Nach dem tragischen Tode von Miss Flossie Monro begann ich an Poirot eine merkliche Veränderung wahrzunehmen. Während er bis dahin unerschütterliches Selbstvertrauen gezeigt hatte, schien die ständige Spannung langsam Spuren bei ihm zu hinterlassen. Sein Benehmen war ernst und nachdenklich, und seine Nerven schienen dem Zerreißen nahe. Seit einigen Tagen benahm er sich wie eine Katze auf der Lauer. So weit wie irgend möglich vermied er alle Diskussionen über die Großen Vier und schien sogar sein Interesse an den Dingen des Alltags zurückzugewinnen. Trotzdem wusste ich genau, dass er sich insgeheim mit seinem großen Problem befasste. Fremdartig aussehende Leute, vermutlich Slawen, gingen bei ihm ein und aus, und obgleich er keinerlei Erklärung über ihre Anwesenheit abgab, konnte ich doch annehmen, dass er mit Hilfe dieser etwas zweifelhaft aussehenden Fremden einen neuen Angriff vorbereitete. Als er mich einmal gelegentlich bat, eine Banküberweisung in seinem Scheckbuch zu bestätigen, bemerkte ich die Anweisung einer sogar für Poirots verhältnismäßig hohes Einkommen beträchtlichen Summe – an einen Russen mit einem schier unaussprechlichen Namen. Jedoch gab er mir nicht die geringste Erklärung, zu welchem Verwendungszweck diese hohe Summe gedacht war. Wieder und immer wieder betonte er seinen Grundsatz: «Der größte Fehler besteht darin, seinen Gegner zu unterschätzen, denke stets daran, mon ami!»
Und ich stellte fest, dass er mit allen Kräften bemüht war, danach zu handeln.
So verstrich die Zeit im täglichen Einerlei bis gegen Ende März; dann, eines Morgens, machte Poirot eine Bemerkung, die mich in beträchtliches Staunen versetzte:
«Heute Morgen würde ich dir empfehlen, mein Freund, deinen besten Anzug anzuziehen, denn wir machen einen Besuch beim Staatssekretär.»
«Das ist allerdings sehr interessant, hat er dich etwa gebeten, einen neuen Fall zu übernehmen?»
«Nicht ganz, die Rücksprache findet auf mein Betreiben hin statt. Du wirst dich wohl noch an meine Bemerkung erinnern, dass ich ihm einmal einen kleinen Dienst erwiesen habe? Seither neigt er dazu, meine Fähigkeiten beträchtlich zu überschätzen; und nun stehe ich im Begriffe, einmal seine Hilfe für mich in Anspruch zu nehmen. Wie dir ferner bekannt sein dürfte, weilt der französische Premierminister Monsieur Desjardeaux zur Zeit in London, und auf meine Anregung hat der Staatssekretär seine Anwesenheit bei der heutigen Rücksprache angeregt.»
Mr Sydney Crowther, Seiner Majestät Staatssekretär für Innere Angelegenheiten, war eine bekannte und sehr beliebte Persönlichkeit. Ein Mann in den Fünfzigerjahren, mit etwas spöttischem Mienenspiel und scharf blickenden grauen Augen, empfing uns mit der Herzlichkeit, die man allgemein an ihm kannte. Mit dem Rücken zum Kamin stand ein großer, hagerer Herr mit gestutztem schwarzem Bart und ausdrucksvollen Gesichtszügen.
«Monsieur Desjardeaux», sagte Crowther, «erlauben Sie mir, Sie mit Monsieur Hercule Poirot bekannt zu machen, von dem Sie sicher schon gehört haben werden.»
Der Franzose verbeugte sich höflich und reichte Poirot die Hand. «Natürlich habe ich bereits von Monsieur Poirot gehört», sagte er erfreut, «wer hätte das nicht?»
«Sie sind zu liebenswürdig, Monsieur», entgegnete Poirot, sich verbeugend, wobei sich sein Gesicht vor Freude rötete.
«Darf ich mich als alter Freund auch in Erinnerung bringen?», fragte eine leise Stimme, und ein Herr trat aus der Ecke bei einem großen Bücherschrank auf uns zu.
Es war unser alter Bekannter, Mr Ingles.
Poirot schüttelte ihm mit großer Herzlichkeit die Hand.
«Und nun, Monsieur Poirot», sagte Crowther, «stehen wir zu Ihrer Verfügung. Sie sprachen davon, dass Sie uns eine Mitteilung von ganz außerordentlicher Wichtigkeit zu machen hätten.»
«Genauso ist es, Monsieur. Es handelt sich um die Aufdeckung einer einflussreichen Weltorganisation kriminellen Charakters. Sie wird geleitet von vier Personen, die sich selbst die Bezeichnung ‹Die Großen Vier› zugelegt haben. Nummer eins ist ein Chinese mit Namen Li Chang Yen, Nummer zwei ist der amerikanische Multimillionär Abe Ryland, Nummer drei ist eine Französin, und von Nummer vier glaube ich mit Bestimmtheit sagen zu können, dass es ein obskurer englischer Schauspieler namens Claude Darrell ist. Diese vier haben sich zu einer Bande vereinigt, um die bestehende Weltordnung zu zerstören und sie durch eine Anarchie zu ersetzen mit dem Ziel, als alleinige Diktatoren aufzutreten.»
«Unglaublich», flüsterte der Franzose, «ein Mann wie Ryland in eine solche Angelegenheit verwickelt? Diese Idee erscheint mir fantastisch.»
«Wenn Sie mich bitte anhören wollen, Monsieur, so will ich Ihnen einiges von den Untaten der Großen Vier zur Kenntnis bringen.»
Es war eine bewundernswerte Schilderung, die Poirot gab. So geläufig sie mir auch in allen Einzelheiten war, fesselte sie mich wieder aufs Neue, als er in nüchterner Form unsere Erlebnisse und deren Ausgang schilderte.
Monsieur Desjardeaux und Mr Crowther wechselten einen Blick, als Poirot zu Ende erzählt hatte.
«Ja, Monsieur Desjardeaux, ich denke, wir müssen uns mit der Existenz der Großen Vier abfinden. Scotland Yard neigte zuerst dazu, der Angelegenheit sehr skeptisch gegenüberzustehen, jedoch hat man zugegeben, dass viele von Poirots Anklagen zu Recht bestehen. Es bleibt die Frage offen bezüglich des Ausmaßes ihrer Bestrebungen. Ich muss leider gestehen, dass Monsieur Poirot – hm – da ein wenig zu übertreiben scheint.»
Zur Festigung seiner Behauptungen brachte Poirot zehn weitere untrügliche Beweise. Ich bin ersucht worden, diese im Einzelnen nicht bekannt zu geben, und so halte ich auch damit zurück; nur so viel sei davon erwähnt, dass es sich um eine Kette von außergewöhnlichen Vorfällen in der englischen Flotte innerhalb eines scharf begrenzten Zeitraumes sowie um eine Serie von Flugzeugunfällen und unerklärlichen Notlandungen handelte. Nach Poirots Behauptung waren sie alle auf das Konto der Großen Vier zu setzen, und alle Anzeichen sprachen dafür, dass diese sich im Besitze von Aufsehen erregenden wissenschaftlichen Geheimnissen befinden mussten, die der Welt in diesem Umfange noch nicht zugänglich waren. Diese Erklärungen führten den Premierminister zu der Frage, die ich seit langem erwartet hatte.
«Sie sagten vorher, das dritte Glied dieser Organisation sei eine Französin? Haben Sie eine Ahnung über ihre Identität?»
«Es ist ein weithin bekannter Name, Monsieur, ein sehr berühmter Name. Nummer drei ist niemand Geringerer – als die berühmte Madame Olivier.»
Bei der Erwähnung der weltbekannten Wissenschaftlerin und Nachfolgerin von Madame Curie schien Monsieur Desjardeaux buchstäblich vom Stuhl zu fallen, sein Antlitz war rot vor Erregung. «Madame Olivier! Unmöglich! Absurd! Was Sie da behaupten, ist geradezu eine Verleumdung.»
Poirot schüttelte langsam den Kopf, enthielt sich jedoch einer weiteren Äußerung.
Desjardeaux betrachtete ihn einen Moment völlig verwirrt. Dann hellte sich sein Gesicht auf, er sah den Staatssekretär an und deutete vielsagend an die Stirn.
«Monsieur Poirot ist zweifelsohne ein sehr bedeutender Mann», bemerkte er, «aber auch solch ein bedeutender Mann kann manchmal an Wahnvorstellungen leiden und sucht in seiner Einbildung selbst bei hochgestellten Persönlichkeiten nach Verrätern; so was kommt vor. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht, Mr Crowther?»
Der Staatssekretär blieb ihm die Antwort hierauf schuldig. Dann sprach er langsam und mit Überzeugung.
«Bei meiner Seele, ich kann Ihnen darauf nichts entgegnen», sagte er schließlich, «ich hatte stets und habe auch jetzt noch ein unerschütterliches Vertrauen zu Monsieur Poirot, aber nun – es klingt trotzdem zu unglaublich.»
«Was diesen Li Chang Yen betrifft», fuhr Monsieur Desjardeaux fort, «wer hat jemals etwas über ihn gehört?»
«Ich», ließ sich unerwartet die Stimme von Mr Ingles vernehmen.
Der Franzose starrte ihn an, während Mr Ingles das Gleiche tat und dabei einer chinesischen Götzenfigur ähnlich sah.
«Mr Ingles», erklärte der Staatssekretär, «ist unsere größte Kapazität in allen Fragen, die den Fernen Osten betreffen.»
«Und Sie haben bereits von diesem Li Chang Yen gehört?»
«Bis zu dem Zeitpunkt, da Monsieur Poirot mich aufsuchte, war ich der Meinung, dass ich der einzige Mensch in England sei, der etwas über ihn weiß. Sie müssen es als feststehende Tatsache hinnehmen, Monsieur Desjardeaux: es gibt heute in China nur einen einzigen Mann, der tonangebend ist – und das ist Li Chang Yen. Vielleicht, ich betone: vielleicht ist er gegenwärtig der klügste Kopf, den es gibt.»
Monsieur Desjardeaux saß wie versteinert da, erlangte jedoch bald seine Fassung wieder.
«Es mag etwas Wahres an dem sein, was Sie berichten, Monsieur Poirot», sagte er kühl, «aber hinsichtlich Madame Olivier sind Sie sicherlich im Irrtum. Sie ist eine wahre Tochter Frankreichs und widmet sich einzig und allein ihrer Wissenschaft.»
Poirot zuckte mit den Achseln und antwortete nicht.
Nach einer angemessenen Pause erhob sich mein Freund mit einer Würde, die nicht recht zu seiner rundlichen Gestalt passen wollte.
«Das wäre alles, was ich zu sagen hätte, meine Herren; ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Ich habe damit gerechnet, dass man mir keinen Glauben schenkt, jedoch werden Sie immerhin auf der Hut sein. Meine Worte werden nicht ungehört verhallen, und jedes neue Ereignis, das in Erscheinung tritt, wird Sie eines Besseren belehren. Es war notwendig, dass ich Ihnen meine Erklärungen jetzt gab – später werde ich vielleicht nicht mehr dazu in der Lage sein.»
«Meinen Sie damit…?», entgegnete Crowther, selbst beeindruckt von dem Ernst in Poirots Ton.
«Es ist meine feste Überzeugung, Monsieur, dass mein Leben kaum mehr einen Penny wert ist, nachdem ich die Identität von Nummer vier festgestellt habe. Er wird mich mit allen Mitteln zu beseitigen suchen – nicht umsonst wird er der ‹Zerstörer› genannt. Meine Herren, für mich scheint unsere Unterredung beendet; Ihnen, Mr Crowther, erlaube ich mir diesen Schlüssel sowie diesen versiegelten Umschlag auszuhändigen. Ich habe alles Wissenswerte über diesen Fall aufgezeichnet und gleichzeitig meine Vorschläge, wie man irgendwelchen Bedrohungen, die eines Tages über die Welt hereinbrechen, begegnen könnte. Alles habe ich sicher in einem Safe deponiert. Im Falle meines Ablebens, Mr Crowther, ermächtige ich Sie, diese Papiere an sich zu nehmen, und stelle Ihnen anheim, zu verfahren, wie Sie es für richtig halten. Und nun, meine Herren, wünsche ich Ihnen einen guten Tag!»
Desjardeaux verbeugte sich nur förmlich, während Crowther aufsprang und seine Hand ausstreckte.
«Sie haben mich bekehrt, Monsieur Poirot. So fantastisch auch alles klingen mag, ich bin völlig von der Wahrheit dessen, was Sie uns erklärt haben, überzeugt.»
Ingles verabschiedete sich gleichzeitig mit uns.
«Ich bin keinesfalls von der Unterredung enttäuscht», bemerkte Poirot, als wir die Straße erreichten. «Ich erwartete gar nicht, Monsieur Desjardeaux überzeugen zu können, aber jedenfalls bin ich beruhigt, dass, im Falle mir etwas zustoßen sollte, ich mein Wissen nicht mit ins Grab zu nehmen brauche. Einen habe ich auf jeden Fall bekehrt. Pas si mal.»
«Ich bin ebenfalls auf Ihrer Seite, wie Sie wissen», sagte Mr Ingles. «Übrigens werde ich nach China abreisen, sobald ich abkommen kann.»
«Ist das ratsam?»
«Nein», sagte Ingles trocken, «aber es ist notwendig, man muss tun, was man kann.»
«Sie sind ein sehr tapferer Mann!», rief Poirot bewegt. «Wenn wir uns nicht auf der Straße befänden, würde ich Sie umarmen.»
«Ich glaube nicht, dass ich mich in China in eine größere Gefahr begebe, als Sie es hier in London tun», brummte er verlegen.
«Das ist durchaus möglich», gab Poirot zu, «indessen hoffe ich nicht, dass man so weit gehen wird, meinen guten Hastings zu massakrieren, das würde mir zu nahe gehen.»
Ich unterbrach diese unerquickliche Unterhaltung mit der Bemerkung, dass ich selbst auch nicht die Absicht hätte, mich ohne weiteres massakrieren zu lassen, und kurz darauf verabschiedete sich Mr Ingles von uns.
Einige Zeit gingen wir schweigend nebeneinander her, bis Poirot plötzlich eine völlig unerwartete Bemerkung fallen ließ.
«Ich trage mich allen Ernstes mit der Absicht, meinen Bruder in die Geschichte einzuweihen.»
«Deinen Bruder?», rief ich erstaunt aus. «Ich habe bisher nicht gewusst, dass du noch einen Bruder hast.»
«Das konntest du auch nicht wissen, lieber Hastings, aber du weißt doch sicher, dass alle gefeierten Detektive Brüder haben, die sogar noch berühmter als sie selbst sein können, und wenn auch nur bezüglich ihrer angeborenen Faulheit.»
Zuweilen zeigte sich Poirot von einer Seite, die es nahezu unmöglich machte, zu erkennen, ob er im Scherz oder im Ernst sprach.
«Wie heißt denn dein Bruder?», fragte ich, diese Neuigkeit aufgreifend.
«Achille Poirot», antwortete er in tiefstem Ernst. «Er lebt in der Nähe von Spa in Belgien.»
«Was tut er dort?», forschte ich voller Neugier, eine weitere Frage zurückhaltend, die sich auf den Charakter und die Vorliebe der verstorbenen Madame Poirot bezog, ihren Söhnen Namen aus der griechischen Mythologie zu geben.
«Er tut gar nichts. Er hat einen geradezu ungewöhnlichen Hang zum Nichtstun, jedoch sind seine Fähigkeiten keineswegs geringer einzuschätzen als die meinen – was schon allerhand sagen will.»
«Sieht er dir ähnlich?»
«Ziemlich, jedoch ist er lange nicht so gut aussehend und trägt auch keinen Schnurrbart.»
«Ist er älter oder jünger als du?»
«Wir sind zufällig an ein und demselben Tage geboren.»
«Also Zwillinge!», rief ich aus.
«Genau das, Hastings. Du kommst mit unfehlbarer Sicherheit zu den richtigen Feststellungen, aber nun sind wir wieder daheim angelangt. Lass uns gleich an die Arbeit gehen und versuchen, etwas Licht in das uns im Moment interessierende Problem des Halsbandes der Herzogin zu bringen.»
Jedoch das herzogliche Halsband musste sich noch eine Weile gedulden, denn ein Ereignis von weit größerer Bedeutung nahm uns in Anspruch.
Unsere Haushälterin, Mrs Pearson, teilte uns sogleich mit, dass eine Krankenschwester auf uns warte und Monsieur Poirot zu sprechen wünsche. Wir fanden sie beim Fenster im großen Lehnstuhl sitzend, eine sympathische Frau in mittleren Jahren in dunkelblauer Tracht. Zuerst verhielt sie sich sehr zurückhaltend, doch nachdem Poirot ihr gut zugeredet hatte, kam sie mit der Sprache heraus.
«Sehen Sie, Monsieur Poirot, mir ist noch nie etwas Derartiges vorgekommen. Ich war von der Schwesternschaft in Lask geschickt worden, um einen Krankheitsfall in Hertfordshire zu übernehmen. Es handelte sich dabei um einen älteren Herrn namens Templeton, im Übrigen um ein sehr gepflegtes Haus und recht angenehme Leute. Die Frau, Mrs Templeton, ist bedeutend jünger als ihr Gatte, er hat aus erster Ehe einen Sohn mitgebracht, der ebenfalls im Hause wohnt. Ich kann mir nicht erklären, warum der junge Mann und seine Stiefmutter ständig miteinander im Streit leben. Er scheint, wie man zu sagen pflegt, nicht ganz normal, auf jeden Fall aber geistig stark beeinträchtigt. Nun, zuerst kam mir die Erkrankung von Mr Templeton zumindest eigenartig vor. Zeitweise schienen bei ihm überhaupt keine Anzeichen von Krankheit vorzuliegen, und dann wiederum hatte er plötzlich sehr schmerzhafte Magenkrämpfe mit Erbrechen. Jedoch hatte es den Anschein, als wenn der behandelnde Arzt mit dem Allgemeinbefinden des Patienten im Ganzen zufrieden war. Ich stellte keine Fragen, weil mir dies nicht zustand. Aber etwas gab mir doch zu denken…»
Sie stockte und errötete.
«Dann ereignete sich wahrscheinlich etwas, das Ihren Verdacht erregte?», ergänzte Poirot.
«Allerdings.»
Immer noch fiel es ihr sichtlich schwer, fortzufahren.
«Ich hörte, dass auch die Bediensteten gelegentlich ihre Bemerkungen machten.»
«Etwa in Bezug auf Templetons Krankheit?»
«O nein – über etwas ganz anderes…»
«Etwas über Mrs Templeton?»
«So ist es.»
«Vielleicht über das Verhältnis von Mrs Templeton zum Arzt?»
Poirot besaß zuweilen eine umheimliche Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Die Krankenpflegerin warf ihm einen dankbaren Blick zu und fuhr fort:
«Sie, die Bediensteten, ließen es nicht an anzüglichen Andeutungen fehlen, und dann, eines Tages, konnte ich mich selbst davon überzeugen, und zwar im Garten…»
Mehr zu sagen vermochte unsre Klientin nicht, denn sie war schrecklich verlegen, so dass niemand es für absolut notwendig hielt, weiter zu forschen, was sie tatsächlich im Garten gesehen hatte. Offensichtlich hatte sie genug gesehen, um sich ein genaues Bild der Situation machen zu können.
«Die Magenkrämpfe wurden von Tag zu Tag ärger. Doktor Treves sagte, es verliefe alles durchaus programmmäßig und sei zu erwarten gewesen, aber ich habe noch nie etwas dergleichen gesehen – während meiner ganzen Praxis als Krankenschwester nicht. Der ganze Zustand machte auf mich den Eindruck, als ob…» Sie stockte abermals und zögerte, weiterzusprechen.
«Eine Vergiftung durch Arsen vorliegen würde?», warf Poirot ein.
Sie nickte. «Einmal machte er – ich meine hiermit den Patienten – eine sehr eigenartige Bemerkung. Er sagte wörtlich: ‹Die werden es mir schon noch besorgen, die vier da, die werden mich schon bald um die Ecke gebracht haben.›»
«Was soll man darunter verstehen?», fragte Poirot begierig.
«Das kann ich mir auch nicht denken, denn es war alles, was er äußerte, Monsieur Poirot; zu dieser Zeit hatte er gerade heftige Schmerzen und wusste wahrscheinlich kaum, was er sagte.»
«‹Die werden es mir schon noch besorgen, die vier da›», wiederholte Poirot gedankenvoll. «Was kann er damit gemeint haben, haben Sie darüber einmal nachgedacht?»
«Das kann ich beim besten Willen nicht sagen, Monsieur Poirot. Vielleicht dachte er dabei an seine Frau, den Sohn, den Arzt und vielleicht noch an Mrs Clark, die Gesellschafterin von Mrs Templeton. Das wären doch zusammen vier Personen, nicht wahr? Vielleicht bildete er sich auch ein, die vier Personen hätten gemeinsam ein Komplott gegen ihn geschmiedet.»
«Allerdings, das wäre denkbar», bemerkte Poirot gedankenverloren. «Wie war es denn mit seiner Verpflegung, konnten Sie diesbezüglich irgendwelche Vorsichtsmaßregeln treffen?»
«Ich tue stets alles, was ich kann. Jedoch besteht Mrs Templeton natürlich darauf, ihm seine Mahlzeiten selbst zu richten, zumal es auch vorkommt, dass ich dienstfrei bin.»
«Selbstverständlich, und nun sind Sie sicher der Ansicht, nicht genügend Beweise in Händen zu haben, um der Polizei Meldung zu machen?»
Das Gesicht der Schwester zeigte tiefes Erschrecken bei der bloßen Erwähnung dieser Möglichkeit.
«Trotzdem ist mir Folgendes gelungen, Monsieur Poirot. Nach dem Genuss einer Suppe hatte Mr Templeton einen schweren Magenanfall, es gelang mir, den Rest davon auf die Seite zu bringen; hier ist er. Da Mr Templeton sich gerade heute etwas besser fühlte und darum meiner Pflege nicht bedurfte, habe ich um Urlaub gebeten, um wieder einmal meine Mutter aufsuchen zu können.»
Sie holte eine kleine Flasche mit einer dunklen Flüssigkeit hervor und übergab sie Poirot.
«Ausgezeichnet, Mademoiselle. Wir werden dies unverzüglich untersuchen lassen. Wenn Sie uns wieder aufsuchen wollten, sagen wir, in einer Stunde, dann werden wir in der Lage sein, zu Ihrem Verdacht in einer konkreten Form Stellung zu nehmen.»
Nachdem er sie zuvor noch nach Namen und Adresse gefragt hatte, geleitete er sie hinaus. Dann nahm er einen Zettel, schrieb einige Worte darauf und sandte ihn zusammen mit der Flasche fort. Während wir auf das Resultat der Untersuchung warteten, beschäftigte sich Poirot zu meinem Erstaunen damit, die Identität der Schwester telefonisch bei dem angegebenen Hospital festzustellen.
«Nein, nein, mein Freund, es ist schon richtig, wenn ich vorsichtig bin; bedenke, dass die Großen Vier hinter uns her sind.»
Die gewünschte Information ließ nicht lange auf sich warten und bestätigte, dass eine Krankenschwester Mabel Palmer Mitglied der Schwesternschaft Lask sei und tatsächlich mit der Pflege des in Frage kommenden Patienten betraut worden sei.
«So weit wäre alles in Ordnung», bemerkte Poirot mit Augenzwinkern. «Und da kommt unsere Schwester Palmer auch schon wieder zurück, das Untersuchungsergebnis ist inzwischen auch eingetroffen.»
Wir beide, die Krankenschwester und ich, warteten gespannt auf das, was Poirot uns zu berichten hatte.
«Hat man Arsenik gefunden?», fragte sie beinahe atemlos.
Poirot schüttelte den Kopf und faltete den Bericht zusammen.
«Nein.» Wir vermochten unsere Enttäuschung nicht zu verbergen.
«Es enthält zwar kein Arsenik», fuhr er fort, «aber Antimon. Auf Grund dessen werden wir uns unverzüglich nach Hertfordshire auf die Beine machen. Der Himmel gebe, dass wir nicht zu spät kommen.»
Es wurde verabredet, als glaubwürdigsten Anlass für Poirots Erscheinen ihn in seiner Eigenschaft als Detektiv Nachforschungen anstellen zu lassen nach einer früheren Bediensteten des Hauses, deren Namen er von Miss Palmer erfahren hatte, denn alle Anzeichen sprächen dafür, dass diese Person in einen Juwelendiebstahl verwickelt sei.
Es war bereits spät, als wir in Elmstead, wie der Ort benannt war, eintrafen. Wir hatten Schwester Palmer einen Vorsprung von zwanzig Minuten gelassen, damit kein Verdacht einer Anzeige geschöpft werden könnte. Mrs Templeton, eine große dunkle Erscheinung mit hastigen Bewegungen und unstetem Blick, empfing uns. Ich konnte feststellen, dass sie nach Atem rang, als Poirot ihr seinen Beruf nannte, und stark beunruhigt schien, jedoch beantwortete sie seine Fragen nach der Bediensteten mit äußerster Bereitwilligkeit.
Um feststellen zu können, wie sie darauf reagierte, berichtete Poirot den Verlauf eines Giftmordversuches, den er kürzlich in den Polizeiakten verfolgt hatte und in den eine Frau verwickelt war. Seine Augen beobachteten sie unablässig, während er erzählte, und so sehr sie sich auch bemühte, so konnte sie doch ihre aufsteigende Verwirrung kaum verbergen. Plötzlich aber stürzte sie aus dem Zimmer, indem sie irgendeine höchst unangebrachte Entschuldigung stammelte. Lange blieben wir aber nicht allein. Eine stämmige, untersetzte Gestalt mit Kneifer und rötlichem Vollbart trat ein.
«Doktor Treves», stellte er sich vor.
«Mrs Templeton bittet mich, sie zu entschuldigen. Sie ist sehr leidend, nervöse Überanstrengung aus Sorge um ihren Gatten und dergleichen; ich habe ihr Bettruhe und ein Schlafmittel verordnet. Sie hat mich beauftragt, Sie zum Essen zu bitten und dabei die Hausherrenpflichten zu übernehmen. Wir haben hier bereits viel von Ihnen gehört, Monsieur Poirot, und sind über Ihren Besuch mehr als erfreut. Ah, und da kommt ja auch bereits Micky!»
Mit linkischen Bewegungen betrat ein junger Mann den Raum. Er hatte ein rundes Gesicht und eigenartig hochgezogene Augenbrauen, die seinem Gesicht den Anschein ständigen Erstaunens verliehen. Er lachte verlegen, als er uns die Hand zur Begrüßung reichte. Offensichtlich handelte es sich um den Sohn des Hauses, von dem die Schwester uns schon erzählt hatte. Dr. Treves führte uns nun in das Esszimmer, verließ uns jedoch gleich wieder, wie ich annahm, um eine Flasche Wein zu holen. In diesem Moment verwandelte sich das Gesicht des jungen Mannes in ganz erstaunlicher Weise, er beugte sich vor und starrte Poirot an.
«Sie sind meines Vaters wegen gekommen», sagte er, mit dem Kopfe nickend. «Ich weiß genau, ich weiß sogar noch mehr – aber niemand vermutet es. Meine Mutter wird froh sein, wenn Vater tot ist und sie Dr. Treves heiraten kann. Sie ist auch nicht meine richtige Mutter, wie Sie wohl wissen, und ich kann sie gar nicht leiden. Sie hat den Wunsch, dass Vater stirbt.»
Es trat darauf eine unheimliche Stille ein, und bevor Poirot Zeit fand, darauf zu antworten, kam glücklicherweise der Arzt zurück. Die sich beim Essen entwickelnde Unterhaltung war sehr stockend und gezwungen. Ganz unvermutet lehnte sich Poirot in seinen Stuhl zurück und stöhnte heftig mit schmerzverzerrtem Gesicht.
«Allmächtiger Himmel, was ist denn los?», rief der Doktor aus.
«Es ist ein plötzlicher Krampf, wie ich ihn des Öfteren habe. Es besteht durchaus kein Grund zur Beunruhigung, Herr Doktor, wenn ich mich nur eine kurze Zeit in einem der oberen Räume niederlegen könnte.»
Seinem Ersuchen wurde natürlich sofort stattgegeben, und ich begleitete ihn nach oben, wo er auf ein Bett niedersank und heftig stöhnte. Zunächst war ich beunruhigt, doch dann wurde mir klar, dass Poirot, wie schon oft, Theater spielte und damit nur den Zweck verfolgte, unbeobachtet in die Nähe des Krankenzimmers zu kommen. Ich glaubte deshalb, dass er mir gleich eine diesbezügliche Erklärung geben würde, doch kaum waren wir allein, sprang er vom Bett auf.
«Schnell, Hastings, hinaus durch das Fenster, wir können an dem Efeu hinabklettern, ehe man Verdacht schöpft!»
«Am Efeu hinabklettern?», fragte ich ungläubig und ganz überrascht.
«Ja, frag nicht so lange, wir müssen auf dem schnellsten Wege das Haus verlassen. Hast du ihn denn nicht beim Essen beobachtet?»
«Wen, meinst du den Arzt?»
«Nein doch, ich meine den jungen Templeton! Hast du nicht gesehen, was er mit dem Brot machte? Du erinnerst dich doch noch daran, was Flossie Monro uns erzählte, bevor sie sterben musste? Über Claude Darrell und seine Eigenart, bei Tisch mit dem Brot zu spielen? Hastings, dies ist ein abgekartetes Spiel, und jener blöd aussehende junge Mann ist kein anderer als – unser Erzfeind Nummer vier. Deshalb schnell, ehe es zu spät ist.»
So versäumte ich denn keine Minute, und wie unglaublich und widersinnig mir auch die ganze Sache erscheinen mochte, so hielt ich es doch für klüger, Poirots Aufforderung Folge zu leisten.
So leise wie irgend möglich kletterten wir am Efeu hinab, stürmten dann zu dem Bahnhof des kleinen Ortes und konnten gerade noch den letzten Zug erreichen, der gegen dreiundzwanzig Uhr in London eintreffen sollte.
«Ein Komplott», sagte Poirot gedankenvoll, «ich möchte nur wissen, wie viele der dort Anwesenden darin verwickelt sind; beinahe neige ich zu der Annahme, dass es sich bei allen um Mitglieder der Bande handelt. Zu welchem Zweck wollten sie uns dorthin locken, welche Teufelei steckt da wieder dahinter? Beabsichtigen sie etwa, uns abzulenken und uns von einer anderen Begebenheit fern zu halten? Zu gern möchte ich ergründen, welchen Zweck die ganze Sache hatte.»
Als wir spät in der Nacht in unserer Wohnung anlangten, hielt er mich an der Wohnungstür zurück.
«Achtung, Hastings, ich ahne etwas, lass mich vorausgehen.»
Er ging mir voran ins Zimmer und nahm zu meiner Belustigung einen alten Gummischuh, um damit den elektrischen Lichtschalter zu betätigen. Dann schlich er mit katzenartigen Bewegungen durch den Raum, behutsam auf jede Veränderung achtend. Ich beobachtete ihn eine Zeit lang, gehorsam an der Wand stehen bleibend, wohin er mich gewiesen hatte.
«Es ist doch alles in Ordnung, Poirot», sagte ich bereits ungeduldig.
«Es kann schon sein, mon ami, aber ich muss mich erst noch gründlich davon überzeugen.»
«Welch ein Unsinn», bemerkte ich, «ich werde inzwischen Feuer machen und mir erst einmal eine Pfeife anzünden. Jetzt habe ich dich aber doch einmal erwischt, Poirot, du hattest zuletzt die Zündhölzer benutzt und hast sie nicht wieder dahin gelegt, wo ihr Platz ist.»
Ich streckte bereits meine Hand nach den Zündhölzern aus, hörte noch Poirots Warnungsruf – sah ihn auf mich zulaufen und ergriff die Zündholzschachtel.
Dann – ein blauer Feuerstrahl – ein ohrenbetäubender Krach und völlige Dunkelheit.
Als ich wieder zu mir kam, erblickte ich das vertraute Gesicht unseres Freundes Dr. Ridgeway über mich gebeugt. Ein Seufzer der Erleichterung entschlüpfte ihm.
«Verhalten Sie sich, bitte, ganz ruhig», sagte er besänftigend, «Sie haben einen schweren Unfall gehabt, wissen Sie.»
«Wo ist Poirot?», murmelte ich. «Was ist mit ihm geschehen?»
«Beruhigen Sie sich», erwiderte er, «Sie befinden sich in meiner Obhut, alles andere erzähle ich Ihnen später.»
Eine wahnsinnige Angst griff mir ans Herz, und sein Ausweichen auf meine direkte Frage beunruhigte mich in höchstem Grade.
«Wo ist Poirot?», fragte ich wiederum. «Was ist mit ihm geschehen?»
Er hatte wohl eingesehen, dass ich es doch einmal erfahren musste und jedes Ausweichen zwecklos war.
«Wie durch ein Wunder sind Sie davongekommen – Poirot leider nicht!»
Ein Aufschrei kam von meinen Lippen.
«Er ist doch nicht etwa tot? Das kann doch unmöglich sein!»
Ridgeway nickte nur mit dem Kopf, während sein Gesicht seine innere Erregung widerspiegelte.
Mit Anspannung aller Kräfte richtete ich mich auf.
«Poirot mag zwar tot sein», sagte ich mit schwacher Stimme, «aber sein Geist wird fortleben, und ich werde nicht eher ruhen, bis ich sein Ziel erreicht habe – nämlich die Großen Vier zur Strecke zu bringen.»
Dann verfiel ich wieder in tiefe Bewusstlosigkeit.