Nach unserem Abenteuer in der Villa in Passy kehrten wir auf direktem Wege nach London zurück. Hier erwarteten Poirot mehrere Briefe, einen davon las er mit einem seltsamen Lächeln und übergab ihn mir.
Zuerst sah ich auf die Unterschrift «Abe Ryland», und erinnerte mich an Poirots Worte: «Der reichste Mann der Welt.» Mr Rylands Brief war höflich, aber bestimmt. Er brachte seine tiefe Unzufriedenheit zum Ausdruck über die Gründe, die Poirot im letzten Moment bewogen hatten, von dem Auftrag in Südamerika zurückzutreten.
«Das gibt uns sehr viel zu denken, nicht wahr?», bemerkte Poirot.
«Ich finde es nur zu natürlich, dass er darüber etwas aufgebracht ist», entgegnete ich.
«Nein, nein, du begreifst nicht, was ich meine. Denk doch bitte an die Worte Mayerlings, des Mannes, der hier bei uns Zuflucht suchte – und trotzdem in die Hände seiner Widersacher fiel: Nummer zwei wird bezeichnet durch ein S mit zwei Strichen, sagte er damals – das Dollarzeichen, ebenso durch zwei Striche durch einen Stern. Es spricht alles dafür, dass er ein amerikanischer Bürger ist und dass hinter ihm die Macht des Geldes steht. Erinnerst du dich daran, dass Ryland mir eine Riesensumme bot, um mich zu bewegen, England zu verlassen? Was sagst du nun dazu, Hastings?»
«Willst du damit andeuten», erwiderte ich, ihn groß anblickend, «dass Abe Ryland, der Multimillionär, im Verdacht steht, Nummer zwei der Großen Vier zu sein?»
«Dein klarer Verstand hat das Richtige getroffen, Hastings. Ja, ich bin dieser Ansicht. Deine Betonung des Wortes ‹Multimillionär› ist vielsagend – doch lasse dich von mir noch ganz besonders auf folgende Tatsache hinweisen: Diese Angelegenheit wird von Leuten geleitet, die zur Spitzenklasse gehören – und Mr Ryland steht dazu noch in dem Rufe, in geschäftlichen Dingen keinen Spaß zu verstehen. Er ist ein durchaus fähiger und dazu skrupelloser Mann, dem unbegrenzte Mittel für seine Zwecke zur Verfügung stehen.»
Zweifellos bedurfte die Betrachtung Poirots noch einer weiteren Erklärung, und so fragte ich ihn, wann er zu dieser Überzeugung gekommen sei.
«Das ist ja gerade der wunde Punkt; ich bin meiner Sache noch nicht ganz sicher und kann es auch noch gar nicht sein. Mon ami, ich würde viel darum geben, untrügliche Beweise zu haben. Vorerst wollen wir annehmen, dass Mr Ryland tatsächlich Nummer zwei ist, so nähern wir uns etwas mehr unserem Ziel.»
«Hieraus ersehe ich», sagte ich und deutete auf den Brief, «dass er gerade in London eingetroffen ist. Willst du ihn persönlich aufsuchen, um dich zu entschuldigen?»
«Das könnte ich immerhin tun.»
Zwei Tage später betrat Poirot unsere Wohnung in einem Zustand äußerster Erregung. Er begrüßte mich stürmisch und ergriff mich an beiden Händen.
«Mein Freund, eine einzigartige Gelegenheit, beispiellos und einmalig, hat sich uns geboten. Es handelt sich um ein gefährliches, ein sehr gefährliches Unternehmen. Ich wage es kaum, dich zu fragen, ob du darauf eingehen willst.»
Wenn Poirot versuchte, mir irgendwie bange zu machen, so täuschte er sich, und das ließ ich auch durchblicken. Nach einigem Zögern entwickelte er mir seinen Plan.
Er hatte erfahren, dass Ryland nach einem englischen Sekretär suchte, der sowohl gute Umgangsformen wie auch eine repräsentative Erscheinung in sich vereinigte. Poirot schlug mir vor, mich um diesen Posten zu bewerben.
«Ich würde es selbst tun, mon ami», erklärte er mir, sich beinahe entschuldigend. «Aber du wirst einsehen, dass es mir kaum gelingen würde, mein Aussehen genügend zu verändern. Ich spreche zwar ganz gut Englisch – ausgenommen dann, wenn ich erregt bin –, aber doch nicht so gut, um das Ohr eines Amerikaners zu täuschen; ich bin sogar bereit, meinen Schnurrbart zu opfern, ich befürchte jedoch, trotzdem als Hercule Poirot erkannt zu werden.»
Ich teilte seine Befürchtungen und erklärte mich bedingungslos bereit, die Rolle des Sekretärs zu übernehmen, um mich in Rylands Haus einzuschmuggeln.
«Ich wette aber zehn zu eins, dass er mich gleichwohl nicht engagiert», bemerkte ich.
«O doch, er wird es tun. Ich werde für dich so glänzende Empfehlungen besorgen, dass er sich sämtliche Finger lecken wird. Der Staatssekretär persönlich wird dir seine Empfehlung geben.»
Das schien mir doch reichlich übertrieben zu sein, aber Poirot beseitigte meine Einwände.
«Mais oui, er wird dir sogar eine erstklassige Empfehlung geben. Ich habe ihm nämlich seinerzeit in einer Angelegenheit einen Gefallen getan, wo ein Riesenskandal vermieden werden konnte. Die Sache wurde diskret und sorgfältig beigelegt, und nun ist er mir verpflichtet und frisst mir – um mit seinen eigenen Worten zu sprechen – wie ein Vogel aus der Hand.»
Unsere erste Aufgabe war es, die Dienste eines Maskenbildners zu gewinnen. Es war ein kleiner Mann mit einem wunderlichen Vogelgesicht, nicht unähnlich dem meines Freundes Poirot. Erst betrachtete er mich eine Weile schweigend und machte sich sodann an die Arbeit. Als ich etwa eine halbe Stunde später in den Spiegel sah, war ich begeistert. Ein Paar Schuhe spezieller Machart ließen mich fast fünf Zentimeter größer erscheinen, und der Anzug, den ich trug, war so gearbeitet, dass ich darin hochaufgeschossen und hager aussah.
Meine Augenbrauen waren so geschickt hergerichtet, dass sie meinem Gesicht ein völlig anderes Aussehen gaben, meine Wangen waren durch einen Backenbart verdeckt, und die tiefe Bräune meines Gesichts war verschwunden. Meine Oberlippe war glatt rasiert, und ein Goldzahn trat auffällig im Mundwinkel in Erscheinung.
«Dein Name ist Arthur Neville», sagte Poirot. «Und nun behüt dich Gott, mein Freund, denn wie ich dir schon sagte, ist die Sache keinesfalls ungefährlich.»
Mit Herzklopfen begab ich mich zu der von Ryland festgesetzten Zeit zum «Savoy-Hotel» und bat, vorgelassen zu werden. Nachdem ich einige Minuten gewartet hatte, wurde ich in seine Suite geführt.
Ryland saß an einem Schreibtisch und hielt einen Brief in der Hand, dessen Handschrift ich mit einem verstohlenen Blick als die des Staatssekretärs erkennen konnte. Ich sah den amerikanischen Millionär zum ersten Male, und ich war wider Willen beeindruckt. Er war groß und schlank, mit hervorspringendem Kinn und leicht gebogener Nase. Seine Augen blitzten kalt und grau hinter buschigen Augenbrauen. Er hatte dichtes, angegrautes Haar und rauchte eine dicke, schwarze Zigarre – ohne die er, wie ich später erfuhr, niemals zu sehen war –, die ihm lässig aus dem Mundwinkel herabhing.
«Setzen Sie sich», grunzte er.
Während ich Platz nahm, klopfte er auf den vor ihm liegenden Brief.
«Nach diesem Schreiben hier sind Sie der richtige Mann für mich, und ich brauche mich nicht weiter umzusehen. Sagen Sie, sind Sie mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut?»
Ich erwiderte, dass ich glaubte, seinen diesbezüglichen Anforderungen entsprechen zu können.
«Sagen Sie mir zum Beispiel, falls ich eine Party für Herzöge, Grafen, Barone und dergleichen auf meinem Landsitz veranstalten würde, wären Sie in der Lage, diese nach der Rangordnung beim Dinner zu platzieren?»
«Selbstverständlich, ohne irgendwelche Schwierigkeiten», antwortete ich lächelnd.
Wir erörterten noch einige Formalitäten, und dann konnte ich mich als engagiert betrachten. Was Mr Ryland wünschte, war ein Privatsekretär, der vertraut sein musste mit den Gepflogenheiten der englischen Gesellschaft, außerdem hatte er noch einen Sekretär und eine Korrespondentin. Zwei Tage später fuhr ich hinaus nach «Hatton Chase», dem Landsitz des Herzogs von Loamshire, den der amerikanische Millionär für die Dauer von sechs Monaten gemietet hatte.
Meine Obliegenheiten verursachten mir keinerlei Schwierigkeiten, und da ich bereits früher in meinem Leben Privatsekretär eines aktiven Parlamentsmitgliedes gewesen war, fühlte ich mich jeder Situation gewachsen. Mr Ryland veranstaltete gewöhnlich an jedem Wochenende eine große Party, jedoch verlief der Rest der Woche vollkommen ruhig. Ich sah sehr wenig von Mr Appleby, dem amerikanischen Sekretär, doch schien er mir ein angenehmer, typischer Amerikaner und sehr gewissenhaft in seiner Arbeit zu sein. Miss Martin, die Korrespondentin, sah ich ziemlich oft. Sie war ein hübsches Mädchen von etwa drei- bis vierundzwanzig Jahren, mit rotbraunem Haar und braunen Augen, die ab und zu sehr schelmisch dreinblicken konnten, doch für gewöhnlich hielt sie sie züchtig gesenkt. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihren Arbeitgeber weder schätzte noch ihm vertraute, obschon sie natürlich sorgfältig darauf bedacht war, sich nichts anmerken zu lassen. Es kam jedoch die Zeit, als ich unerwartet in ihr Vertrauen gezogen wurde. Ich hatte alle Mitglieder des Haushaltes genau überprüft. Einige der Bediensteten waren neu engagiert worden, nämlich ein Diener und ein Hausmädchen. Der Butler, die Wirtschafterin und die Köchin gehörten zum Stammpersonal des Herzogs und hatten sich bereit erklärt, im Hause zu bleiben. Die Hausmädchen erschienen mir unwichtig. Mit James, dem zweiten Diener, befasste ich mich zuerst sehr eingehend, jedoch wurde mir bald klar, dass er nur eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Er war durch den Butler eingestellt worden. Eine Person, der ich weitaus mehr Beachtung schenkte, war Deaves, Rylands Kammerdiener, den er von New York mitgebracht hatte. Ein gebürtiger Engländer, unnahbar, der auf mich einen verdächtigen Eindruck machte. Drei Wochen war ich bereits in «Hatton Chase», doch kein auch noch so geringer Vorfall hatte sich ereignet, der Anlass gegeben hätte, unsere Theorie zu bestärken. Auch nicht eine Spur von der Tätigkeit der Großen Vier war zu entdecken. Mr Ryland verkörperte einen Mann von überwältigender Macht und Persönlichkeit, so dass ich bereits glaubte, Poirot habe einen Irrtum begangen, als er ihn mit dieser gefürchteten Organisation in Verbindung brachte. Ich hörte sogar, dass er den Namen von Poirot während eines Dinners erwähnte. «Ein wundervoller kleiner Herr, sagt man, aber er ist etwas unzuverlässig. Wie konnte man das ahnen? Ich übertrug ihm einen Auftrag, und er ließ mich im letzten Augenblick im Stich. Ich halte seit dieser Zeit nicht mehr sehr viel von dem beliebten Monsieur Hercule Poirot!»
Ich fand in Augenblicken wie diesem meinen Backenbart sehr angebracht! Und dann erzählte mir Miss Martin eines Tages eine ziemlich seltsame Geschichte. Ryland war für einen Tag abwesend, er war nach London gefahren und hatte Mr Appleby mitgenommen.
Miss Martin und ich gingen nach dem Tee zusammen im Garten spazieren. Ich mochte das Mädchen sehr gern, sie war so natürlich und unbefangen, und ich merkte, dass sie bedrückt schien. Nach einigem Zögern kam es heraus.
«Wissen Sie, Major Neville», sagte sie, «ich denke tatsächlich daran, meinen Posten aufzugeben.»
Ich sah sie mit leichtem Erstaunen an, und sie fuhr eilig fort: «Oh, einesteils weiß ich, dass ich eine gut bezahlte Stellung habe; die meisten Leute würden vielleicht sagen, ich sei furchtbar töricht, dies nicht einzusehen. Ich kann jedoch keine Ausfälligkeiten vertragen, Major Neville. Beschimpft zu werden wie ein Rekrut ist mehr, als ich ertragen kann. Kein Gentleman tut so etwas.»
«Hat Ryland Sie denn beschimpft?» Sie nickte.
«Er ist natürlich immer sehr erregt und ungeduldig. Das ließe sich noch aushalten, denn es gehört nun einmal zur täglichen Arbeit. Jedoch so gänzlich aus der Rolle zu fallen – und dazu ganz ohne Grund! Er hat mich wirklich so angesehen, als wenn er mich töten wollte. Und, wie ich bereits sagte, ganz grundlos.»
«Erzählen Sie mir doch bitte mehr darüber», bat ich äußerst interessiert.
«Wie Sie wissen, öffne ich alle Briefe mit Rylands Anschrift. Einige davon übergebe ich sofort Mr Appleby, andere erledige ich gleich selbst, aber ich muss sie vorher sorgfältig durchsehen. Nun gibt es gewisse Briefe, und zwar solche auf blauem Papier, die mit einer kleinen Vier in der Ecke bezeichnet sind – Verzeihung, sagten Sie etwas?» Ich war im Moment nicht in der Lage gewesen, einen leisen Ausruf zu unterdrücken, jedoch schüttelte ich eifrig meinen Kopf und bat sie fortzufahren.
«Well, wie ich bereits sagte, habe ich die strikte Anweisung, sie nie zu öffnen, sondern beim Eintreffen dieser Briefe sie auf schnellstem Wege Mr Ryland persönlich zu übergeben. Natürlich verfahre ich stets dementsprechend. Nun hatten wir aber gestern Morgen eine ungewöhnlich umfangreiche Post, und ich öffnete alle Briefe in schrecklicher Eile. Irrtümlicherweise öffnete ich auch einen dieser Briefe. Sobald ich gesehen hatte, was geschehen war, überbrachte ich ihn Mr Ryland und entschuldigte mich. Zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen steigerte er sich in einen fürchterlichen Wutanfall. Wie ich Ihnen bereits sagte, war ich zu Tode erschrocken.»
«Ich wüsste zu gern, was der Brief enthalten hatte, dass er sich derart vergessen konnte.»
«Absolut gar nichts – das ist nämlich das Seltsamste daran. Ich hatte ihn gelesen, bevor ich meinen Irrtum entdeckte. Er war nur ganz kurz gehalten. Ich kann mich noch Wort für Wort daran erinnern, und nichts war darin gestanden, dass jemand so außer sich geraten konnte.»
«Sie können es wörtlich wiederholen, sagten Sie?», ermunterte ich sie.
Sie überlegte eine Weile und wiederholte sodann langsam, während ich mir die Worte einprägte, Folgendes:
«Dear Sir. Ich muss darauf drängen, dass Sie das Anwesen jetzt sehen. Dies ist wirklich wichtig. Falls Sie den Steinbruch auch kaufen, sollten siebzehntausend genügen, doch sind 11 % Provision zu viel, 4% dagegen reichlich. Ihr sehr ergebener Arthur Leversham.»
Miss Martin fuhr fort:
«Augenscheinlich dachte Mr Ryland daran, irgendein Gut käuflich zu erwerben. Ich habe meinerseits das Gefühl, dass ein Mann, der über solch eine Kleinigkeit derart in Wut gerät, als gefährlich bezeichnet werden kann. Was denken Sie, dass ich tun soll, Major Neville? Sie haben doch auf jeden Fall mehr Welterfahrung als ich.»
Ich beschwichtigte das Mädchen, so gut ich es vermochte, und erklärte ihr, dass Mr Ryland wahrscheinlich an der bei den Amerikanern so verbreiteten schlechten Verdauung leide. Als sie mich dann später verließ, schien sie wieder ganz beruhigt zu sein. Aber ich war nicht ganz mit mir selbst zufrieden. Als das Mädchen gegangen war, nahm ich mein Notizbuch heraus und schrieb den Brief nieder, den ich solange im Gedächtnis behalten hatte. Was bedeutete das anscheinend so unverdächtig klingende Schreiben? Betraf es irgendein Geschäft, welches Ryland abschließen wollte, und war er bestrebt, nichts davon in die Öffentlichkeit kommen zu lassen, bevor es perfekt war? Dieses war eine durchaus glaubhafte Erklärung. Dann erinnerte ich mich aber an die Zahl Vier, mit welcher der Umschlag bezeichnet war, und hatte das Gefühl, dass ich endlich der Sache auf der Spur war, die uns schon so lange beschäftigte. Während des ganzen Abends und auch den größten Teil des nächsten Tages rätselte ich an dem Brief herum – und dann kam mir plötzlich die Erleuchtung. Die Zahl Vier war der Schlüssel. Wenn man jedes vierte Wort des Textes las, so ließ sich ein völlig veränderter Inhalt erkennen. «Muss Sie sehen wichtig Steinbruch siebzehn elf vier.» Die Lösung der Zahlen war einfach. Mit siebzehn war der 17. Oktober gemeint. Dieser war morgen, elf bedeutete die Uhrzeit und vier die Unterschrift – entweder bezogen auf die geheimnisvolle Nummer vier selbst – oder andernfalls das Zeichen der Großen Vier. Der Steinbruch ließ auch keinen Zweifel aufkommen. Es gab einen großen verlassenen Steinbruch auf dem Anwesen, etwa drei Kilometer vom Hause entfernt, ein einsamer Ort und ideal für ein geheimes Zusammentreffen.
Nach einiger Überlegung war ich versucht, das Risiko selbst zu übernehmen, denn es hätte viel zu meinem Stolz beigetragen, einmal etwas ohne Poirot ausgeführt zu haben.
Jedoch überwand ich schließlich die Versuchung. Es handelte sich offensichtlich um eine große Chance, und ich hatte nicht das Recht, allein zu operieren und vielleicht unseren ganzen Erfolg aufs Spiel zu setzen. Zum ersten Male würden wir unseren Widersachern zuvorkommen. Dieses Mal mussten wir es schaffen, und ob ich es nun eingestehen wollte oder nicht, Poirot war nun einmal der Klügere von uns beiden. Ich schrieb unverzüglich an ihn, gab ihm die notwendigen Erklärungen und vermerkte, wie wichtig es sei, zu beobachten, was das Zusammentreffen zu bedeuten habe. Wenn er wünschte, alles mir zu überlassen, so würde ich mein Bestes tun, doch gab ich ihm detaillierte Einzelheiten, wie der Steinbruch vom Bahnhof aus zu erreichen war, wenn er es für ratsam hielte, selbst zu kommen. Dann nahm ich den Brief mit zur Stadt und gab ihn selbst auf der Post auf. Während meines Aufenthaltes bei Ryland war ich mit Poirot in ständiger Verbindung gewesen, doch waren wir übereingekommen, dass er keinesfalls versuchen sollte, seinerseits mit mir Verbindung aufzunehmen, auch nicht, gesetzt den Fall, dass meine Briefe es erforderlich machen sollten.
Am folgenden Abend befand ich mich begreiflicherweise in höchster Aufregung. Wir hatten keine Gäste im Hause, und ich war mit Ryland während des ganzen Abends im Studierzimmer tätig. Dies hatte ich bereits vorausgesehen, und so hatte ich keine Hoffnung, Poirot vom Bahnhof abholen zu können. Man konnte jedoch mit Sicherheit annehmen, dass ich noch vor elf Uhr entlassen werden würde.
Und richtig, gerade nach 10.30 Uhr sah Mr Ryland auf seine Uhr und ließ mich wissen, dass er mit allem fertig sei. Ich verstand diesen Wink und zog mich diskret zurück, ging nach oben, als wenn ich mich zur Ruhe begeben wollte, doch glitt ich leise eine Nebentreppe hinunter und schlüpfte in den Garten. Zuvor hatte ich vorsichtshalber einen schwarzen Rock angezogen, um mein weißes Hemd zu verbergen. Ich hatte einen Seitenweg zum Garten gewählt und blickte mehrmals über die Schulter zurück. Mr Ryland betrat gerade den Garten durch die Tür des Studierzimmers, um seine Verabredung einzuhalten. Ich beschleunigte meine Schritte, um zuerst an Ort und Stelle sein zu können. Etwas außer Atem erreichte ich den Steinbruch. Niemand schien sich in der Nähe aufzuhalten, und so kroch ich in ein dichtes Gebüsch, um die Ereignisse abzuwarten.
Zehn Minuten später, als es gerade elf Uhr schlug, schlich Ryland herbei, seinen Hut tief herabgezogen und die unvermeidliche Zigarre im Munde. Mit einem flüchtigen Blick sah er sich um und verschwand in den Höhlen des Steinbruches. Kurz darauf hörte ich ein leises Murmeln sich meinem Versteck nähern. Anscheinend waren jetzt noch andere Personen an dem verabredeten Ort eingetroffen. Ich spähte in die Nacht hinaus und kroch dann vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, aus dem Gebüsch hervor, um jedes Geräusch zu vermeiden, und arbeitete mich dem steilen Abhang zu. Nur noch ein Felsblock trennte mich von der sprechenden Gruppe. Ich fühlte mich in der Dunkelheit völlig sicher und blickte vorsichtig um die Ecke des Felsblockes und – sah direkt in die Mündung eines schwarzen, bedrohlich auf meinen Kopf gerichteten Revolvers.
«Hände hoch!», sagte Mr Ryland in unmissverständlichem Ton. «Ich habe Sie bereits erwartet.»
Er befand sich im Schatten des Felsens, so dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Dann fühlte ich die Berührung von kaltem Stahl im Nacken, während Ryland seinen Revolver senkte.
«So ist es recht, George», sagte er gedehnt, «bringe ihn hierher.»
Kochend vor Wut wurde ich an eine Stelle im Dunkel geführt, wo der unsichtbare George, den ich mit Sicherheit für Deaves hielt, mich band und knebelte. Ryland ergriff nochmals das Wort in einem Ton, den ich kaum wieder erkannte, so kalt und drohend erschien er mir.
«Dies dürfte nun das Ende von euch beiden bedeuten. Sie haben jetzt zur Genüge die Wege der Großen Vier durchkreuzt. Haben Sie schon einmal von einem Bergrutsch gehört? Vor zwei Jahren gab es hier bereits schon einen. Heute Nacht wird ein weiterer folgen, wofür ich ausgiebig vorgesorgt habe. Doch Ihr Freund scheint seine Verabredungen nicht sehr pünktlich einzuhalten.»
Ein furchtbarer Schreck durchzuckte mich. Poirot! Jede Minute konnte er eintreffen und blindlings in die Falle gehen, während ich unfähig war, ihn zu warnen.
Ich konnte nur hoffen, dass er sich entschlossen hatte, in London zu bleiben und die Angelegenheit in meinen Händen zu belassen. Sicher wäre er, sofern er die Absicht dazu gehabt hätte, bereits an Ort und Stelle.
Mit jeder Minute, die verstrich, schöpfte ich neue Hoffnung. Doch plötzlich zerrann sie in nichts. Ich hörte Schritte, zwar sehr leise, aber doch deutlich erkennbar. Eine ohnmächtige Angst überkam mich. Die Schritte näherten sich dem Wege, hielten an, und dann – erschien Poirot, seinen Kopf etwas zur Seite geneigt und scharf in das Dunkel spähend. Ich hörte von Ryland einen Ausruf der Befriedigung. Er brachte seinen Revolver in Anschlag und schrie: «Hände hoch!» Deaves sprang, wie bereits mir, Poirot in den Rücken. Der Hinterhalt war gelungen.
«Erfreut, Sie zu sehen, Monsieur Hercule Poirot», sagte der Amerikaner grimmig.
Poirots Selbstbeherrschung war einzigartig. Er verzog keine Miene, jedoch sah ich seine Augen das Dunkel durchforschen.
«Ist mein Freund hier?»
«Yes. Sie sind beide in der Falle – in den Händen der Großen Vier.»
Er lachte laut heraus.
«Eine Falle?», wollte Poirot wissen.
«Sagen Sie, sind Sie sich dessen noch nicht bewusst?»
«Ich weiß zwar, dass es sich hier um eine Falle handelt – ja», sagte Poirot ruhig. «Aber Sie irren sich, Messieurs. Sie sind es, die sich darin befinden – keinesfalls mein Freund und ich.»
«Was soll das heißen?», fragte Ryland und hob dabei seinen großen Revolver, jedoch bemerkte ich die Bestürzung in seinem Gesichtsausdruck.
«Wenn Sie schießen, begehen Sie einen Mord, der von zehn Augenpaaren beobachtet wird, und Sie werden dafür gehängt. Dieser Platz ist umzingelt, und zwar seit einer halben Stunde – durch Scotland-Yard-Leute. Sie sind schachmatt, Mr Abe Ryland!»
Mein Freund stieß einen Pfiff aus, und wie aus dem Erdboden geschossen, wimmelte es plötzlich von Menschen. Sie überwältigten Ryland sowie seinen Kammerdiener und entwaffneten sie. Nachdem er noch einige Worte zu den Yard-Leuten gesprochen hatte, nahm mich Poirot beim Arm und führte mich fort.
Als wir uns außer Sicht des Steinbruches befanden, umarmte er mich leidenschaftlich.
«Du lebst und bist unverletzt. Es ist kaum zu fassen. Wie oft habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass ich dich habe gehen lassen.»
«Ich bin doch vollkommen in Ordnung», sagte ich, indem ich mich losmachte, «aber ich bin noch ein wenig benommen. Du hast dich von ihren Plänen schön überrumpeln lassen, nicht wahr?»
«Aber nein, darauf habe ich gerade gewartet! Aus welchem Grunde, glaubst du, habe ich dir denn überhaupt angeraten, zu Ryland zu gehen? Dein falscher Name, deine Maske, nicht einen Moment konntest du jemand täuschen!»
«Was!», rief ich. «Du hast mir doch nie etwas davon gesagt!»
«Wie ich dir schon öfter versichert habe, Hastings, hast du eine so reine und ehrenhafte Natur, dass es dir auch bei einer Selbsttäuschung unmöglich ist, andere täuschen zu wollen. Es war gut so, sie haben dich von Anfang an durchschaut und taten das, womit ich mit tödlicher Sicherheit gerechnet hatte – einer mathematischen Sicherheit für jedermann, der seine kleinen grauen Zellen arbeiten lässt –, nämlich dich als Köder zu benutzen. Sie hetzten das Mädchen auf dich – nebenbei, mon ami, ein interessanter Fall, psychologisch gesehen; hatte sie rotes Haar?»
«Wenn du Miss Martin meinst», bemerkte ich kühl, «so hat ihr Haar einen zarten Schimmer von Kastanienbraun, aber –»
«Diese Leute sind nun einmal unübertrefflich! Sie haben sogar deine Psychologie studiert. Ja, mein Freund, Miss Martin war mit im Komplott – sogar sehr aktiv. Sie wiederholte dir den Brief, zusammen mit dem Märchen von Mr Rylands Zornesausbruch. Du schriebst es nieder, hast dein Gehirn zermartert, einen Sinn herauszufinden – die Chiffre ist fein ausgeklügelt, etwas schwierig, jedoch nicht zu schwierig – du löst sie und benachrichtigst mich!
Aber was sie nicht wissen konnten, ist die Tatsache, dass ich gerade auf dieses Ereignis gewartet habe. Unverzüglich ging ich zu Japp und traf meine Vorkehrungen. Und so, wie du gesehen hast, hat alles geklappt!»
Ich war nicht gerade begeistert von Poirots Ausführungen und ließ dies auch durchblicken. Wir benutzten den «Milchzug», der in den frühen Morgenstunden nach London fährt, eine höchst ungemütliche Reise.
Ich hatte gerade mein Bad verlassen und war in angenehme Gedanken an das bevorstehende Frühstück versunken, als ich Mr Japps mir allzu bekannte Stimme im Wohnzimmer vernahm. Ich warf einen Bademantel über und stürzte hinein.
«Dieses Mal haben Sie uns in eine ziemlich peinliche Situation gebracht», sagte Japp. «Wirklich sehr unangenehm, Monsieur Poirot; zum ersten Male habe ich feststellen müssen, dass Sie sich getäuscht haben.»
Poirots Gesichtsausdruck lässt sich nicht beschreiben. Japp fuhr fort: «So weit wären wir nun, wir hatten alle diese Schauermärchen für ernst genommen – und wen haben wir erwischt? Den Diener!»
«Den Diener?», rief ich entsetzt und schnappte nach Luft.
«Ja, den James oder wie der Mann heißt. Es hat sich herausgestellt, dass man im Dienerzimmer eine Wette abgeschlossen hatte, dass er für Ryland gehalten werden würde, und sogar bei dessen engsten Mitarbeitern – damit sind Sie gemeint, Hauptmann Hastings –, und dass er Ihnen bei dieser Gelegenheit eine Menge über eine Verbrecherbande, genannt die Großen Vier, verraten würde.»
«Das ist doch unmöglich», rief ich aus.
«Dann glauben Sie mir es eben nicht. Ich führte unseren Gefangenen geradewegs nach ‹Hatton Chase›, und dort befand sich der richtige Ryland – im Bett und in tiefem Schlaf. Der Butler aber, der Koch und Gott weiß wer noch alles sind bereit, diese Angaben zu beschwören. Nichts als ein dummer Streich, gar nichts anderes; und der Kammerdiener hat dabei mitgewirkt.»
«Deshalb also hat er sich ständig im Dunkeln gehalten», murmelte Poirot.
Nachdem Japp uns verlassen hatte, betrachteten wir uns gegenseitig lange Zeit.
«Mit Sicherheit wissen wir, Hastings», sagte Poirot endlich, «dass Nummer zwei von den Großen Vier kein anderer als Abe Ryland ist. Die Maskierung, die der Diener benützte, war eine Sicherheitsmaßnahme für den äußersten Fall. Und der Diener…»
«Weiter, weiter», forschte ich atemlos.
«… ist Nummer vier», schloss Poirot mit großem Ernst.