Ich konnte kaum länger als eine Minute ohne Bewusstsein gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich, dass ich zwischen zwei Männern vorwärts geschleppt wurde. Sie hatten mich jeder unter einem Arm gepackt, mich dabei leicht angehoben und mir einen Knebel in den Mund gesteckt. Es war stockdunkel, doch konnte ich feststellen, dass wir uns noch nicht im Freien, sondern noch innerhalb des Hotels befanden. Überall hörte ich durcheinander laufende Leute, die in allen erdenklichen Sprachen wissen wollten, was mit dem Licht passiert sei. Jetzt wurde ich eine Treppe hinuntergeschleppt. Wir passierten einen ebenerdigen langen Gang und schließlich eine Glastür, anscheinend den hinteren Ausgang des Hotels; nun befanden wir uns im Freien. Nicht viel später erreichten wir den Tannenwald. Ich nahm eine weitere Gestalt wahr, die sich in der gleichen Verfassung wie ich befand, und erkannte sogleich Poirot, der ebenfalls ein Opfer dieses kühnen Unternehmens geworden war. Diesmal hatte kühne Frechheit gesiegt. Nummer vier hatte, wie ich annahm, ein stark wirkendes Betäubungsmittel, wahrscheinlich Äthylchlorid verwendet – offenbar hatte er eine kleine Ampulle davon direkt unter unserer Nase zerbrochen. In dem allgemeinen Durcheinander während der Panne hatten alsdann seine Komplizen, die vermutlich als Gäste an den Nebentischen gesessen hatten, sich auf uns gestürzt, uns geknebelt und durch den hinteren Ausgang des Hotels geschleppt, so entgingen sie in der allgemeinen Verwirrung einer Verfolgung.
Die Stunde, die nun folgte, ist kaum zu beschreiben; in größter Eile wurden wir auf halsbrecherischen Wegen durch den Wald geführt, es ging stetig bergan. Als wir endlich aus dem Walde herauskamen, befanden wir uns an einem Bergabhang, und ich erblickte vor mir eine Anhäufung von fantastischen Felsen und Gesteinsbrocken. Dies musste das Felsenlabyrinth sein, von dem Harvey gesprochen hatte. Kreuz und quer wanden wir uns durch die zahllosen Schluchten hindurch, der Ort glich einem Irrgarten, der von einem Teufel erdacht zu sein schien.
Plötzlich hielten wir an. Ein riesengroßer Felsblock versperrte den Weg, einer der Leute bückte sich und schien etwas in Bewegung zu setzen. Völlig geräuschlos drehte sich die gewaltige Steinmasse und gab einen kleinen, tunnelartigen Eingang in das Felsmassiv frei. Hier hinein wurden wir geführt. Eine kurze Strecke war der Tunnel sehr schmal, verbreiterte sich jedoch, und nach nicht allzu langer Zeit gelangten wir in eine große Felsenkammer, die elektrisch erleuchtet war. Dort befreite man uns von den Knebeln. Auf ein Zeichen von Nummer vier, der uns gegenüberstand und uns spöttisch betrachtete, wurden wir durchsucht und sämtliche Taschen entleert. Auch Poirots kleiner Selbstlader entging nicht ihrer Aufmerksamkeit. Ein Schmerz durchzuckte mich, als er auf den Tisch geworfen wurde. Nun waren wir völlig wehrlos – hoffnungslos überwältigt und geschlagen, mit einem Wort – es war das Ende.
«Willkommen im Hauptquartier der Großen Vier, Monsieur Hercule Poirot», begrüßte uns Nummer vier mit triumphierendem Lächeln. «Es ist ein unerwartetes Vergnügen, Sie wiederzusehen. Aber war es wirklich der Mühe wert, aus dem Jenseits aufzutauchen, um dies zu erleben?»
Poirot antwortete nicht, während ich nicht wagte, ihn anzusehen.
«Folgen Sie mir», fuhr Nummer vier fort. «Ihre Ankunft wird einige Überraschung bei meinen Kollegen auslösen.»
Er zeigte auf einen engen Durchgang in der Wand. Wir folgten und befanden uns in einer anderen Kammer, an deren äußerstem Ende ein Tisch mit vier Stühlen aufgestellt war. Der Stuhl zur Linken stand leer, doch war er drapiert mit dem Mantel eines chinesischen Würdenträgers. Auf dem zweiten, eine Zigarre rauchend, saß Mr Abe Ryland. Zurückgelehnt in den dritten Stuhl, mit feurigen Augen und ihrem nonnenhaften Gesicht, sah ich Madame Olivier.
Nummer vier nahm seinen Platz auf dem vierten Sessel ein. Wir befanden uns in der Gesellschaft der Großen Vier. Nie zuvor war ich mir der Existenz und Gegenwärtigkeit von Li Chang Yen so sehr bewusst wie in diesem Augenblick, da ich seinem leeren Stuhl gegenüberstand. Obgleich weitab im Fernen Osten, kontrollierte und leitete er doch seine Verderben bringende Organisation.
Madame Olivier stieß einen Ausruf der Überraschung aus, als sie uns erkannte. Ryland jedoch schien seine Selbstbeherrschung zu bewahren, er schob nur seine Zigarre von einem Mundwinkel zum anderen und hob seine grau melierten Augenbrauen.
«Monsieur Hercule Poirot», sagte er bedächtig, «das ist eine tolle Überraschung, die Ihnen glänzend gelungen ist. Wir wähnten Sie unter der Erde wohl geborgen, aber das tut nun nichts mehr zur Sache, seit das Endspiel begonnen hat.»
Es lag ein Klang von Stahl in seiner Stimme. Madame Olivier hüllte sich in Schweigen, nur ihre Augen leuchteten, und ich hasste die Art, wie sie uns anlächelte.
«Madame et messieurs, ich wünsche Ihnen einen recht guten Abend», sagte Poirot mit äußerster Ruhe.
Etwas Ungewöhnliches, etwas in seiner Stimme, auf das ich nicht vorbereitet war, ließ mich zu ihm hinüberblicken. Er erschien durchaus gefasst, doch lag etwas in seiner ganzen Haltung, das ich nicht an ihm kannte.
Alsdann vernahmen wir das Rauschen eines Vorhangs hinter uns, und die Komtesse Rossakoff erschien auf der Bildfläche.
«Ah, sieh da», bemerkte Nummer vier, «unser allgemein geschätzter und getreuer Verbündeter. Ein alter Freund von Ihnen hat sich eingefunden, meine teure Lady.»
Die Komtesse wandte sich temperamentvoll um.
«Allmächtiger Gott!», rief sie aus. «Es ist tatsächlich der kleine Mann! Warum mischten Sie sich bloß in fremde Angelegenheiten ein?»
«Madame», erwiderte Poirot mit einer tiefen Verbeugung, «ich stehe an der Spitze meiner Armeen wie einst der große Napoleon.»
Als er sprach, sah ich einen plötzlichen Verdacht in ihren Augen aufblitzen und erkannte instinktiv im selben Moment die Wahrheit und die Bestätigung meiner früheren Annahme. Der Mann neben mir war nicht Hercule Poirot, er sah ihm zwar ähnlich, sogar außerordentlich ähnlich. Er besaß dieselbe eiförmige Kopfform, dieselbe gedrungene Gestalt und die rundlichen Glieder, doch die Stimme war nicht die gleiche – und die Augen, anstatt grün, leuchteten dunkel; und wie verhielt es sich mit seinem Schnurrbart? – war es wirklich der gleiche?
Meine Betrachtungen wurden durch die Stimme der Komtesse unterbrochen. Sie trat vor, und ihre Stimme zitterte vor Erregung. «Sie haben sich alle täuschen lassen, dieser Mann ist nicht Hercule Poirot!»
Nummer vier stieß einen Ausruf des Unglaubens aus, doch die Komtesse beugte sich vor und griff an Poirots Schnurrbart. Er blieb an ihrer Hand als Bestätigung ihrer Behauptung. Die Oberlippe war durch eine Narbe entstellt, welche den Gesichtsausdruck des Mannes völlig veränderte.
«Es ist nicht Hercule Poirot», murmelte Nummer vier, «aber wer kann es denn sonst sein?»
«Darüber kann ich Ihnen erschöpfende Auskunft geben», rief ich aus, brach jedoch schnell meine Rede ab, aus Angst, etwas verdorben zu haben.
Jedoch der Mann, den ich noch immer als Hercule Poirot bezeichnen möchte, wandte sich mir ermutigend zu.
«Fahre nur fort mit dem, was du sagen wolltest, es ändert jetzt doch nichts mehr an der Sache, da unser Trick gelungen ist.»
«Dieser Mann ist Achille Poirot», sagte ich langsam, «Hercule Poirots Zwillingsbruder.»
«Das ist doch unmöglich!», rief Ryland in scharfem Tone, jedoch anscheinend tief beeindruckt.
«Hercules Pläne haben sich wie ein Wunder erfüllt», sagte Achille mit äußerster Ruhe.
Nummer vier stürzte vorwärts, seine Stimme hart und drohend.
«Erfüllt?», knurrte er. «Sind Sie sich darüber im Klaren, dass Sie in ganz kurzer Zeit ein toter Mann sein werden?»
«Allerdings», erwiderte Achille mit tiefem Ernst, «darüber bin ich mir klar, Sie werden es wahrscheinlich nicht begreifen können, dass ein Mann willens sein könnte, einen Erfolg mit seinem Leben zu bezahlen. Es hat stets Männer gegeben, die ihr Leben im Kriege für ihre Heimat opferten, ich bin bereit, das meinige für das Fortbestehen der ganzen Welt zu opfern.» Obgleich ich keine Minute gezögert hätte, das Gleiche zu tun für die gerechte Sache, so traf es mich doch ziemlich hart, dass ich bezüglich dieses Punktes vorher nicht befragt worden war. Dabei erinnerte ich mich, dass Poirot mich immer wieder gedrängt hatte, im Hintergrund zu bleiben – nun auf einmal betrachtete man meinen Opfergang als Selbstverständlichkeit? Doch ich musste mich mit den gegebenen Tatsachen abfinden.
«Und wie stellen Sie sich das vor, dass Sie mit der Preisgabe Ihres Lebens etwas an dem Schicksal der Welt ändern könnten?», fragte Ryland höhnisch.
«Aus Ihrer Frage ersehe ich, dass Sie Hercules Pläne nicht durchschaut haben. Um gleich reinen Tisch zu machen, der Ort für Ihre hiesigen Unternehmungen war bereits seit einigen Monaten bekannt, alle Hotelgäste und Bediensteten sind Detektive und Mitglieder des Geheimdienstes. Eine Abriegelung des gesamten Bergmassivs ist in die Wege geleitet worden. Sie mögen so viele Fluchtmöglichkeiten erwägen wie Sie wollen, doch können Sie nicht mehr entweichen. Hercule Poirot selbst leitet außerhalb die erforderlichen Operationen. Die Sohlen meiner Schuhe wurden mit einem Anisöl-Präparat getränkt, bevor ich von meinem Zimmer wieder zur Terrasse herunterkam, um Hercules Platz einzunehmen. Es werden Spürhunde verwendet, um den jetzigen Ort meiner Anwesenheit zu ermitteln. Die Spur wird mit unfehlbarer Sicherheit an den Eingang des Felsenlabyrinths führen. Sie werden einsehen, dass alle Ihre Vorhaben zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, denn das Netz ist unweigerlich über Ihnen zusammengezogen. Ein Entrinnen ist völlig unmöglich.»
Madame Olivier brach plötzlich in ein hysterisches Lachen aus. «Da befinden Sie sich aber in einem großen Irrtum, mein Herr, es gibt einen Weg, Ihnen zu entkommen und gleich Samson im Altertum gleichzeitig unsere Feinde zu erledigen. Was sagen Sie nun, mein Freund?»
Ryland starrte gebannt zu Achille Poirot herüber.
«Angenommen, es ist alles Lüge, was er vorgebracht hat?», warf Ryland mit heiserer Stimme ein.
Die anderen zuckten mit den Schultern.
«In einer Stunde beginnt die Dämmerung, dann werden Sie sich von der Richtigkeit meiner Worte überzeugen können. Man wird meine Spur bereits bis zum Eingang des Felsenlabyrinths verfolgt haben.» In diesem Moment war von weither ein Stimmengewirr vernehmbar, und ein Mann lief, unzusammenhängende Worte ausstoßend, in den Raum. Ryland sprang auf und begab sich hinaus. Madame Olivier ging zur gegenüberliegenden Seite des Raumes und öffnete eine Tür, die bisher meiner Aufmerksamkeit entgangen war. Ich konnte gerade noch einen schnellen Blick in ein vollständig eingerichtetes Laboratorium werfen, das mich an Paris erinnerte.
Nummer vier sprang gleichfalls auf und verließ den Raum, kam jedoch nach kurzer Zeit wieder und drückte der Komtesse den Selbstlader von Poirot in die Hand.
«Es besteht zwar keine Gefahr, dass sie uns entkommen», sagte er grimmig, «aber auf alle Fälle haben Sie dieses hier.»
Gleich darauf war er wieder draußen.
Die Komtesse kam zu uns herüber und betrachtete meinen Gefährten einige Zeit mit größter Aufmerksamkeit. Plötzlich lachte sie hell auf.
«Sie scheinen Ihrem Bruder in nichts nachzustehen, Monsieur Achille Poirot», sagte sie spöttisch.
«Madame, lassen Sie uns doch lieber zum Geschäft kommen. Glücklicherweise hat man uns allein gelassen. Sagen Sie uns Ihren Preis.»
«Ich verstehe nicht recht…»
«Madame, Sie können uns zur Flucht verhelfen, da Ihnen die Geheimausgänge dieses Labyrinths bekannt sind. Darum frage ich Sie nochmals, was fordern Sie?»
Sie lachte abermals.
«Mehr, als Sie jemals zahlen könnten, mein kleiner Mann! Kein Geld der ganzen Welt kann mich erkaufen!»
«Madame, ich habe aber nicht von Geld gesprochen, denn ich verfüge über etwas Intelligenz. Doch Tatsache ist – dass jedermann seinen Preis hat. Im Austausch gegen Leben und Freiheit biete ich Ihnen die Erfüllung Ihres Herzenswunsches.»
«Sind Sie etwa ein Zauberer?»
«Sie können mich dafür halten, wenn Sie wollen.»
Die Komtesse ließ plötzlich ihren bis dahin höhnischen Ton fallen und sprach mit leidenschaftlicher Verbitterung.
«Sie Narr – sprechen über meinen Herzenswunsch! Können Sie mich etwa an meinen Feinden rächen? Können Sie mir Jugend, Schönheit und ein frohes Herz wiedergeben? Können Sie einen Toten wieder zum Leben erwecken?»
Achille Poirot betrachtete sie mit wachsender Aufmerksamkeit. «Welches von den drei Dingen wünschen Sie, Madame? Bitte treffen Sie Ihre Wahl.»
Sie lachte wiederum hell auf. «Wollen Sie mir vielleicht ein Lebenselixier verkaufen? Doch hören Sie, ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Ich hatte einst ein Kind, machen Sie ausfindig, wo es sich befindet – und Sie sind frei.»
«Madame, ich bin einverstanden. Es ist ein guter Vorschlag, und Ihr Kind soll Ihnen wohlbehalten wieder zugeführt werden. Auf das Wort von – nun, auf das Wort von Hercule Poirot selbst.»
Wieder nahm uns die seltsame Frau nicht ernst – diesmal lachte sie lange und schmerzlich.
«Mein lieber Poirot, ich glaube, Ihnen eine kleine Falle gestellt zu haben. Es ist zwar sehr freundlich von Ihnen, mich in der Hoffnung zu bestärken, mein Kind wieder finden zu können, aber sehen Sie, ich weiß zufällig, dass es eine sehr vage Hoffnung ist, und so würde unser Handel ein einseitiger sein, nicht wahr?»
«Madame, ich schwöre Ihnen bei dem allmächtigen Himmel, dass ich Ihnen Ihr Kind wiederbringen werde.»
«Ich stellte bereits früher an Sie die Frage, Monsieur Poirot, ob Sie die Toten wieder zum Leben erwecken können.»
«Dann ist dieses Kind also tot?»
«Ja, so ist es leider.»
Er ging auf sie zu und ergriff ihr Handgelenk.
«Madame, ich, der ich zu Ihnen spreche, schwöre Ihnen nochmals, ich werde das scheinbar Unmögliche möglich machen.»
Sie starrte ihn ungläubig und fasziniert an.
«Sie wollen es mir nicht glauben, so will ich denn meine Worte unter Beweis stellen. Sehen Sie in mein Taschenbuch, welches man mir fortgenommen hat.»
Sie verließ den Raum und kam mit dem besagten Taschenbuch zurück. In der anderen Hand hielt sie unausgesetzt den Revolver drohend auf uns gerichtet, und ich fühlte, dass die Chancen von Achille, sie zu bluffen, auf sehr schwachen Füßen standen. Die Komtesse war bestimmt keine Närrin.
«Öffnen Sie das Taschenbuch, Madame, und zwar die linksseitige Klappe, ja, so ist es recht. Nun entnehmen Sie das Foto und schauen es sich bitte genau an.»
Verwundert entnahm sie dem Fach etwas, das ein kleines Foto zu sein schien, skeptisch betrachtete sie es, stieß einen Schrei aus, und ich dachte, sie würde in Ohnmacht fallen. Dann eilte sie auf meinen Gefährten zu.
«Wo ist er, sagen Sie mir um Himmels willen, wo befindet er sich?»
«Erinnern Sie sich meines Vorschlages, Madame!»
«Ja, selbstverständlich, ich will Ihnen nun glauben, wir müssen uns beeilen, bevor man zurückkommt.»
Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn schnell, jedes laute Geräusch vermeidend, aus der Kammer. Ich folgte ihnen unmittelbar. Von dem Vorraum gelangten wir zu dem Tunnel, den wir zuvor passiert hatten und der sich nach kurzer Zeit gabelte. Sie bog nach rechts ein. Wieder und immer wieder gelangten wir an Abzweigungen, doch sie führte uns mit unfehlbarer Sicherheit und stets wachsender Eile weiter.
«Wenn wir nur noch zur Zeit kommen», keuchte sie außer Atem. «Wir müssen uns im Freien befinden, bevor die Explosion erfolgt.»
Und weiter hasteten wir, keine Sekunde verlierend. Ich berechnete, dass dieser Tunnel rechts durch den Berg führen musste und wir an der entgegengesetzten Seite ins Freie gelangen müssten. Der Schweiß rann mir vom Gesicht, doch die Angst trieb uns immer weiter vorwärts.
Dann erblickte ich endlich, ganz weit entfernt, einen Schimmer von Tageslicht. Als wir uns diesem Punkte näherten, sah ich grünes Buschwerk durchschimmern. Dort angekommen, bogen wir es beiseite und suchten uns einen Durchgang. Endlich atmeten wir auf, wir befanden uns im Freien und im Lichte der bereits einsetzenden Morgendämmerung. Poirots Belagerungsring bestand wirklich und funktionierte tadellos. Als wir aus dem Dickicht hervorbrachen, stürzten sich drei Männer auf uns, ließen uns jedoch mit einem Ausruf der Verwunderung gleich wieder frei. «Schnell fort», rief Poirot uns allen zu, «wir haben wirklich keine Zeit zu verlieren!»
Aber noch hatte er diese Worte kaum beendet, da erzitterte der Erdboden unter unseren Füßen, ein furchtbares Rollen ertönte, und der ganze Berg schien in sich zusammenzustürzen. Kopfüber flogen wir durch die Luft.
Als ich endlich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem fremden Bett und einem fremden Raum. Jemand saß am Fenster, drehte sich nach mir um und kam zu meinem Bett. Es war – Achille Poirot – oder konnte es jemand anders sein? Eine mir wohl bekannte ironische Stimme verjagte alle Zweifel, die ich noch hätte haben können.
«Ja, du täuschst dich nicht, mein Freund, ich bin es wirklich. Bruder Achille ist wieder heimgegangen – in das Land des Mythos. Während der ganzen Zeit bist du ausschließlich nur in meiner Gesellschaft gewesen. Nicht nur Nummer vier ist in der Lage, sich zu maskieren. Ich hatte meine Augen mit Belladonna behandelt und meinen Schnurrbart geopfert. Ferner besitze ich eine richtige Narbe, deren Beibringung mir vor zwei Monaten beträchtliche Schmerzen verursacht hat, denn ich konnte mir doch keinen Betrug unter den Adleraugen von Nummer vier leisten. Und endlich, dein Wissen und Glauben an die Existenz meines Bruders Achille… unbezahlbar war die Hilfe, die du mir unbewusst hast zuteil werden lassen, der halbe Erfolg des ganzen Coups ist auf dein Konto zu setzen! Die größte Schwierigkeit lag darin, die Anwesenden glauben zu machen, dass Hercule Poirot die Leitung der Operationen außerhalb des Labyrinths in Händen hätte. Meine Angaben, das Anisöl sowie den Kordon betreffend, stimmten jedoch genau.»
«Aber sage mir doch um Himmels willen, warum hast du nicht in Wirklichkeit einen Doppelgänger eingesetzt?»
«Und dich damit einer solch drohenden Gefahr auszusetzen, ohne persönlich an deiner Seite stehen zu dürfen? Da hast du aber eine schöne Auffassung von den Grundsätzen deines Freundes. Beiläufig erwähnt, hatte ich zu jeder Zeit die Gewissheit auf einen Ausweg mit Hilfe der Komtesse.»
«Wie in aller Welt hast du es fertig bekommen, sie auf unsere Seite zu bringen? Du hast doch da einen ziemlich plumpen Schwindel angewandt… in Bezug auf das tote Kind.»
«Da verfügt die Komtesse aber über einen weit größeren Scharfblick als du, mein lieber Hastings, das muss ich schon sagen. Im ersten Augenblick wurde sie getäuscht durch meine Maske, doch das währte nicht lange. Als sie bemerkte: ‹Sie scheinen Ihrem Bruder in nichts nachzustehen, Monsieur Achille Poirot›, da wusste ich bereits, dass sie meine Tarnung durchschaut hatte. Dann war die Zeit gekommen, meine letzte Trumpfkarte auszuspielen.»
«Etwa das Märchen, einen Toten wieder zum Leben zu erwecken?»
«Genau das – aber du konntest ja nicht wissen, dass ich das Kind seit langem schon in Sicherheit hatte.»
«Was meinst du damit? Ich verstehe nicht ganz…»
«Du kennst ja meinen Wahlspruch – bereit sein ist alles. Sobald ich wusste, dass die Komtesse Rossakoff mit den Großen Vier in Verbindung stand, hatte ich alle möglichen Nachforschungen in Bezug auf ihr Vorleben angestellt. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass sie ein Kind gehabt hatte, welches als tot registriert war. Alsbald stellte ich Unstimmigkeiten fest, die mich in der Annahme bestärkten, dass es doch noch am Leben sei. Schließlich waren meine Bemühungen von Erfolg gekrönt, ich fand den Jungen, und er wurde mir übergeben, nachdem ich ein erhebliches Lösegeld bezahlt hatte. Der arme kleine Kerl war beinahe verhungert. Ich gab ihn zu freundlichen Leuten in sichere Obhut und machte ein Foto von ihm in seiner neuen Umgebung. So hatte ich denn, als die Zeit gekommen war, meinen kleinen Theatercoup bereit.»
«Du bist unvergleichlich, Poirot, ganz wundervoll!»
«Ich war selbst froh und glücklich, dass es mir gelungen war, den Kleinen zu retten, denn ich hatte immer eine gewisse Bewunderung für die Komtesse empfunden, und es wäre mir sehr nahe gegangen, wenn sie bei der Explosion hätte ihr Leben lassen müssen.»
«Ich habe noch gar nicht gewagt, danach zu fragen, was aus den Großen Vier geworden ist.»
«Alle Leichen wurden bereits identifiziert, diejenige von Nummer vier war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, der Kopf in tausend Stücke gerissen. Ich wünschte – ja, ich wünschte sehnlichst, es wäre anders ausgegangen. Bedeutend lieber wäre es mir gewesen, seines Todes ganz sicher zu sein – aber genug davon. Sieh dir einmal dies an.»
Er gab mir eine Zeitung, in welcher eine Meldung dick unterstrichen war. Sie enthielt den Bericht über den Selbstmord von Li Chang Yen, der kürzlich eine Revolution vorbereitet hatte, die aber gänzlich zusammengebrochen war.
«Mein großer Gegenspieler», sagte Poirot mit tiefem Ernst. «Es war bestimmt, dass er und ich uns nie von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen durften. Als er von dem Fehlschlagen seiner Pläne auf dem Kontinent hörte, wählte er den einfacheren Ausweg. Er war ein großes Genie, mon ami, ein wahres Genie. Doch zu gern hätte ich das wahre Gesicht gesehen von dem Manne, den wir als Nummer vier gekannt haben; da er nun tot ist, habe ich nur eine unklare Vorstellung von ihm. Oui, mon cher Hastings, wir haben nun drei der Großen Vier mit eigenen Augen gesehen und zur Strecke gebracht, nun wirst du zu deiner charmanten Frau zurückkehren, und ich – nun, ich werde mich von meinen Geschäften zurückziehen. Der größte Fall meines Lebens liegt hinter mir. Alles, was noch nachkommen kann, dürfte äußerst uninteressant sein im Vergleich zu diesem Erlebnis.
So ist es denn mein fester Entschluss, mich endgültig zurückzuziehen, möglicherweise werde ich Kürbisse pflanzen! Vielleicht werde ich sogar heiraten und sesshaft werden!» Er lachte herzlich bei dem Gedanken, jedoch nicht ohne einen Anflug von Verlegenheit.
«Ich sehne mich sogar danach… Kleine Leute bevorzugen stets große, rotblonde Frauen… Heiraten und ein Heim gründen», meinte er versonnen. «Wer weiß?»