In der ersten Nacht nach seiner Befreiung hörte ich Halliday unablässig laut stöhnen und protestieren. Ohne Zweifel hatten seine Erlebnisse in der Villa zu einem Nervenzusammenbruch geführt. Auch am nächsten Morgen erwiesen sich unsere Bemühungen, etwas Konkretes von ihm in Erfahrung zu bringen, als vergeblich. Er wiederholte nur immer wieder seine Erklärungen über die unheimliche Macht der Vier und die Bedrohung, Repressalien ausgesetzt zu sein, sofern er auch nur ein Wort verlauten lassen würde.
Nach dem Lunch reiste er nach England zu seiner Familie, während Poirot und ich in Paris zurückblieben. Ich setzte mich dafür ein, energische Maßnahmen in irgendeiner Form zu ergreifen, denn Poirots Unternehmungslosigkeit enttäuschte mich tief.
«Um Himmels willen, Poirot», drängte ich, «wir wollen uns endlich aufraffen und uns an ihre Fersen heften.»
«Ich muss mich immer wieder über dich wundern, Hastings. Wen sollen wir denn verfolgen? Drücke dich doch bitte etwas klarer aus.»
«Die Großen Vier, natürlich.»
«Cela va sans dire. Was willst du denn unternehmen?»
«Wir könnten uns an die Polizei wenden», schlug ich zögernd vor.
Poirot lächelte.
«Die würden uns für Fantasten halten. Wir können nichts beweisen, absolut gar nichts, und müssen abwarten.»
«Abwarten, zu welchem Zweck?»
«Abwarten, bis sie irgendetwas unternehmen. Wenn wir uns still verhalten, so müssen die anderen etwas unternehmen. Indem wir nun den anderen die Initiative überlassen, erfahren wir auf diese Weise etwas mehr über sie. Es bleibt unsere Stärke, die andere Seite zum Handeln zu zwingen.»
«Denkst du, dass sie etwas tun werden?», fragte ich ungläubig.
«Ich zweifle nicht im Geringsten daran. Sieh, um nochmals zu überlegen, sie haben versucht, mich von England wegzulocken. Dies schlug fehl. Daraufhin kommen wir ihnen in der Dartmoor-Affäre in die Quere und retten ihr Opfer vor dem Galgen. Und gestern durchkreuzten wir wiederum ihre Pläne. Ich versichere dir, dies alles werden sie nicht auf sich beruhen lassen.»
Während ich darüber nachdachte, klopfte es an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich ein Mann herein und schloss die Tür gleich hinter sich zu. Er war groß und hager, hatte eine leicht gebogene Nase und eine auffallend gelbliche Gesichtsfarbe.
Er trug einen Überzieher, der bis zum Hals hinauf zugeknöpft war, dazu einen weichen Hut, dessen Krempe die Augen fast verbarg.
«Entschuldigen Sie mein unangemeldetes Eindringen, meine Herren», sagte er mit weicher Stimme, «jedoch ist mein Anliegen etwas ungewöhnlicher Art.»
Er ging lächelnd zum Tisch hinüber und setzte sich. Ich war bereits im Begriffe aufzuspringen, jedoch hielt mich Poirot mit einer beredten Geste zurück.
«Wie Sie bereits bemerkten, Monsieur, ist Ihr Besuch wirklich etwas unkonventionell. Wollen Sie so freundlich sein, uns über dessen Zweck Näheres mitzuteilen?»
«Mein lieber Monsieur Poirot, das ist mit wenigen Worten erklärt. Sie haben meine Freunde bitter enttäuscht.»
«In welcher Beziehung?»
«Ach, lassen Sie das, Monsieur Poirot, Sie sind vollkommen im Bild, genau wie ich selbst.»
«Es hängt davon ab, Monsieur, wen Sie als Ihre Freunde betrachten.»
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog der Mann ein Zigarettenetui aus der Tasche, öffnete es, entnahm ihm vier Zigaretten und warf sie auf den Tisch. Dann sammelte er sie wieder ein und versorgte sie in seinem Etui.
«Aha», sagte Poirot, «so ist das gemeint. Und was schlagen Ihre Freunde vor?»
«Sie schlagen vor, Monsieur, dass Sie Ihre sehr beachtlichen Talente zur Aufdeckung von Verstößen gegen das Gesetz entfalten sollten – Sie sollten wieder Ihre frühere Beschäftigung aufnehmen und die Probleme von Damen der Londoner Gesellschaft lösen.»
«Ein sehr friedfertiges Geschäft», bemerkte Poirot, «und angenommen, ich wäre damit nicht einverstanden?»
Der Mann machte eine vielsagende Bewegung.
«Wir würden es natürlich außerordentlich bedauern», setzte er hinzu, «ebenso alle Freunde und Bewunderer von Hercule Poirot. Beileidskundgebungen jedoch, so ehrlich sie auch sein mögen, können einen Toten nicht mehr zum Leben erwecken.»
«Lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig», bemerkte Poirot kopfnickend. «Und angenommen, ich würde mich einverstanden erklären?»
«In diesem Falle bin ich beauftragt, Ihnen eine Entschädigung anzubieten.»
Er zog eine Brieftasche hervor und warf zehn große Banknoten auf den Tisch. «Das ist vorerst einmal ein Beweis unseres guten Willens», sagte er. «Sie werden später zehnmal so viel erhalten.»
«Großer Gott», fuhr ich auf, «wagen Sie im Ernst daran zu denken?»
«Setze dich, Hastings», befahl Poirot in bestimmtem Ton. «Zähme deine guten und ehrenvollen Regungen, und setz dich hin. Ihnen aber, mein Herr, sage ich Folgendes: Was würde mich hindern, die Polizei zu verständigen und Sie verhaften zu lassen, während mein Freund Sie daran hindert, sich davonzumachen?»
«Tun Sie Ihren Gefühlen keinen Zwang an, wenn Sie es für ratsam halten», sagte unser merkwürdiger Besucher mit äußerster Ruhe.
«So höre doch endlich auf zu zögern, Poirot», rief ich, «das ist ja nicht mehr auszuhalten. Ruf die Polizei, und lass ihn verhaften.»
Ich erhob mich schnell und stellte mich mit dem Rücken zur Tür.
«Es scheint der einzige Weg zu sein», murmelte Poirot, als wollte er mit sich ins Reine kommen.
«Aber so offensichtlich scheint er Ihnen wohl doch nicht zu sein, was?», sagte unser Besucher mit einem Lächeln.
«Nun entschließe dich doch endlich, Poirot», drängte ich. «Auf deine Verantwortung, mon ami.»
Als er den Hörer aufnahm, sprang der Mann katzenartig auf mich zu. Ich fing ihn auf, und in der nächsten Minute hielten wir uns in eisernem Griff und taumelten durch das Zimmer. Er schwankte und glitt aus, ich fühlte mich bereits im Vorteil, als er vor mir zu Boden fiel. Aber dann, meines Sieges sicher, ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Ich fühlte mich hochgehoben und landete kopfüber, meine Glieder in wüstem Durcheinander, an der Wand. Ich erhob mich zwar sofort, doch die Tür fiel schon hinter meinem Widersacher ins Schloss. Ich rannte hinterher, rüttelte, aber sie war von außen abgeschlossen. Dann entriss ich Poirot den Hörer.
«Ist dort der Empfang? Halten Sie einen Mann auf, der hinaus will, ein großer Mann mit hochgeschlossenem Überzieher und weichem Hut. Er wird von der Polizei gesucht.»
Nur wenige Minuten vergingen, bis wir ein Geräusch auf dem Gang hörten. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür wurde aufgestoßen, und der Direktor des Hotels erschien.
«Wo ist der Mann – haben Sie ihn erwischt?», schrie ich.
«Nein, mein Herr, es ist niemand heruntergekommen.»
«Aber er muss doch an Ihnen vorbeigekommen sein?»
«Mir ist niemand begegnet, Monsieur. Er kann unmöglich entkommen sein.»
«Sie sind sicher jemandem begegnet», sagte Poirot mit gedämpfter Stimme. «Vielleicht jemandem vom Hotelpersonal?»
«Nur einem Kellner mit einem Tablett, Monsieur.»
«Aha», sagte Poirot. «Deshalb also war er zugeknöpft bis zum Kragen.»
Poirot versank in tiefes Nachdenken, nachdem das aufgeregte Hotelpersonal sich endlich entfernt hatte.
«Es tut mir unendlich Leid, Poirot», murmelte ich ziemlich beschämt. «Ich glaubte ihn bereits überwältigt zu haben.»
«Ja, das war nun mal eben ein Judogriff, und nun sei nicht weiter so betrübt, mon ami. Alles verlief planmäßig – und zwar nach seinem Plan. Es ist genau das, was ich erreichen wollte.»
«Was wolltest du bezwecken?», fragte ich, indem ich mich nach einem braunen Gegenstand bückte, der auf dem Fußboden lag. Es war ein dünnes Taschenbuch aus braunem Leder, das unser Besucher während des Kampfes verloren haben musste. Es enthielt zwei quittierte Rechnungen, ausgestellt auf den Namen Felix Laon, und ein zusammengefaltetes Stück Papier, welches mein Herz schneller schlagen ließ. Es war die halbe Seite eines Notizblockes, auf welche einige Worte gekritzelt waren.
«Die nächste Zusammenkunft findet am Freitag um elf Uhr vormittag in der Rue des Echelles Nr.34 statt.» Es war unterzeichnet mit einer großen Zahl – 4.
Und heute war Freitag, die Uhr auf dem Kaminsims zeigte gerade 10.30 Uhr.
«Mein Gott, was für ein Zufall!», rief ich. «Das Schicksal meint es trotzdem gut mit uns. Wir müssen uns unverzüglich auf den Weg machen. Welch erstaunliches Glück.»
«Deshalb ist er also gekommen», murmelte Poirot. «Nun sehe ich ganz klar.»
«Was denn, Poirot? So komm doch endlich!»
Poirot sah mich an, schüttelte den Kopf und lächelte in seiner typischen Art.
«Treten Sie bitte ein!, sagte die Spinne zu der kleinen Fliege. So steht es doch wohl geschrieben in dem Märchen, das die englischen Kindermädchen ihren Schützlingen erzählen, nicht wahr? Nein, nein – sie glauben zwar, mich täuschen zu können – und dennoch durchschaue ich sie.»
«Worauf in aller Welt willst du hinaus, Poirot?»
«Mein lieber Freund, ich bin nach den heutigen Geschehnissen mit mir zu Rate gegangen. War unser Besucher tatsächlich der Meinung, er würde irgendwelche Aussichten haben, mich bestechen zu können? Oder, andernfalls, mich in Angst versetzen und mich zur Einstellung meiner Tätigkeit veranlassen zu können? Es ist kaum anzunehmen. Warum ist er also überhaupt gekommen? Nun, ich durchschaue den ganzen Plan – sehr schlau und durchdacht –, der scheinbare Vorwand, mich entweder bestechen oder abschrecken zu können, sodann der provozierte Kampf, bei dem der Mann absichtlich sein Notizbuch verlor, und nun die Falle! Rue des Echelles, elf Uhr morgens. Ich denke gar nicht daran, mon ami! So leicht kann man Hercule Poirot nicht einfangen.»
«Allmächtiger Himmel», stammelte ich.
Poirot schaute gedankenverloren vor sich hin. «Es gibt aber noch etwas, das ich durchaus nicht verstehen kann.»
«Das wäre?»
«Die Zeit, Hastings – die Zeit. Wenn sie mich in eine Falle locken wollten, so würde sich doch die Nachtzeit besser dazu eignen. Warum zu so früher Stunde? Ist es vielleicht möglich, dass sich heute Morgen noch irgendetwas anderes ereignet? Etwas, das sie vor mir verbergen wollen?»
Er senkte den Kopf.
«Wir werden sehen. Hier bleibe ich sitzen, mon ami. Wir rühren uns heute Morgen nicht von der Stelle und warten ab, was geschehen wird.»
Es war genau 11.30 Uhr, als der Stein ins Rollen kam: ein Telegramm. Poirot riss es auf und gab es mir. Madame Olivier bat uns darin, unverzüglich nach Passy zu kommen.
Wir kamen der Aufforderung ohne einen Augenblick zu zögern nach. Madame Olivier empfing uns in demselben kleinen Salon. Ich war von neuem tief beeindruckt von der wundervollen Erscheinung dieser Nachfolgerin von Becquerel und den Curies, ihrem schmalen, nonnenhaften Gesicht und ihren ausdrucksvollen Augen.
Sie kam sogleich zur Sache.
«Messieurs, Sie stellten mir gestern einige Fragen in Verbindung mit dem Verschwinden von Mr Halliday. Ich erfahre soeben, dass Sie ein zweites Mal hierher zurückkehrten, um meine Sekretärin, Inez Veroneau, zu sehen. Sie verließ das Haus mit Ihnen und ist bis jetzt noch nicht zurückgekommen.»
«Ist das alles, Madame?»
«Nein, Monsieur, nicht alles; letzte Nacht wurde in mein Laboratorium eingebrochen, und es wurden mehrere wertvolle Papiere und Aufzeichnungen gestohlen. Die Diebe haben versucht, noch etwas weit Wertvolleres zu stehlen, aber glücklicherweise konnten sie den großen Safe nicht öffnen.»
«Madame, ich möchte Sie von folgenden Tatsachen unterrichten. Ihre frühere Sekretärin, Madame Veroneau, ist in Wirklichkeit die Gräfin Rossakoff, eine Expertin im Diebstahl, und sie war auch verantwortlich für das Verschwinden von Mr Halliday. Wie lange stand sie schon in Ihren Diensten?»
«Fünf Monate, Monsieur. Was Sie mir da berichten, beunruhigt mich in höchstem Maße.»
«Leider ist es so. Waren diese verschwundenen Unterlagen leicht zu finden, oder nehmen Sie an, dass ein Eingeweihter an dem Verschwinden beteiligt ist?»
«Allerdings ist es ziemlich seltsam, dass die Diebe genau wussten, wo sie zu suchen hatten. Denken Sie etwa, dass Inez –?»
«Ja, ich zweifle keine Minute daran, dass der Diebstahl auf Grund ihrer Informationen erfolgte. Aber was ist das weit Wertvollere, das die Diebe nicht finden konnten? Etwa Juwelen?»
Madame Olivier schüttelte den Kopf mit einem schwachen Lächeln.
«Weitaus wertvoller als das, Monsieur.» Sie sah sich vorsichtig um, beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme: «Radium, Monsieur.»
«Radium?»
«Ja, ich bin jetzt bei dem schwierigsten Punkt meiner Experimente angelangt und besitze selbst ein kleines Quantum davon – jedoch wurde mir eine größere Menge für den Fortgang meiner Arbeiten leihweise zur Verfügung gestellt. So klein auch in Wirklichkeit das Quantum ist, so stellt es doch einen beträchtlichen Teil dessen dar, was in der ganzen Welt vorhanden ist, und somit den Wert von vielen Millionen Francs.»
«Und wo befindet es sich zur Zeit?»
«In einem Bleibehälter in dem großen Safe. – Der Safe scheint altmodisch und leicht zu öffnen;, doch in Wirklichkeit ist er ein Meisterstück in seiner Art. Das war wahrscheinlich der Grund, warum die Diebe ihn nicht öffnen konnten.»
«Wie lange behalten Sie das Radium noch in Ihrem Besitz?»
«Nur noch zwei Tage, Monsieur, dann sind meine Versuche abgeschlossen.»
Poirots Augen funkelten.
«Und weiß Inez Veroneau davon? Ja? Dann ist es gut; unsere Freunde werden ihren Versuch wiederholen. Kein Wort davon zu irgendjemand, Madame, und seien Sie versichert, Ihr Radium wird Ihnen erhalten bleiben. Haben Sie einen Ersatzschlüssel zur Tür, die zum Garten führt?»
«Ja, Monsieur, hier ist er. Ich habe noch einen gleichen in meinem Besitz. Und hier haben Sie auch den Schlüssel zum Gartentor, welches in den Gartenweg zwischen den anliegenden Villen führt.»
«Ich danke Ihnen, Madame. Heute Nacht gehen Sie bitte wie gewöhnlich schlafen, haben Sie keine Furcht, und überlassen Sie alles Weitere mir. Aber, bitte, zu niemand auch nur ein Wort – auch nicht zu Ihren Assistenten, Mademoiselle Claude und Monsieur Henri, nicht wahr? – Besonders nicht zu diesen beiden.» Poirot verließ die Villa und rieb sich zufrieden die Hände.
«Was werden wir jetzt tun?», fragte ich.
«Jetzt, Hastings, werden wir Paris verlassen – und nach England abreisen.»
«Warum das?»
«Wir werden unsere Koffer packen, zusammen essen und dann zur Gare du Nord fahren.»
«Und das Radium?»
«Ich sagte, wir werden nach England abreisen – ich meinte damit aber nicht, dass wir dort auch ankommen werden. Überlege bitte einen Moment, Hastings. Es ist so gut wie sicher, dass wir beobachtet und verfolgt werden. Wir müssen unsere Widersacher in dem Glauben lassen, dass wir zurück nach England fahren, und sie werden dies nicht eher glauben, als bis sie uns tatsächlich den Zug besteigen und abfahren sehen.»
«Hast du die Absicht, im letzten Moment aus dem Zuge zu springen?»
«Nein, Hastings, unsere Widersacher werden sich mit einer scheinbaren Abreise nicht begnügen.»
«Aber der Zug hält nicht vor Calais!»
«Er wird halten, wenn man dafür bezahlt.»
«Du bist im Irrtum, Poirot – keinesfalls darfst du dem Zugpersonal ein solches Anerbieten machen, sie würden es zurückweisen.»
«Mein lieber Freund, hast du noch nie den kleinen Handgriff bemerkt, die Notbremse? Die Strafe für widerrechtliches Benutzen beträgt 100 Francs, wenn ich nicht irre.»
«Ach so, diese willst du betätigen.»
«Nicht gerade ich selbst, sondern ein Bekannter von mir wird es tun, Pierre Combeau. Dann, während er vom Personal zur Rede gestellt wird, eine große Szene macht und alle Fahrgäste interessiert herumstehen, werden wir beide uns heimlich, still und leise aus dem Staube machen.»
Wir führten Poirots Plan wie verabredet aus. Pierre Combeau, ein alter Freund von Poirot, der dessen kleine Eigenarten zur Genüge kannte, traf die notwendigen Vorkehrungen. Die Notbremse wurde betätigt, als wir die letzten Vorstädte von Paris passierten. Combeau inszenierte alles in der üblichen erregten Art, die den Franzosen eigen ist, während Poirot und ich den Zug verließen, ohne von irgendjemand beobachtet zu werden. Unsere nächste Aufgabe bestand darin, uns ein vollständig verändertes Aussehen zuzulegen. Poirot hatte wiederum vorgesorgt und trug alles in einer kleinen Tasche bei sich. Wir aßen in einem bescheidenen kleinen Restaurant zu Abend und machten uns danach auf den Rückweg nach Paris. Es war kurz vor elf Uhr, als wir in die Nähe von Madame Oliviers Villa gelangten. Zuerst beobachteten wir sorgfältig die ganze Straße, bevor wir in den kleinen Gartenweg schlüpften. Die Umgebung schien vollkommen menschenleer. Eines war sicher: Niemand war uns gefolgt.
«Um diese Zeit erwarte ich sie noch nicht», flüsterte Poirot, «möglicherweise kommen sie gar nicht vor morgen Nacht. Sie wissen, dass nur zwei Nächte verbleiben, in denen das Radium noch greifbar ist.»
Wir benutzten den Schlüssel zum Gartentor mit äußerster Vorsicht, es öffnete sich lautlos, und wir schlüpften in den Garten. Doch gleich danach geschah etwas vollkommen Unerwartetes: Innerhalb einer Minute waren wir umzingelt, gebunden und geknebelt. Mindestens zehn Männer mussten uns überwältigt haben. Jeglicher Widerstand wäre nutzlos gewesen, und wie zwei hilflose Bündel wurden wir aufgehoben und fortgetragen. Zu meinem größten Erstaunen trug man uns zum Hause hin, und nicht in entgegengesetzter Richtung. Mit einem Schlüssel wurde das Laboratorium geöffnet, und wir wurden hineingetragen. Einer der Männer machte sich vor dem großen Safe zu schaffen, und die Tür sprang auf. Ein unangenehmer Gedanke durchzuckte mich; wollten sie uns darin verbergen und langsam ersticken lassen? Jedoch zu meiner größten Überraschung bemerkte ich, dass innerhalb des Safes einige Stufen zu darunter liegenden Räumen führten. Wir wurden die enge Treppe hinuntergeworfen und befanden uns endlich in einer unterirdischen Kammer. Eine Frau stand vor uns, groß und imposant, mit einer schwarzen Samtmaske vor dem Gesicht. Sie war offenbar die Anführerin und ließ durch ihre Gesten ihre Autorität erkennen.
Die Männer warfen uns auf den Boden und entfernten sich – wir waren allein mit der geheimnisvollen Frau. Es konnte gar kein Zweifel über die Identität bestehen: sie musste die unbekannte Französin sein – Nummer drei.
Sie kniete neben uns nieder und entfernte die Knebel, doch ließ sie die Fesseln unberührt. Dann erhob sie sich, sah uns an, und mit einer blitzschnellen Bewegung entfernte sie ihre Maske.
Es war Madame Olivier!
«Monsieur Poirot», sagte sie in höhnischem Tone. «Der große, der berühmte und einzigartige Monsieur Poirot! Ich habe Sie bereits gestern Morgen warnen lassen. Sie entschlossen sich, meine Warnungen zu missachten – Sie waren der Meinung, sich uns entgegenstellen zu müssen. Und nun sind Sie in meiner Hand!» Eine kalte Feindseligkeit strömte von ihr aus, die mir durch Mark und Bein ging. Sie stand in krassem Gegensatz zu dem tiefen Feuer ihrer Augen. Sie musste wahnsinnig sein – in höchstem Grade von genialem Wahnsinn befallen.
Poirot enthielt sich jeder Äußerung. Sein Kinn war herabgesunken, und er starrte sie unverwandt an.
«Nun», fuhr sie fort, «dies ist das Ende. Wir können es nicht zulassen, dass man unsere Pläne durchkreuzt. Haben Sie noch einen Wunsch?»
Noch nie hatte ich mich dem Tode so nahe gefühlt.
Poirot verhielt sich großartig, er zeigte weder Verwirrung noch Erbleichen, sondern starrte sie nur unablässig mit unvermindertem Interesse an.
«Ihre Psychologie interessiert mich ganz außerordentlich, Madame», bemerkte er mit vollkommener Ruhe. «Es ist nur schade, dass mir nur noch so kurze Zeit zur Verfügung steht, um sie studieren zu können. Ja, wenn Sie mich schon danach fragen, so habe ich ein Anliegen. Soweit mir bekannt ist, hat ein Verurteilter das Recht, wenigstens noch eine Zigarette zu rauchen. Ich habe mein Zigarettenetui bei mir, wenn Sie mir gestatten wollten…»
Er sah auf seine Fesseln hinab.
«Ah, natürlich», lachte sie. «Sie wollen mich bitten, Ihre Fesseln zu lösen, nicht wahr? Sie sind sehr schlau, Hercule Poirot, das weiß ich. Ich werde Ihre Hände nicht befreien – aber ich werde Ihnen eine Zigarette herausholen.»
Sie kniete neben ihm nieder, zog das Zigarettenetui hervor, entnahm ihm eine Zigarette und steckte sie ihm zwischen die Lippen.
«Und nun noch ein Zündholz», sagte sie und erhob sich.
«Ist nicht mehr notwendig, Madame.»
Etwas in seinem Tonfall ließ mich erregt aufblicken.
Madame Olivier sah ihn ebenso verwundert an.
«Rühren Sie sich nicht von der Stelle, Madame. Sie würden es bereuen. Sind Ihnen die Eigenschaften von Curare ein Begriff? Eine leichte Verletzung bedeutet den sicheren Tod. Gewisse Eingeborene benutzen ein Blasrohr – auch ich habe mir ein solches konstruiert in Form einer Zigarette. Ich brauche nur noch zu blasen… Ah, wagen Sie es nicht, sich zu bewegen, Madame. Der Mechanismus dieser Zigarette ist höchst sinnreich. Man bläst – und ein kleiner Dorn, gleich einer Fischgräte, saust durch die Luft, um sein Ziel zu erreichen. Da Sie wahrscheinlich jetzt noch nicht zu sterben wünschen, bitte ich Sie, befreien Sie meinen Freund Hastings von seinen Fesseln. Ich kann zwar nicht meine Hände gebrauchen, aber ich kann stets meinen Kopf so drehen, dass Sie ständig im Schussfeld bleiben. Also machen Sie keine Dummheiten, Madame, ich bitte Sie darum.»
Langsam, mit zitternden Händen und mit vor Wut und Hass entstelltem Gesicht, beugte sie sich hinab und tat, wie ihr geheißen. Ich war frei. Poirot gab mir einige Anweisungen.
«Verwende deine Fesseln nun für die Dame, Hastings. So ist es recht, sind sie auch richtig fest? Dann binde mich bitte los. Ein Glück, dass sie ihre Helfershelfer weggeschickt hat. Mit etwas Glück können wir hoffen, den Ausgang unangefochten zu erreichen.»
Im nächsten Augenblick stand Poirot an meiner Seite. Er beugte sich zu der Dame hinab.
«Hercule Poirot ist nicht so leicht zu beseitigen, Madame. Ich wünsche Ihnen eine recht gute Nacht.»
Der Knebel hinderte sie an einer Antwort, jedoch erschreckte mich der mörderische Blick in ihren Augen. Ich hoffte sehnlichst, nicht wieder in ihre Hände zu fallen. Drei Minuten später waren wir außerhalb der Villa und durchquerten den Garten. Die Straße lag verlassen da, und bald hatten wir die Gegend hinter uns. Dann brach es aus Poirot heraus.
«Ich verdiente eigentlich nichts anderes, als was mir jene Frau in Aussicht stellte. Ich bin ein dreifaches Hornvieh und ein ausgemachter Idiot. Erst war ich stolz darauf, ihnen nicht in die Falle gegangen zu sein. Und es war nicht einmal als Falle gedacht – ausgenommen natürlich die Art und Weise, wie ich ihnen ins Garn ging. Sie wussten, dass ich sie durchschaut hatte – und sie rechneten damit. Hieraus lässt sich alles erklären: die Leichtigkeit, mit welcher sie Halliday überwältigten, sowie die ganzen Begleitumstände. Madame Olivier war das geistige Oberhaupt, Vera Rossakoff nur ihr Werkzeug. Madame Olivier benötigte Hallidays Erfahrungen, während sie selbst über die notwendige Genialität verfügte, die Lücken zu schließen, an denen er bisher gescheitert war. Ja, Hastings, nun wissen wir, wer Nummer drei ist, die Frau, die wahrscheinlich als die größte Kapazität auf wissenschaftlichem Gebiet in der ganzen Welt gilt. Denke daran. Das Gehirn des Ostens und die Wissenschaft des Westens. Dann noch zwei Persönlichkeiten, deren Identität uns leider noch verborgen ist. Aber wir müssen sie demaskieren. Zu diesem Zweck fahren wir morgen zurück nach London, um uns auf ihre Fährte zu setzen.»
«Also zögerst du immer noch, die Polizei über Madame Olivier aufzuklären?»
«Man würde mir ja doch keinen Glauben schenken, denn jene Frau ist einer der Abgötter Frankreichs, und wir haben noch keine Beweise in Händen. Wir können von Glück sagen, wenn sie es unterlässt, uns anzuklagen.»
«Was soll denn das nun wieder heißen?»
«Überlege einmal: Wir wurden zur Nachtzeit auf ihrem Grund und Boden überrascht, im Besitze von Nachschlüsseln, die sie beschwören würde uns nie gegeben zu haben. Sie überrascht uns an ihrem Safe, während wir sie knebeln, binden und uns dann aus dem Staube machen. Gib dich keinen Illusionen hin, Hastings, unsere Zeit ist noch nicht gekommen!»