3

Noch zwei bis drei Tage nach Erscheinen des Mannes, der sich als Aufseher der Irrenanstalt ausgegeben hatte, hegte ich die geheime Hoffnung, er würde nochmals zurückkommen; ich wagte es deshalb nicht, die Wohnung auch nur für einen Moment zu verlassen. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte er keinen Grund zu der Annahme, dass wir ihn durchschaut hatten. Ferner glaubte ich, dass er zurückkommen werde, um die Leiche abzuholen, jedoch Poirot war anderer Meinung.

«Mon ami», sagte er, «wenn du es für richtig hältst, kannst du versuchen, diesen Vogel einzufangen, hingegen habe ich nicht die Absicht, meine Zeit mit Warten zu verlieren.»

«Du magst vollkommen Recht haben, Poirot», entgegnete ich, «aber warum nahm er überhaupt das Risiko auf sich, in Erscheinung zu treten? Wenn er beabsichtigte, später den Toten abzuholen, so wäre sein Besuch begründet gewesen. Zumindest wäre er dann kaum verdächtig gewesen. Da er jedoch bis jetzt nicht wiedergekommen ist, scheint mir sein Erscheinen völlig nutzlos gewesen zu sein.»

Poirot antwortete mit seinem typischen Achselzucken. «Du siehst eben die Angelegenheit nicht vom Standpunkt von Nummer vier, lieber Hastings. Du sprichst von Verdacht, aber welchen Verdacht hegen wir eigentlich gegen ihn? Allerdings, wir haben einen Toten, aber wir haben noch lange nicht den Beweis, dass er tatsächlich ermordet wurde – Blausäure hinterlässt beim Einatmen keinerlei Spuren. Außerdem können wir keinen Zeugen vorbringen, der bestätigen kann, dass jemand unsere Wohnung während unserer Abwesenheit betreten hat. Wir haben auch noch nichts bezüglich der Vergangenheit unseres verstorbenen Freundes Mayerling in Erfahrung gebracht. Nein, Hastings, Nummer vier hat keinerlei Spuren hinterlassen, und das weiß er genau. Sein Besuch dürfte rein informatorischer Art gewesen sein. Vielleicht wollte er sich überzeugen, dass Mayerling tatsächlich tot war, jedoch viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass er gekommen ist, um Hercule Poirot zu sehen und mit dem einzigen Widersacher zu sprechen, den zu fürchten er allen Grund hat.»

Poirots Ausführungen erschienen mir ziemlich überheblich, jedoch hielt ich es für richtiger, nichts zu erwidern.

«Und wie gedenkst du dich bei der Leichenschau zu verhalten?», fragte ich. «Ich nehme an, dass du über deine Wahrnehmungen berichten und der Polizei eine ausführliche Beschreibung von Nummer vier liefern wirst.»

«Zu welchem Zweck? Können wir irgendetwas anführen, was eine Totenschaukommission von überaus gründlichen britischen Beamten bei der Leichenschau überzeugen würde, dass es sich um einen Mord handelt? Hat unsere Beschreibung von Nummer vier irgendwelchen praktischen Wert? Nein, wir werden sie eine vollkommen normale Todesursache feststellen lassen, und vielleicht, obwohl ich nicht daran glaube, wird unser durchtriebener Mörder sich ins Fäustchen lachen und glauben, er habe Hercule Poirot einmal täuschen können.»

Poirot sollte auch dieses Mal Recht behalten. Von dem Aufseher der Heilanstalt hörten wir nichts mehr, und der Befund, welchem ich so große Bedeutung beigemessen hatte, über den Poirot jedoch absichtlich nichts verlauten ließ, kam nicht an die Öffentlichkeit.

Da Poirot im Hinblick auf seine beabsichtigte Reise nach Südamerika bereits vor meiner Ankunft alle seine Angelegenheiten abgeschlossen hatte, war er im Augenblick nicht mit der Aufklärung anderer Fälle beschäftigt. So hielt er sich denn den ganzen Tag über in seiner Wohnung auf und blieb ziemlich einsilbig. Er saß in seinem Lehnsessel versunken und wusste stets meinen Bemühungen, eine Unterhaltung anzuknüpfen, auszuweichen.

Eines Morgens jedoch, ungefähr eine Woche nach dem Mord, fragte er mich, ob ich Lust hätte, ihn zu begleiten, da er die Absicht habe, einen Besuch zu machen. Ich stimmte freudig zu, denn ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass er nicht gut daran tat, wenn er versuchte, den Fall allein zu lösen, und ich brannte darauf, die Sache mit ihm zu besprechen. Er war jedoch weiterhin gar nicht mitteilsam. Er würdigte mich nicht einmal einer Antwort, als ich fragte, wohin wir uns begäben. Poirot liebte es nun einmal, sich mit Geheimnissen zu umhüllen. Stets war er bestrebt, seine Informationen bis zum letzten Augenblick zurückzuhalten, und dieses Mal würde es auch nicht anders sein. Nachdem wir nacheinander einen Bus und zwei Straßenbahnen benutzt hatten, gelangten wir in die Umgebung einer der schäbigsten Vorstädte südlich von London. Erst dann bequemte er sich zu einer Erklärung.

«Wir gehen jetzt zu einem Mann, Hastings, der in England als größter Kenner der chinesischen Untergrundbewegung gilt.»

«Tatsächlich, wer ist das?»

«Es ist ein Mann, dessen Name dir völlig neu ist – Mr John Ingles. Er ist irgendein pensionierter Staatsbeamter und besitzt ein Haus, voll von chinesischen Raritäten, mit welchen er seine Freunde und Bekannten langweilt. Trotzdem weiß ich von Leuten, die ihn näher kennen, dass er der einzige Mann ist, der mir die Informationen geben kann, die ich brauche.»

Nach kurzer Zeit betraten wir die Stufen von «The Laurels», wie Mr Ingles’ Haus benannt war. Ich konnte nirgends auch nur eine Spur irgendwelcher Lorbeersträucher entdecken, doch es war wohl einer der üblichen Namen in dieser Gegend. Wir wurden von einem chinesischen Diener eingelassen und zum Arbeitszimmer seines Herrn geleitet. Mr Ingles war ein Mann von untersetzter Statur, einem etwas gelblichen Gesicht und tief liegenden Augen, die seltsam nachdenklich blicken konnten. Er erhob sich, um uns zu begrüßen, und legte einen Brief, den er gerade überflogen hatte, zur Seite. Nach der Begrüßung kam er sogleich zur Sache.

«Wollen Sie bitte Platz nehmen? Halsey schreibt mir hier, dass Sie einige Informationen in einer bestimmten Angelegenheit wünschen, und nimmt an, ich könnte Ihnen hierin behilflich sein.»

«Das ist vollkommen richtig, Monsieur. Ich möchte Sie bitten, mir mitzuteilen, ob Ihnen ein Mann namens Li Chang Yen bekannt ist.»

«Das ist seltsam, wirklich sehr seltsam! Wie kommen Sie auf diesen Mann?»

«Sie kennen ihn also?»

«Ich habe ihn einmal gesehen. Und ich weiß etwas über ihn – jedoch nicht so viel, wie ich gerne möchte. Immerhin bin ich ziemlich überrascht, dass jemand in England auch nur von ihm gehört hat. Er ist ein bedeutender Mann – auf seine Art –, ein Mandarin, also ein hoher Würdenträger, aber das ist nicht die Hauptsache. Es besteht ein guter Grund zu der Annahme, dass er, als Mann im Hintergrund, für alles verantwortlich ist.»

«Für alles?»

«Ja, für alles, für die Unruhe in der ganzen Welt, die Störungen des Arbeitsfriedens, von denen jede Nation befallen ist, für Revolutionen, die da und dort ausbrechen. Es gibt Leute, und zwar keine Schwätzer, die behaupten, dass eine geheime Macht hinter dem Weltgeschehen steht. Eine Macht, die nach nichts Geringerem strebt, als nach der völligen Auflösung der Zivilisation. Wie Ihnen wohl bekannt ist, sprach in Russland alles dafür, dass Lenin und Trotzki nichts weiter als Marionetten waren, deren Handlungen durch das Gehirn eines anderen geleitet wurden. Ich habe zwar keine greifbaren Beweise in Händen, bin jedoch völlig davon überzeugt, dass es das Gehirn von Li Chang Yen war.»

«Ist das nicht etwas weit hergeholt?», wandte ich ein. «Wie sollte ein Chinese irgendeinen Einfluss auf die Geschehnisse in Russland haben?»

Poirot warf mir einen gereizten Blick zu.

«Für dich, Hastings», sagte er, «ist alles weit hergeholt, was nicht deiner eigenen Vorstellung entspringt. Ich meinerseits stimme jedoch der Ansicht dieses Herrn völlig zu. Aber bitte, Monsieur, fahren Sie fort.»

«Was er in Wirklichkeit mit allem bezweckt, kann ich Ihnen leider nicht mit Sicherheit sagen», fuhr Mr Ingles fort, «aber ich neige zu der Annahme, dass er von einem Größenwahn befallen ist, ähnlich dem, der in der Zeit von Akbar und Alexander bis zu Napoleon alle großen Genies befallen hat, ein Streben nach absoluter Macht und ein persönliches Geltungsbedürfnis. Bis zu unseren modernen Zeiten waren stets Armeen zu Eroberungszwecken notwendig, heute jedoch kann ein Mann wie Li Chang Yen vielleicht andere und weitaus wirksamere Mittel ergreifen. Ich habe Beweise, dass ihm für Bestechung und Propagandazwecke unbeschränkte Geldmittel zur Verfügung stehen, dass technische Errungenschaften in seinen Händen liegen, von deren Wirksamkeit die Welt keine Ahnung hat.»

Poirot folgte den Ausführungen Mr Ingles’ mit gespannter Aufmerksamkeit.

«Und in China?», fragte er. «Laufen da seine Fäden in gleicher Richtung?»

Mr Ingles nickte zustimmend.

«Ganz eindeutig», sagte er, «obwohl ich keine Beweise erbringen kann, die hieb- und stichfest sind – ich spreche nur aus eigener Erfahrung. Ich selbst kenne jede einflussreiche Persönlichkeit im heutigen China und kann Ihnen versichern, dass die Personen, die in der breiten Öffentlichkeit auftreten, meistens nur geringen oder gar keinen Einfluss haben. Es sind Marionetten, die von Meisterhand geleitet werden, und diese Hand ist Li Chang Yens Hand. Er ist der leitende Kopf im Fernen Osten. Wir verstehen den Osten nicht und werden ihn niemals verstehen. Jedoch in Li Chang Yen haben wir die treibende Kraft. Nicht etwa, dass er im Rampenlicht erscheint, nein, keineswegs, er verlässt seinen Palast in Peking nie. Doch zieht er an seinen Fäden, nur an den Fäden – und weit entfernt geschehen Dinge.»

«Und es gibt niemanden, der sich ihm entgegenstellt?», fragte Poirot.

Mr Ingles beugte sich in seinem Stuhl vor.

«Vier Leute haben es in den letzten vier Jahren versucht», sagte er langsam, «Männer von Format, ehrliche und kluge Männer. Jeder von ihnen wäre fähig gewesen, seinen Plänen wirksam entgegenzutreten.» Er zögerte.

«Und weiter?», fragte ich.

«Nun, sie sind alle tot. Der eine schrieb einen Zeitungsartikel und brachte Li Chang Yens Namen mit den Aufständen in Peking in Verbindung; innerhalb von zwei Tagen fand man ihn erdolcht auf der Straße. Der Mörder wurde nie ermittelt. Die Umstände bei zwei andern lagen ähnlich. In einer Rede oder einem Artikel oder nur bei einer Unterhaltung sprachen beide von Li Chang Yen in Verbindung mit einem Aufruhr oder einer Revolte, und innerhalb einer Woche nach dieser Indiskretion waren sie tot. Der eine wurde vergiftet, der andere starb an Cholera; ein Einzelfall – nicht etwa infolge einer Epidemie. Und ein anderer wurde tot in seinem Bett gefunden. Die Todesursache wurde nie festgestellt, aber ein Arzt, der die Leiche gesehen hat, berichtete mir, dass sie verbrannt und verkohlt gewesen sei, als habe ein elektrischer Schlag von unvorstellbarer Kraft sie getroffen.»

«Und Li Chang Yen?», forschte Poirot. «Alle Ermittlungen in dieser Richtung waren natürlich ergebnislos, aber es gab doch sicher Anhaltspunkte?»

Mr Ingles zuckte die Achseln.

«Oh, Anhaltspunkte – ja sicherlich. Ich habe einmal einen Chemiker getroffen, der mir etwas mitteilen wollte, einen intelligenten jungen Chinesen, der von Li Chang Yen protegiert wurde. Eines Tages kam dieser junge Chemiker zu mir, und ich war überzeugt, dass er am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Er sprach im Vertrauen von Experimenten an Kulis, bei welchen in Ekel erregender Geringschätzung von Leib und Leben Operationen durchgeführt wurden. Seine Nerven waren völlig zerrüttet, und er litt an Angstzuständen. Ich bettete ihn in das Giebelzimmer meines Hauses, in der Absicht, am nächsten Tage mehr aus ihm herauszuholen – und dies erwies sich als sehr unklug.»

«Wie haben sie ihn umgebracht?», wollte Poirot wissen.

«Das werde ich wohl nie erfahren. Als ich in der Nacht erwachte, stand mein Haus in Flammen, und dank einem guten Stern konnte ich noch das nackte Leben retten. Spätere Nachforschungen ergaben, dass ein Feuer von erstaunlicher Intensität in dem Giebelzimmer ausgebrochen war, und man fand die Überreste meines jungen Freundes zu Asche verkohlt.»

Ich konnte aus der Ernsthaftigkeit, mit der Mr Ingles gesprochen hatte, ersehen, dass es ihm richtig gut getan hatte, sich einmal alles vom Herzen zu reden, und auch er wurde sich dessen bewusst, denn er lächelte verlegen.

«Natürlich», meinte er, «ich habe keinerlei Beweise in Händen, und Sie, wie auch andere, werden nun sagen, all dieses hätte sich nur in meiner Fantasie zugetragen.»

«Im Gegenteil», wandte Poirot ein, «wir haben allen Grund, Ihren Ausführungen Glauben zu schenken. Wir sind selbst daran interessiert, alles über Li Chang Yen zu erfahren.»

«Sehr seltsam, dass Sie überhaupt von seiner Existenz wissen; ich bildete mir immer ein, dass außer mir keine Seele in England je etwas über ihn gehört hätte. Ich möchte zu gerne wissen, wie Sie darauf kamen, etwas über ihn erfahren zu wollen – wenn es nicht indiskret von mir ist.»

«Nicht im Geringsten, Monsieur. Ein Mann suchte Zuflucht bei mir. Er litt unter starken Schockeinwirkungen, konnte uns jedoch gerade noch so viel berichten, um unser Interesse an Li Chang Yen zu wecken. Er sprach von vier Leuten, den Großen Vier, einer Organisation, von der wir uns keine Vorstellung machen können. Nummer eins sei Li Chang Yen, Nummer zwei ein unbekannter Amerikaner, Nummer drei eine gleichfalls unbekannte Französin, Nummer vier, wenn man ihn so bezeichnen darf, das ausführende Glied der Organisation – ‹der Zerstörer›. Der Mann, der mir diese Informationen gab, ist tot. Sagen Sie, Monsieur, sind Sie einmal auf die Bezeichnung ‹die Großen Vier› gestoßen?»

«Nicht in Verbindung mit Li Chang Yen. Darüber ist mir nichts bekannt, aber gelesen habe ich davon, und zwar unlängst in einer ebenso ungewöhnlichen Verbindung. Ah, jetzt erinnere ich mich!»

Er erhob sich und ging zu einem lackierten Schränkchen, einem seltenen und kostbaren Möbelstück, und kam mit einem Brief in der Hand zurück. «Hier habe ich ihn. Ein Brief von einem alten Seemann, mit dem ich einst in Shanghai zusammengetroffen bin, einem alten, eisgrauen Globetrotter, unheilbar dem Trunke ergeben. Ich habe die Mitteilung nicht ernst genommen, dachte, dies sei ja nur das leere Gerede eines Alkoholikers.» Laut las er nun Folgendes vor:


«Mein lieber Freund,

Sie werden sich meiner wohl kaum erinnern, doch haben Sie mir seinerzeit in Shanghai einen Gefallen getan. Ich möchte Sie nochmals um Ihre Hilfe bitten: Ich muss Geld haben, um dieses Land verlassen zu können. Ich hoffe zwar, dass mein jetziges Versteck gut gewählt ist, aber eines Tages werden sie mich doch erwischen. Die Großen Vier, meine ich. Es geht um Leben und Tod. Ich habe zwar Geld genug nur wage ich nicht, es abzuheben, aus Furcht, mich damit zu verraten. Senden Sie mir einige hundert Pfund, ich werde sie Ihnen getreulich zurückzahlen – ich schwöre es Ihnen. Ihr sehr ergebener

Jonathan Whalley.


Abgesandt aus ‹Granite Bungalow›, Hoppaton, Dartmoor. Ich hatte es als einen ziemlich plumpen Versuch angesehen, mich um einige hundert Pfund leichter zu machen, die ich schwerlich entbehren konnte. Wenn Ihnen der Brief irgendwie von Nutzen sein kann…» Er überreichte uns das Schreiben.

«Ich bin Ihnen sehr verbunden, Monsieur, und werde mich noch in dieser Stunde auf den Weg nach Hoppaton machen.»

«Wirklich? Das scheint interessant zu werden. Hätten Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn ich mich Ihnen anschließe?»

«Ich würde es sehr begrüßen, in Ihrer Gesellschaft zu reisen, aber wir müssen uns unverzüglich auf den Weg machen. So erreichen wir Dartmoor am Spätnachmittag.»

John Ingles war bald reisefertig, und schon saßen wir in der Eisenbahn, die von Paddington nach dem Westen führt. Hoppaton ist ein kleines Dorf am Rande des Moores, fünfzehn Kilometer von Moreton-Hampstead entfernt, und wir erreichten es nach kurzer Fahrt. Es war bereits zwanzig Uhr, jedoch war es ein heller Juliabend. In den engen Straßen des Dorfes sprachen wir einen alten Bauern an, um uns nach dem rechten Weg zu erkundigen.

«‹Granite Bungalow›», wiederholte der alte Mann nachdenklich, «wollen Sie wirklich dorthin?»

Als wir bejahten, wies der Alte auf ein kleines graues Haus am Ende der Straße.

«Das dort ist der Bungalow. Wollen Sie den Inspektor sprechen?»

«Welchen Inspektor?», fragte Poirot kurz. «Was meinen Sie damit?»

«Haben Sie denn nichts von der Bluttat gehört? Es soll furchtbar gewesen sein, man spricht von Strömen von Blut.»

«Mon Dieu!», murmelte Poirot. «Wir müssen unverzüglich diesen Inspektor sprechen.»

Kurz darauf lernten wir Inspektor Meadows kennen. Er verhielt sich zuerst ziemlich abweisend, doch als Poirot sich auf Inspektor Japp von Scotland Yard bezog, wurde er zugänglicher.

«Ja, mein Herr, heute Morgen wurde der Mord entdeckt. Eine bestialische Tat. Man verständigte die Polizei in Moreton, und ich fuhr sogleich hierher. Zuerst sah die Sache sehr geheimnisvoll aus. Der alte Herr war ungefähr siebzig und liebte einen guten Tropfen. Er lag am Boden seines Wohnzimmers, hatte eine Beule am Kopf, und seine Kehle war von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten. Überall floss Blut, wie Sie sich wohl denken können. Die Frau, welche für ihn kochte, Betsy Andrews, sagte aus, dass ihr Herr im Besitze mehrerer kleiner Jadefiguren war, von denen er behauptete, dass sie sehr wertvoll seien, und diese waren verschwunden. Es sah also nach Raubmord aus, und doch hatten wir Bedenken. Außer Mrs Andrews, die aus Hoppaton stammt, hatte Mr Whalley noch einen Diener, einen groben, unzugänglichen Kerl namens Robert Grant. Dieser war eben zu einem benachbarten Bauernhof gegangen, wie jeden Tag, um Milch zu holen, während Betsy gerade vor dem Haus mit einer Nachbarin plauderte. Sie war nicht länger als zwanzig Minuten draußen – zwischen zehn Uhr und zehn Uhr zwanzig, und in dieser Zeit muss das Verbrechen geschehen sein. Grant kam als Erster zum Haus zurück. Er ging wie gewöhnlich durch die Hintertür, die offen stand – denn niemand hält hier in der Gegend seine Tür verschlossen, schon gar nicht am hellen Tage –, stellte die Milch in die Speisekammer und ging in sein Zimmer, um die Zeitung zu lesen und zu rauchen. Er hatte gar keine Ahnung davon, dass etwas vorgefallen war, wenigstens behauptete er es. Dann kam Betsy zurück, ging in das Wohnzimmer, sah, was geschehen war, und stieß einen Schrei aus, der Tote hätte erwecken können. Das ist alles völlig klar und einleuchtend. Jemand hatte das Haus betreten, während die zwei abwesend waren, und erledigte den alten Herrn. Aber hierbei kam mir der Gedanke, dass es sich doch wohl um einen ziemlich dreisten Burschen gehandelt haben musste. Er musste von der Dorfstraße her gekommen oder durch einen der Hintergärten geschlichen sein. ‹Granite Bungalow› ist, wie Sie sehen, von vielen Häusern umgeben. Wie ist es möglich, dass niemand ihn gesehen hat?»

Der Inspektor machte eine bedeutungsvolle Pause.

«Ich teile durchaus Ihre Ansicht», sagte Poirot, «doch was weiter?»

«Nun, Sir, ich sagte mir, da muss etwas faul sein, und ich begann deshalb, mich etwas umzusehen. Da waren die verschwundenen Jadefiguren. Würde ein gewöhnlicher Landstreicher ihren Wert erkannt haben? Irgendwie erschien es mir als reiner Wahnsinn, eine solche Tat am hellen Tage zu begehen. Angenommen, der alte Herr hätte um Hilfe gerufen?»

«Ich darf wohl annehmen, Inspektor», sagte Mr Ingles, «dass ihm die Wunde am Kopf vor seinem Tode beigebracht wurde?»

«Sehr richtig, Sir; zuerst betäubte ihn der Mörder, und dann schnitt er ihm den Hals durch. Das ist mir vollkommen klar. Aber wie, zum Teufel, ist er hinein- und wieder herausgekommen? Ein Fremder fällt in einem kleinen Ort wie diesem sehr schnell auf. Ich glaubte zuerst, dass überhaupt kein Fremder da gewesen war, und untersuchte die ganze Umgebung. Es hatte in der vergangenen Nacht geregnet, und ich fand deutliche Fußabdrücke nach der Küche und wieder heraus. Im Wohnzimmer waren nur zwei verschiedene Fußspuren; die von Betsy Andrews gingen bis zur Tür. Mr Whalley hatte Hausschuhe getragen. Ein anderer aber war in die Blutlachen getreten, und so verfolgte ich diese Spuren – entschuldigen Sie bitte, Sir.»

«Keine Ursache», sagte Mr Ingles mit einem leichten Lächeln, «Ihre Kombinationen sind vollkommen richtig.»

«Ich verfolgte diese Spuren bis zur Küche – jedoch nicht darüber hinaus, das ist Punkt 1. Auf der Schwelle von Grants Tür fand ich einen dunklen Fleck, und zwar einen Blutfleck, Punkt 2. Sodann untersuchte ich Robert Grants Stiefel, die er ausgezogen hatte und die genau zu den gefundenen Fußspuren passten, Punkt 3. Dieses ließ in mir die Überzeugung aufkommen, dass kein Fremder an der Tat beteiligt war. Ich forderte Grant auf, die Wahrheit zu bekennen, und nahm ihn in Gewahrsam. Was, glauben Sie, fand ich in seinem Schrank versteckt? Die kleinen Jadefiguren und eine auf seinen Namen ausgestellte Fahrkarte. Abraham Biggs, alias Robert Grant, vor fünf Jahren wegen eines schweren Verbrechens und Hausfriedensbruch vorbestraft.»

Der Inspektor hielt triumphierend inne.

«Was sagen Sie dazu, meine Herren?»

«Ich denke», sagte Poirot, «dass der Fall anscheinend sehr klar liegt, eigentlich ein wenig zu klar.

Dieser Biggs, alias Grant, muss ein ausgemachter Idiot sein, nicht wahr?»

«Oh, das ist er auf jeden Fall, ein roher, ungebildeter Bursche, der keine Ahnung davon hat, was Fußabdrücke bedeuten.»

«Sicher liest er keine Kriminalromane! Nun, Inspektor, ich gratuliere Ihnen. Vielleicht dürfen wir einmal den Tatort besichtigen?»

«Ich werde Sie sogleich dorthin führen und möchte gern, dass Sie sich die Fußspuren ansehen.»

«Ja, ich möchte sie auch gern sehen. Das ist wirklich alles sehr interessant und sehr durchdacht.»

Wir machten uns auf den Weg, Mr Ingles und der Inspektor gingen voraus, während Poirot und ich etwas zurückblieben, um einige Worte zu wechseln, ohne dass der Inspektor es hören konnte.

«Wie denkst du nun wirklich darüber, Poirot? Glaubst du, dass mehr dahintersteckt, als es den Anschein hat?»

«Das ist gerade die große Frage, mon ami. Whalley sagt nur zu deutlich in seinem Schreiben, dass die Großen Vier hinter ihm her waren, und du sowohl wie ich, wir wissen beide, dass die Großen Vier durchaus nicht nur ein Kinderschreck sind. Doch alles spricht dafür, dass dieser Grant tatsächlich den Mord begangen hat. Was veranlasste ihn dazu? Tat er es nur, um in den Besitz der kleinen Jadefiguren zu gelangen? Oder ist er das Werkzeug der Großen Vier? Ich muss gestehen, dass mir das Letztere wahrscheinlicher scheint. Jedoch, wie wertvoll die Figuren auch sein mögen, so hat ein Mann von seinem Stande keine Ahnung davon – auf jeden Fall nicht in dem Ausmaße, um deswegen einen Mord zu riskieren. Das, par exemple, sollte auch dem Inspektor einleuchten. Grant hätte ebenso gut die Jadefiguren stehlen und sich damit aus dem Staube machen können, anstatt einen so brutalen und eigentlich zwecklosen Mord zu begehen. Ich fürchte, unser Freund aus Devonshire hat seine kleinen grauen Zellen nicht genügend in Funktion treten lassen. Er hat zwar Fußspuren untersucht, es jedoch unterlassen, die Tatsachen nach gewissen Methoden und Überlegungen zu ordnen.»

Загрузка...