf alles gefasst zu sein.

Bei meiner Ankunft im St.-Giles-Hospital wurde ich, nachdem ich mein Anliegen vorgetragen hatte, zur Unfallabteilung und zum Bett des betreffenden Mannes geführt. Er lag still mit geschlossenen Augen da, und nur eine schwache Bewegung der Brust ließ erkennen, dass er noch lebte. Ein Arzt stand neben seinem Bett und prüfte seinen Pulsschlag.

«Lange wird es nicht mehr dauern», flüsterte er mir zu, «kennen Sie ihn?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Ich habe ihn noch nie gesehen.»

«Was hatte denn der Zettel mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse zu bedeuten? Sie sind doch Hauptmann Hastings, nicht wahr?»

«Jawohl, und doch kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, um wen es sich hier handelt.»

«Merkwürdige Angelegenheit – aus seinen Papieren ist ersichtlich, dass er der Diener eines Mannes mit Namen Ingles gewesen ist – und zwar ein solcher, der nicht mehr in seinen Diensten stand. Nun wissen Sie wohl, wer er ist?», fügte er schnell hinzu, als er sah, dass ich bei Nennung des Namens Ingles aufhorchte.

Der Diener von Mr Ingles! Dann musste ich ihn schon einmal gesehen haben, obgleich ich niemals fähig gewesen wäre, einen Chinesen vom anderen zu unterscheiden. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er mit Mr Ingles auf dem Weg nach China gewesen und nach dessen Verschwinden nach England zurückgekehrt war – möglicherweise mit einer wichtigen Nachricht für mich. Es war also von großer Bedeutung, hierüber etwas in Erfahrung zu bringen.

«Ist er bei Bewusstsein?», fragte ich. «Kann er sprechen? Mr Ingles war ein alter Freund von uns, und es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser arme Kerl uns eine Nachricht überbringen sollte. Es besteht die Annahme, dass Mr Ingles einem Unglücksfall zum Opfer gefallen ist.»

«Er ist zwar bei Bewusstsein, jedoch zweifle ich, dass er die Kraft zum Sprechen hat, denn er hat eine Unmenge Blut verloren. Ich kann ihm allerdings noch eine Spritze zur Herzbelebung verabfolgen, aber wir haben schon das Äußerste in dieser Richtung getan.»

Dem Sterbenden wurde noch eine weitere Injektion verabreicht, während ich am Bett verblieb in der vagen Hoffnung auf ein Wort oder Zeichen, das für mich und meine Arbeit so unendlich wertvoll war. Doch die Minuten vergingen, und nichts ereignete sich.

Als ich so untätig wartend dastand, gingen mir die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. War ich nicht bereits wieder im Begriffe, in eine Falle zu gehen? Angenommen, dieser Chinese hatte nur die Rolle eines Dieners von Mr Ingles zu spielen und war in Wirklichkeit ein Werkzeug der Großen Vier? Hatte man nicht schon verschiedentlich davon gelesen, dass gewisse chinesische Fanatiker in der Lage waren, ihren Tod vorzutäuschen? Oder, um noch weiter zu gehen, konnte Li Chang Yen nicht so viel Macht auf diesen Mann ausgeübt haben, dass dieser sogar bereit war, den Tod auf sich zu nehmen, um seinem Herrn dienstbar zu sein? Ich musste mit allem rechnen. Gerade als mir diese Gedanken im Kopf herumgingen, bewegte sich der Mann in seinem Bett, und er öffnete die Augen. Er murmelte etwas Unzusammenhängendes, dann blieb sein Blick auf meinem Gesicht haften. Er gab zwar kein Zeichen des Erkennens, aber ich wusste sofort, dass er versuchte, mir etwas zu sagen. Mochte er Freund oder Feind sein, ich musste hören, was er mir mitzuteilen hatte. Ich beugte mich über ihn, jedoch ließen seine undeutlich gestammelten Worte keinen Sinn erkennen. Ich glaubte das Wort «Hand» herauszuhören, aber in welchem Sinn es gemeint war, war nicht festzustellen. Dann wieder kam ein Laut über seine Lippen, diesmal vermeinte ich das Wort «Largo» zu hören. Mit Mühe versuchte ich die beiden Worte miteinander in Verbindung zu bringen.

«Händeln ‹Largo›?», forschte ich.

Des Chinesen Augenlider flackerten in schneller Folge, wie zustimmend, und er fügte ein weiteres italienisches Wort hinzu, das etwa wie «Carrozza» klang. Zwei oder drei weitere italienisch klingende Worte waren vernehmbar, doch dann fiel er ganz plötzlich zurück. Der Doktor bat mich, zur Seite zu treten; es war vorüber, der Mann war tot.

Ich ging hinaus an die frische Luft und war vollkommen verwirrt. Händels «Largo» und dann wieder Carrozza. Ich erinnerte mich daran, dass Carrozza so viel wie ein Gefährt bedeutete: Welcher Sinn war wohl in jenen Worten enthalten? Der Mann war ein Chinese und kein Italiener, wie kam es, dass er italienische Worte hervorgebracht hatte? Wenn er tatsächlich der Diener von Mr Ingles gewesen wäre, dann hätte er doch englisch sprechen können. Die ganze Sache erschien mir in höchstem Grade geheimnisvoll. Auf meinem Heimweg versuchte ich die ganze Zeit über, zu einer plausiblen Erklärung zu gelangen. Ach, wenn doch Poirot hätte bei mir sein können. Er mit seiner Genialität wäre bestimmt in der Lage gewesen, das Problem zu lösen.

Ganz mit meinen Gedanken beschäftigt, öffnete ich die Haustür und stieg langsam zu meiner Wohnung empor. Auf dem Tisch lag ein Brief, ich riss ihn achtlos auf und erstarrte plötzlich. Es war eine Mitteilung von einem Anwaltsbüro und lautete:


«Sehr geehrter Herr, gemäß den Anweisungen unseres verstorbenen Klienten, Monsieur Hercule Poirot, lassen wir Ihnen den beigefügten Brief zugehen. Dieser Brief gelangte eine Woche vor seinem Tode in unsere Hände mit der Anordnung ihn im Falle seines Ablebens an einem bestimmten Tage an Sie zur Absendung zu bringen. Ihr sehr ergebener…»


Ich wendete den inliegenden Brief zunächst nach allen Seiten, zweifellos stammte er von Poirot, denn ich erkannte sofort seine Handschrift. Schweren Herzens und voller Neugier öffnete ich ihn.


«Mein lieber Freund», begann er, «wenn du dies erhältst, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Weine mir keine Träne nach, sondern befolge das, was ich dir sage. Gleich nach Erhalt dieses Schreibens reise nach Südamerika ab. Sei nicht dickköpfig denn meine Bitte entspringt keinesfalls sentimentalen Regungen. Deine Abreise ist unbedingt notwendig und gehört mit zu den Plänen von Hercule Poirot! Mehr zu sagen halte ich nicht für notwendig zumal mein Freund Hastings über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügt. Mit dem Rufe: ‹Nieder mit den Großen Vier› begrüße ich dich, mein Freund, aus dem Jenseits. Immer der deine

Hercule Poirot.»


Immer und immer wieder studierte ich diese merkwürdige Mitteilung. Eines stand fest: Dieser bewundernswerte Mann hatte jede Eventualität im Voraus in seine Rechnung einbezogen, so dass nicht einmal der Tod den Lauf der Dinge aufhalten konnte. Mir sollte die Initiative überlassen bleiben, während er der leitende Genius blieb. Zweifellos würden in Übersee ausführliche Instruktionen auf mich warten. In der Zwischenzeit würden meine Widersacher, in der Überzeugung, ich wäre ihrer Warnung gefolgt und hätte resigniert, keinen Grund mehr haben, sich die Köpfe zu zerbrechen. Ohne Verdacht zu erregen, könnte ich abreisen und würde doch weiterhin in der Lage sein, ihre Pläne zu durchkreuzen.

Gerade als das Schiff vom Kai ablegte, brachte mir der Steward einen Brief und erklärte mir, ein großer Herr im Pelzmantel, der das Schiff kurz vor dem Einschwenken des Fallreeps verlassen habe, hätte ihn gebeten, mir den Brief zu übergeben. Ich öffnete das Kuvert, die Zeilen waren kurz und vielsagend:

«Diesmal hat bei Ihnen die Klugheit gesiegt», lautete die Nachricht und war unterzeichnet mit «4».

Ich konnte mich nicht enthalten, still in mich hineinzulächeln. Die See war mäßig bewegt, und nachdem ich ein umfangreiches Dinner zu mir genommen hatte, entschloss ich mich, wie die Mehrzahl der Passagiere, an einer Bridgepartie teilzunehmen. In den späten Nachtstunden begab ich mich in meine Kabine und schlief wie ein Holzklotz. Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht mehr. Ich erwachte mit dem unbestimmten Gefühl, dass mich jemand ständig schüttelte. Schlaftrunken und noch völlig benommen erblickte ich vor mir einen Schiffsoffizier, der sich über mich beugte. Als ich mich aufsetzte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus.

«Dem Himmel sei Dank, dass ich Sie noch einmal zum Leben erwecken konnte. Es hat schier endlos gedauert, schlafen Sie immer so fest?»

«Was ist denn los?», fragte ich, noch völlig durcheinander und im Halbschlaf. «Ist etwas mit dem Schiff nicht in Ordnung?»

«Ich nehme an, Sie wissen besser Bescheid als ich», antwortete er trocken. «Wir haben besondere Anweisungen von der Admiralität. Ein Zerstörer ist längsseits gekommen, um Sie an Bord zu nehmen.»

«Ja, wie…», rief ich aus, «mitten auf See?»

«Uns allen erschien es gleichfalls als eine sehr mysteriöse Angelegenheit, jedoch ist das nicht unsere Sache. Wir übernehmen an Ihrer Stelle einen anderen Herrn, den der Zerstörer mitgebracht hat, alle Beteiligten wurden verpflichtet, strengstes Stillschweigen zu bewahren. Wollen Sie nun bitte aufstehen und sich ankleiden.»

Unfähig, meine Verwunderung zu verbergen, folgte ich seinen Anweisungen. Ein Boot wurde zu Wasser gelassen, um mich an Bord des Zerstörers zu bringen. Dort wurde ich höflich begrüßt, erhielt jedoch keine weiteren Erklärungen. Des Kapitäns Instruktionen lauteten, mich an einem bestimmten Punkt der belgischen Küste an Land zu setzen, dort würde sein Auftrag und seine Verantwortlichkeit enden. Die ganze Sache erschien wie ein Traum. Feststehend war, dass alles nach Poirots ausgearbeiteten Plänen durchgeführt wurde. Ich hatte nur blindlings zu folgen, im Vertrauen auf meinen toten Freund. Auftragsgemäß wurde ich an der vereinbarten Stelle gelandet, wo ein Wagen auf mich wartete und mich in rascher Fahrt durch das flämische Flachland brachte. Die folgende Nacht verbrachte ich in einem kleinen Hotel in Brüssel. Am nächsten Tag wurde die Reise fortgesetzt, die Landschaft nahm einen bewaldeten und hügeligen Charakter an. Ich befand mich anscheinend in den Ardennen, und plötzlich kam mir der Gedanke an Poirots Bruder, der in der Nähe von Spa wohnen sollte.

Aber waren wir denn wirklich auf dem Wege nach Spa? Wir verließen die Hauptverkehrsstraße und schlängelten uns durch hügeligen Laubwald, bis wir einen kleinen Fahrweg erreichten, wo hoch am Hügel eine einsame weiße Villa sichtbar wurde.

Der Wagen hielt vor dem grünen Tor zur Villa. Die Tür öffnete sich, als ich ausstieg. Ein älterer Diener stand im Hauseingang und verbeugte sich.

«Monsieur le capitaine Hastings?», fragte er in französischer Sprache. «Monsieur le capitaine werden bereits erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen wollen!»

Er führte mich durch die Empfangshalle hindurch und öffnete eine Tür im Hintergrund, indem er beiseite trat, um mich eintreten zu lassen. Ich war ganz geblendet, denn der Raum lag nach Westen zu und war erfüllt von einer grellen Nachmittagssonne. Nachdem ich mich an die Helle gewöhnt hatte, sah ich eine Gestalt, die mir mit ausgebreiteten Armen entgegenkam. Es war… oh, konnte es denn möglich sein… aber es konnte gar kein anderer sein!

«Poirot!», rief ich und machte vor Freude keinerlei Anstalten, mich aus seiner Umklammerung zu lösen.

«Natürlich, ja doch, ich bin es wirklich. Es ist doch nicht so einfach, Hercule Poirot um die Ecke zu bringen.»

«Aber, Poirot – erkläre mir doch, wie soll ich das alles verstehen?»

«Eine Kriegslist, mein Freund – nichts als eine Kriegslist. Alles ist jetzt bereit für unseren großen Coup.»

«Aber mich hättest du doch wenigstens in deine Pläne einweihen können.»

«Non, Hastings, das war nicht möglich. Nie, niemals, nicht in tausend Jahren wärest du fähig gewesen, deine Rolle beim Begräbnis zu spielen. So wie die Sache vor sich ging, so und nicht anders musste es sein. Ich durfte nichts riskieren, wenn ich die Großen Vier täuschen wollte.»

«Aber denkst du denn nicht daran, was ich habe durchmachen müssen?»

«Glaube nur nicht, dass ich das nicht voll erkannt habe. Teilweise führte ich diese Täuschung auch in deinem Interesse durch. Zwar war ich in diesem Kampfe bereit, mein Leben einzusetzen, aber auf die Dauer konnte ich es nicht verantworten, auch das deine zu riskieren. Gleich nach der Explosion in unserer Wohnung hatte ich einen brillanten Einfall, und der gute Ridgeway verhalf mir dazu, ihn zur Ausführung zu bringen. Ich war dem Anschlag zum Opfer gefallen, und du solltest nach Südamerika zurückkehren. Jedoch, mon ami, das war es ja gerade, wogegen du dich stets sträubtest. Endlich kam ich auf den Gedanken, nach meinem vermeintlichen Tode durch meinen Anwalt mit dir in Verbindung zu treten, und war gezwungen, dir ein furchtbar sentimentales Geschwätz vorzumachen, um dich zu bekehren. Aber – nun bist du ja Gott sei Dank hier bei mir – und das ist großartig. Jetzt machen wir es uns hier recht bequem, bis der Augenblick für den großen Coup gekommen ist – und damit die endgültige Vernichtung der Großen Vier.»

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