17

Von unserem idyllischen Zufluchtsort in den Ardennen aus beobachteten wir die Vorgänge in der großen Welt. Zeitungen waren reichlich vorhanden, und jeden Tag empfing Poirot einen umfangreichen Brief, der wahrscheinlich irgendwelche Berichte enthielt. Zwar bekam ich diese nie zu Gesicht, jedoch aus seinem Mienenspiel konnte ich meistens entnehmen, ob dessen Inhalt zufriedenstellend war oder nicht.

Unerschütterlich hielt er an dem Glauben fest, dass nur sein jetziger Plan Aussicht auf Erfolg habe.

«Es war wirklich ein unerträglicher Zustand, lieber Hastings», bemerkte er eines Tages, «ständig in Angst um dein Leben zu sein, ich war nervös wie eine Katze, die auf dem Sprung liegt, wie du immer zu sagen pflegst. Gottlob bin ich diese Sorge jetzt los. Selbst wenn man entdecken sollte, dass der Mann, welcher in Buenos Aires an Land geht, nicht Hauptmann Hastings ist – dabei bezweifle ich, dass dort Agenten der Großen Vier verfügbar sind, die dich persönlich kennen –, wird man annehmen, dass du ihren Anordnungen auf deine Art ausgewichen bist, und wohl auch nicht weiter nachforschen nach deinem Verbleib. Von der für sie wesentlichen Tatsache meines Todes sind sie auf jeden Fall fest überzeugt, und so werden sie nicht aufhören, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.»

«Und was wird dann geschehen?», fragte ich neugierig.

«Dann, mon ami, kommt die sensationelle Wiederauferstehung von Hercule Poirot. Fünf Minuten vor zwölf Uhr erscheine ich dann wieder, werfe alle ihre bisherigen Pläne über den Haufen und erziele einen durchschlagenden Erfolg, wie nur ich ihn erreichen kann.»

Ich wusste, dass Poirots Selbstbewusstsein durchaus am Platz war und dass er sämtliche Eventualitäten in seine Rechnung einbezogen hatte. Obgleich ich bereits im Voraus wusste, dass meine Ratschläge zwecklos waren und Poirot niemals in seinem Vorhaben hindern konnten, wies ich ihn darauf hin, dass unsere Gegner uns bereits verschiedene Male mit der Durchführung ihrer Pläne überrascht hatten.

«Schau her, Hastings, ich erinnere mich an ein kleines Kartenkunststück, das du bestimmt selbst schon gesehen hast. Du nimmst die vier Buben und verteilst sie, einen oberhalb des Blattes, einen unterhalb, die beiden anderen beliebig dazwischen – dann mischst du wieder die Karten… und plötzlich sind alle Buben beieinander. Genau dasselbe mache ich. In meinem bisherigen Kampf hatte ich einmal den einen, ein andermal den anderen der Großen Vier zum Gegner. Aber erwische ich sie einmal zusammen, dann bringe ich sie zur Strecke, und zwar mit einem Schlage – wie die Buben bei dem Kartenkunststück.»

«Und wie willst du es anstellen, sie alle zusammen zu erwischen?», fragte ich.

«Indem ich dazu den geeigneten Moment abwarte und mich so lange auf die Lauer lege, bis sie zum Schlage ausholen.»

«Das kann aber unter Umständen noch ziemlich lange dauern», wandte ich ein.

«Er ist immer noch so ungeduldig, der gute Hastings! Aber so sehr lange wird es nicht mehr dauern, denn der Mann, welchen sie am meisten fürchteten – nämlich ich selbst –, steht ihnen nicht mehr im Wege. Im Höchstfalle rechne ich mit zwei bis drei Monaten.»

Seine Worte, er stände den Großen Vier nicht mehr im Wege, erinnerten mich an Mr Ingles und seinen tragischen Tod, dabei fiel mir ein, dass ich Poirot noch gar nicht von dem sterbenden Chinesen im St.-Giles-Hospital erzählt hatte.

Er hörte mit wachsender Aufmerksamkeit zu.

«Also war es wirklich ein Diener von Mr Ingles, und die wenigen verständlichen Worte waren in italienischer Sprache? Merkwürdig!»

«Ich war ständig im guten Glauben, die Großen Vier hätten auch hier wieder ihre Hände im Spiel.»

«Deine Erwägungen sind nicht richtig, lieber Hastings, strenge doch einmal deine kleinen grauen Zellen ein wenig an. Wenn deine Widersacher bestrebt waren, dir eine Falle zu stellen, so würden sie mit Sicherheit einen Chinesen gewählt haben, der sich im Pidgin-Englisch verständlich machen konnte. Aber mit dem, was dieser Chinese sagen wollte, muss es schon seine Richtigkeit haben. Erzähle deshalb noch mal, was du glaubst vernommen zu haben.»

«Zuallererst glaubte ich, dass seine Worte mit Händels ‹Largo› in Zusammenhang stünden, dann sagte er etwas, das so ähnlich wie Carrozza klang – das ist doch ein kleiner Wagen, nicht wahr?»

«Und sonst noch etwas?»

«Well, dann murmelte er noch zum Schluss so etwas Ähnliches wie Cava und Zia, vielleicht irgendeinen Frauennamen, aber ich glaube nicht, dass dies irgendwie von Bedeutung war.»

«Da täuschst du dich aber sehr, mein lieber Hastings, das Letztere ist sogar sehr wichtig, ja von immenser Wichtigkeit!»

«Ich kann mir leider nichts dabei denken.»

«Mein treuer Freund, du hältst alles für unwichtig – und darüber hinaus hast du wie alle Engländer keine Ahnung von Geografie.»

«Geografie?», wiederholte ich. «Was hat denn das damit zu tun?»

«Ich gehe nicht fehl in der Annahme, dass Thomas Cook uns darüber erschöpfend Auskunft geben kann.»

Wie gewöhnlich hüllte sich Poirot weiterhin in Schweigen – eine seiner aufreizendsten Eigenarten. Es entging mir auch nicht, dass er einen sehr selbstzufriedenen Eindruck machte, wie wenn er einen besonderen Grund dazu hätte.

Ein Tag wie der andere verging, erfüllt von angenehmem Nichtstun, doch auf die Dauer zu eintönig. Eine große Hausbibliothek stand uns zur Verfügung, auch unternahmen wir recht schöne Spaziergänge in die Umgebung, doch manchmal war ich sehr ungeduldig über die erzwungene Untätigkeit und wunderte mich über Poirots scheinbare Gleichgültigkeit. Nichts ereignete sich, unser beschauliches Dasein zu stören, und erst Ende Juni hörten wir wieder von den Großen Vier.

Eines Morgens fuhr ein Wagen bei der Villa vor, ein so ungewöhnliches Ereignis in unserem friedlichen Dasein, dass ich eilends hinunterlief, um meine Neugier zu befriedigen.

Ich fand Poirot bereits im Gespräch mit einem gut aussehenden Herrn etwa in meinem Alter. Er wurde mir sofort vorgestellt.

«Dies ist Hauptmann Harvey, mein lieber Hastings, eines der berühmtesten Mitglieder des englischen Geheimdienstes.»

«Nach meiner Auffassung durchaus nicht berühmt», sagte der Herr mit vergnügtem Lächeln. «Nur bei den Leuten meiner näheren Umgebung bekannt, würde ich eher sagen.»

«Die meisten von Hauptmann Harveys Bekannten und Freunden», erwiderte Poirot, «halten ihn zwar für einen sehr liebenswürdigen Menschen, jedoch ohne viel Verstand und ganz und gar vernarrt in den Foxtrott oder wie dieser Tanz heißt.»

Wir beide mussten zu Poirots drolligen Feststellungen lachen.

«Nun zum Geschäft», sagte Poirot. «Sie sind also der Meinung, dass unsere Zeit gekommen ist?»

«Dessen sind wir so gut wie sicher, Sir. China ist seit gestern von der übrigen Welt so gut wie abgeschnitten, und was dort vor sich geht, weiß niemand. Vollkommene Nachrichtensperre, weder drahtlose noch Kabelmeldungen kommen durch – großes Schweigen!»

«Li Chang Yen hat seine Macht gezeigt, und was machen die anderen?»

«Abe Ryland kam vor einer Woche in England an und reiste gestern zum Kontinent ab.»

«Und Madame Olivier?»

«Madame Olivier hat gestern Abend Paris verlassen.»

«Nach Italien?»

«Ja, nach Italien, Sir; soweit wir feststellen konnten, begeben sie sich zu einer Zusammenkunft, wie Sie bereits vermuteten, aber… wie kamen Sie überhaupt darauf?»

«Ah, das ist durchaus nicht mein Verdienst, sondern das meines guten Freundes Hastings.

Er ist nämlich unheimlich intelligent, nur hält er sich stets im Hintergrund.»

Harvey sah mich mit ehrlicher Bewunderung an, während ich mich höchst unbehaglich fühlte.

«Dann ist also bereits alles im Zuge», bemerkte Poirot, zwar bleich, doch vollkommen gefasst, «so ist denn unsere Zeit gekommen. Sind alle Vorkehrungen getroffen?»

«Alle Ihre Anordnungen sind ausgeführt, die Regierungen von Italien, Frankreich und England stehen gemeinsam hinter Ihnen.»

«Dann hat sich wirklich eine neue Entente gebildet», sagte Poirot trocken. «Ich bin froh, dass Desjardeaux endlich begriffen hat und auch auf unserer Seite steht. Eh bien, dann wollen wir starten – oder vielmehr, ich will starten. Du, mein lieber Hastings, wirst hier bleiben – ja, ich muss diesmal darauf bestehen und meine es wirklich ernst, mein Freund.»

Das glaubte ich ihm zwar, doch war ich keinesfalls damit einverstanden, mich auf diese Weise im Hintergrund halten zu müssen. Unsere diesbezügliche Unterredung war daher kurz und bestimmt.

Erst als wir uns im Schnellzug nach Paris befanden, gestand er mir, dass er innerlich froh über meine Entscheidung sei.

«Du hast nämlich eine Rolle zu spielen, Hastings, eine ungeheuer wichtige! Ohne dich könnte die Aktion fehlschlagen, nichtsdestoweniger hielt ich es für meine Pflicht, dich zum Zurückbleiben aufzufordern.»

«So wird es also ein gefährliches Unternehmen?»

«Mon ami, wo die Großen Vier ihre Hand im Spiele haben, ist es immer ernst.»

Bei der Ankunft in Paris fuhren wir sogleich zu der Gare de l’Est, wo Poirot schließlich unseren Bestimmungsort bekannt gab. Wir befanden uns auf dem Wege nach Bozen in Südtirol. Während Harvey sich einmal kurz entfernte, nahm ich die Gelegenheit wahr, Poirot zu fragen, wie er dazu käme, den Ort der Zusammenkunft der Großen Vier als meine Entdeckung hinzustellen.

«Weil es nun einmal den Tatsachen entspricht, mein Freund. Wie Mr Ingles zu diesen Informationen gelangte, weiß ich nicht, aber er hatte davon Kenntnis und hatte seinen Diener beauftragt, uns davon Mitteilung zu machen. Wir befinden uns auf dem Wege zum Karersee, mon ami, der die neue italienische Bezeichnung Lago di Carrezza hat. Du siehst jetzt, wie deine Angaben mit Largo, Cara Zia und auch Carrozza ihre Erklärung finden – das Wort Händel hat jedoch nur in deiner Einbildung bestanden. Möglicherweise hat diese Information, da sie aus der ‹Hand› unseres Freundes Ingles stammte, zu dieser Ideenverbindung beigetragen.»

«Karersee…», murmelte ich, «habe noch nie davon gehört.»

«Das ist es ja gerade, was ich stets behaupte, die Engländer haben nun einmal keine Ahnung von Geografie. Aber auf jeden Fall ist Karersee allgemein bekannt als schöner Sommeraufenthalt, tausenddreihundert Meter hoch gelegen, im Herzen der Dolomiten.»

«Und in diesem weltentlegenen Winkel soll das Rendezvous der Großen Vier stattfinden?»

«Sagen wir lieber, hier haben sie ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Sie haben das Startsignal erhalten, und nun ist es ihre Absicht, aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, um aus der Weltabgeschiedenheit der Berge ihre Befehle zu erteilen. Ich habe bereits meine Nachforschungen angestellt – es werden dort umfangreiche Sprengungen und Steinbrucharbeiten durchgeführt; die Firma, anscheinend eine italienische, steht in Wirklichkeit unter der Regie von Abe Ryland. Ich möchte sogar behaupten, dass bereits umfangreiche unterirdische Gänge in den Bergen entstanden sind, geheim und schwer zugänglich. Von dort werden die Leiter der Organisation drahtlos ihre Befehle an ihre Agenten ergehen lassen, die zahlenmäßig zu Tausenden in jedem Lande verfügbar sind. Und von jener Felsenspitze aus, inmitten der Dolomiten, werden die neuen Diktatoren der Welt ihre Macht ergreifen. Besser gesagt, sie beabsichtigen dies, doch haben sie nicht mit Hercule Poirot gerechnet!»

«Glaubst du wirklich im Ernst an all dies, Poirot? Hast du dabei nicht daran gedacht, dass der Zivilisation ganz andere Möglichkeiten durch ihre großen Armeen und die Fortschritte der Technik zur Verfügung stehen, um sich zu wehren?»

«Wie ist es denn in Russland gewesen, mein lieber Hastings? Dies soll ein Russland von weit größeren Ausmaßen sein – und dazu kommt noch die drohende Gewissheit, dass Madame Oliviers Versuche bereits weiter vorgeschritten sind, als die Öffentlichkeit jemals annehmen kann. Ich bin sogar beinahe sicher, dass sie in gewissem Umfang Erfolg hatte, atomare Kräfte freizumachen und sie für ihre Zwecke auszunutzen. Ihre Experimente mit dem Nitrogen der Luft waren sehr bemerkenswert, und ferner hat sie Versuche gemacht bezüglich der drahtlosen Konzentration von Energie, so dass Strahlen von unwahrscheinlicher Intensität auf einen von ihr vorher bestimmten Punkt gerichtet werden können. Genaue Anhaltspunkte, wie weit ihre Forschungen gediehen sind, hat niemand, aber ihre Erfolge sind weitaus größer, als allgemein angenommen wird. Sie ist ein Genie, diese Frau – sie hat sogar die Curies in den Schatten gestellt. Rechnet man dazu die Macht von Rylands beinahe unbeschränkten Geldmitteln und als Krönung des Ganzen zur Leitung der Operationen den Kopf von Li Chang Yen und den ausgeklügeltsten kriminellen Charakter, der je existierte – eh bien, dann hat dies nichts mehr mit Zivilisation zu tun.»

Seine Worte hatten mich sehr nachdenklich gestimmt. Obgleich Poirot in seinen Darstellungen gelegentlich zu Übertreibungen neigte, so war er niemals ein Bangemacher gewesen. Zum ersten Male war ich mir wirklich ernstlich bewusst, in welch verzweifeltem Kampf wir uns befanden.

Harvey gesellte sich bald wieder zu uns, und wir ließen unser Gesprächsthema fallen.

Etwa um die Mittagszeit erreichten wir Bozen und setzten von dort die Fahrt im Autobus fort.

Mehrere große Straßenkreuzer standen auf dem Parkplatz im Zentrum der Stadt, einer davon war für uns bestimmt. Poirot, ungeachtet der Hitze des Tages, hatte sich mit einem grauen Reisemantel und Wollschal fast ganz unsichtbar gemacht, seine Augen und Ohrenspitzen waren alles, was von ihm sichtbar blieb. Ich war im Zweifel, ob diese Vermummung nur auf das Konto seiner übertriebenen Furcht vor Erkältungen zu setzen war. Die Wagenfahrt dauerte einige Stunden und war wirklich wundervoll. Zuerst führte uns der Weg an riesenhaften Felsgebilden und einem brausenden Wasserfall vorbei. Dann durchfuhren wir ein fruchtbares Tal, welches sich einige Meilen erstreckte, und weiter ging es in vielen Kurven aufwärts, bis die kahlen, felsigen Bergspitzen sich aus dicht bewachsenen Tannenwäldern erhoben. Die ganze Landschaft war wildromantisch. Schließlich erreichten wir nach einer Reihe von Haarnadelkurven eine gerade Straße, beiderseits von Tannenwald gesäumt, und hielten vor einem großen Hotel. Wir befanden uns am Ziel unserer Reise.

Die Zimmer für uns waren reserviert, und unter Harveys Führung nahmen wir Besitz von unserem neuen Quartier. Hier bot sich uns ein freier Ausblick auf die Felsspitzen und die steilen, mit Tannen bewachsenen Abhänge. Poirot wies mit einer Handbewegung auf sie hin.

«Ist es dort?», fragte er mit leiser Stimme.

«Ja», antwortete Harvey, «das ist der Ort, der als Felsenlabyrinth bezeichnet wird – er ist umgeben von gigantischem Felsgeröll, das einen ganz fantastischen Eindruck macht, nur ein schmaler Pfad windet sich hindurch. Der Steinbruch befindet sich rechts davon, und wir nehmen an, dass sich der Eingang im Felsenlabyrinth selbst befindet.»

Poirot nickte zustimmend.

«Komm, mon ami», sagte er zu mir, «lass uns hinuntergehen und uns auf der Terrasse an der schönen Sonne wärmen.»

«Hältst du das nicht für etwas gewagt?», fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern.

Die Sonnenbestrahlung war überwältigend, beinahe schon zu stark für mich. Wir tranken anstatt Tee etwas Kaffee mit Sahne und zogen uns dann wieder auf unsere Zimmer zurück, um die Koffer auszupacken. Poirot befand sich wieder in seiner fast unnahbaren Verfassung und war ganz in Gedanken versunken. Einige Male schüttelte er stumm den Kopf und seufzte. Ich selbst fühlte mich ziemlich beunruhigt durch einen Mann, der in Bozen aus dem gleichen Zuge ausgestiegen und von einem Privatwagen abgeholt worden war. Es war ein kleiner Mann; er erregte meine Aufmerksamkeit dadurch, dass er sich in der gleichen Weise wie Poirot eingehüllt hatte. Außer Reisemantel und Halstuch trug er noch eine unförmige blaue Brille. Ich war beinahe überzeugt davon, dass wir in der Person dieses Mannes einen Agenten der Großen Vier vor uns hatten. Poirot schien zuerst keinen allzu großen Wert auf meine Wahrnehmungen zu legen, doch als ich mich aus dem Schlafzimmerfenster hinauslehnte und ihm mitteilte, dass der Betreffende sich in der Umgebung des Hotels zu schaffen machte, gab er zu, dass doch etwas Wahres daran sein mochte. Ich bat meinen Freund dringend, nicht am gemeinsamen Essen teilzunehmen, doch ließ er meine Einwände nicht gelten. Ziemlich spät betraten wir am Abend den Speisesaal und wurden zu einem Tisch in der Nähe des Fensters geleitet. Als wir uns gerade niederließen, wurde unsere Aufmerksamkeit auf einen erschreckten Ausruf und den Lärm herunterfallenden Porzellans gelenkt. Eine Schüssel voll Hammelfleischragout nebst Gemüse hatte sich über einen Herrn ergossen, der am Nebentisch saß. Der Oberkellner eilte sofort herbei und erging sich in einer Flut von Entschuldigungen.

Als der Kellner anschließend uns bediente, kam Poirot auf den Vorfall zu sprechen.

«Das war ein für Sie peinlicher Zwischenfall, aber Sie waren dafür nicht verantwortlich zu machen.»

«Haben Monsieur das gesehen? Nein, das war wirklich nicht meine Schuld, der Herr sprang plötzlich halb von seinem Sitz auf, zuerst war ich der Annahme, er wolle sich auf jemand stürzen. Ich konnte dies unmöglich voraussehen.»

Poirots Augen begannen grün zu leuchten, ein Anzeichen, das ich so gut an ihm kannte, und als der Kellner sich entfernt hatte, sagte er mit leiser Stimme zu mir:

«Siehst du, Hastings, das ist die Auswirkung von Hercule Poirots Wiederauferstehung.»

«Glaubst du etwa…?»

Ich hatte keine Zeit mehr, meine Worte zu beenden, denn Poirots Hand berührte mein Knie, und er flüsterte mir erregt zu: «Sieh nur, Hastings, sieh seine Manier, mit dem Brot zu hantieren. Das ist unsere Nummer vier!»

Wahrhaftig, der Mann am Nebentisch war auffallend bleich und tupfte mit einem Stückchen Brot mechanisch auf dem Tischtuch herum. Ich beobachtete ihn eingehend, sein Gesicht, glatt rasiert und aufgedunsen, war von einer teigigen, krankhaft gelblichen Farbe – dicke Säcke lagen unter den Augen, und tiefe Falten, Spuren eines ausschweifenden Lebenswandels, zogen sich von der Nase bis zum Mund. Sein Alter schätzte ich auf vierzig bis fünfzig Jahre. In keiner Weise war er mit einer der Gestalten vergleichbar, die er bisher als Nummer vier gespielt hatte. Wenn es nicht die Angewohnheit, mit dem Brot zu spielen, gewesen wäre – deren er sich gar nicht bewusst war –, hätte ich schwören mögen, dass ich den am Nebentisch sitzenden Mann noch nie gesehen hatte.

«Er muss dich erkannt haben», flüsterte ich, «du hättest dich nicht so öffentlich zeigen sollen.»

«Mein lieber Hastings, einzig und allein zu diesem Zwecke habe ich während der Dauer von drei Monaten meinen Tod vortäuschen müssen!»

«Etwa zu dem Zwecke, unsere Nummer vier in Angst und Schrecken zu versetzen?»

«Nein, sondern um ihn gerade zu diesem Zeitpunkt zu zwingen, voreilig zu handeln und Fehler zu machen. Weiterhin haben wir den großen Vorteil… er weiß nicht, dass er erkannt wurde, und wiegt sich bei diesem Gefühl in Sicherheit. Wie dankbar bin ich Flossie Monro, dass sie uns über diese seine sonderbare Eigenart Mitteilung machte.»

«Was wird jetzt geschehen?», fragte ich.

«Was kann schon passieren? Er erkennt den einzigen Mann, den er fürchtet und der wie durch ein Wunder von den Toten auferstanden ist, und zwar in dem Augenblick, wo die Endpläne der Großen Vier zur Ausführung kommen sollen. Madame Olivier und Abe Ryland haben heute hier ebenfalls gespeist und sind vermutlich nach Cortina gefahren. Nur wir allein haben davon Kenntnis, dass sie hier ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben. Die Frage, die sich Nummer vier in diesem Moment stellt, ist – wie viel uns nun wirklich von den Plänen bekannt ist. Dabei weiß er, dass er kein Risiko eingehen darf. Ich muss beseitigt werden, koste es, was es wolle. Eh bien, er soll getrost den Versuch unternehmen, mich aus dem Wege zu schaffen. Ich werde mich zu wehren wissen!»

Als er zu Ende gesprochen hatte, stand der Herr vom Nebentisch auf und verließ den Raum.

«Jetzt ist er gegangen, um seine diesbezüglichen Vorkehrungen zu treffen», bemerkte Poirot ruhig. «Wollen wir unseren Kaffee auf der Terrasse trinken, mein Freund? Ich denke, es sitzt sich dort besser, ich will nur auf mein Zimmer gehen, um mir meinen Mantel zu holen.» – Ich ging hinaus auf die Terrasse und war innerlich stark beunruhigt. Poirots Ausführungen hatten nicht meine Zustimmung gefunden. Immerhin konnte uns nichts geschehen, solange wir die Augen offen hielten. Ich beschloss, dies nicht zu unterlassen.

Es vergingen ungefähr fünf Minuten, bis Poirot wieder erschien; unter Wahrung seiner bekannten Vorsichtsmaßnahmen gegen Erkältung war er bis an die Ohren zugeknöpft. An meiner Seite Platz nehmend, trank er genießerisch seinen Kaffee. «Nur in England trinkt man einen unmöglichen Kaffee», bemerkte er, «auf dem Kontinent dagegen hat man längst begriffen, wie wichtig seine Zubereitung für die Gesundheit ist.»

Als er geendet hatte, erschien unvermutet der Mann vom Nebentisch auf der Terrasse. Ohne zu zögern, näherte er sich unserem Tisch und zog einen Stuhl für sich heran.

«Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen geselle», sagte er in englischer Sprache.

«Nicht im Geringsten, Monsieur», erwiderte Poirot.

Ich fühlte mich höchst unbehaglich. Wir befanden uns zwar auf einer Hotelterrasse, von zahlreichen Gästen umgeben, aber trotzdem erfüllte mich Unruhe, denn ich fühlte instinktiv die Nähe der Gefahr.

Inzwischen plauderte Nummer vier in völlig unbefangenem Ton, man konnte ihn unmöglich für etwas anderes als einen gänzlich harmlosen Touristen halten. Er beschrieb uns Spaziergänge, Autoausflüge und zeigte, dass er mit der Umgebung durchaus vertraut war. Dann zog er seine Tabakspfeife aus der Tasche und begann diese umständlich zu stopfen und dann anzuzünden. Poirot zog gleichfalls sein kleines Zigarettenetui hervor. Als er eine Zigarette zwischen die Lippen nahm, beugte sich der Fremde mit einem Zündholz herüber.

«Darf ich Ihnen behilflich sein?»

In diesem Moment setzte unvermutet die Beleuchtung aus. Ein Zerbrechen von Glas wurde hörbar, und etwas wurde unter meine Nase gehalten, das mich fast zum Ersticken brachte.

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