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Nachdem die Geschworenen Robert Grant alias Biggs von der Anklage des Mordes an Jonathan Whalley freigesprochen hatten, hatte ich persönlich den Eindruck, dass unser Freund Inspektor Meadows doch nicht so ganz von seiner Unschuld überzeugt war. Die Indizien, die gegen Grant sprachen, die Vorstrafen, die Jadefiguren, die er gestohlen hatte, die Fußabdrücke, die genau mit seinen Schuhen übereinstimmten, waren seiner Überzeugung nach so beweisführend, dass man sie nicht übersehen konnte. Jedoch Poirot, entgegen seiner sonstigen Abneigung, vor Gericht Aussagen zu machen, hatte die Geschworenen überzeugt. Zwei Zeugen hätten sich gemeldet, welche einen Metzgerwagen am Montagmorgen gesehen hatten, während der ortsansässige Metzger bezeugte, dass sein Wagen nur mittwochs und freitags Hauszustellungen durchführte. Ferner hatte sich eine Frau gemeldet, die sich erinnerte, einen Fleischerei-Angestellten beim Verlassen des Bungalows gesehen zu haben, jedoch konnte sie keine präzise Beschreibung des Mannes liefern. Die einzigen Wahrnehmungen, die ihr im Gedächtnis haften geblieben waren, waren die, dass er glatt rasiert und von mittlerer Statur war und dass er ganz das Aussehen eines Metzgers hatte. Bei dieser Beschreibung zuckte Poirot vielsagend mit den Achseln. «Es ist so, wie ich dir sage, Hastings», wandte er sich nach der Verhandlung an mich. «Der Mann ist ein Künstler in seinem Fach. Er verrät sich weder durch einen falschen Bart noch durch eine dunkle Brille. Er ändert stets seine äußere Erscheinung, aber das ist noch nicht alles. Für jeden besonderen Zweck passt er sich jeweils den besonderen Verhältnissen an. Er lebt sich völlig in seine Aufgabe hinein.»

Sicherlich musste ich zugeben, dass der Mann, der uns als Aufseher der Heilanstalt in Hanwell besuchte, ganz genau mit meiner Vorstellung eines Bediensteten der Anstalt übereinstimmte. Ich hätte niemals für einen Moment daran gezweifelt, dass er nicht echt gewesen wäre.

Es war alles ein wenig entmutigend, und unsere Erlebnisse in Dartmoor schienen uns kein Stück weitergebracht zu haben. Ich teilte diese Gedanken Poirot mit, aber er wollte nicht zugeben, dass wir nichts erreicht hatten.

«Wir kommen allmählich weiter», sagte er. «Fortschritte haben wir jedenfalls schon gemacht. Bei jedem Berührungspunkt mit diesem Manne lernen wir ein wenig mehr von seiner geistigen Einstellung und seinen Methoden kennen. Von uns und unseren Plänen weiß er nichts.»

«Und in dieser Beziehung, Poirot», protestierte ich, «geht es mir genauso wie ihm. Es hat nicht den Anschein, als hättest du irgendwelche neue Pläne, du sitzt da und wartest, bis von seiner Seite etwas Neues geschieht.»

Poirot lächelte.

«Mon ami, du bleibst dir immer gleich. Immer derselbe Hastings, der gleich impulsiv und stets bereit ist, jemandem an den Hals zu springen. Vielleicht», fügte er hinzu, als es an der Tür klopfte, «kommt jetzt deine Chance; es könnte vielleicht unser Freund sein, der jetzt eintritt.» Und er lachte über meine Enttäuschung, als Inspektor Japp, in Gesellschaft eines anderen Herrn, den Raum betrat.

«Guten Abend, meine Herren», begrüßte uns der Inspektor. «Erlauben Sie mir, Sie mit Captain Kent vom amerikanischen Geheimdienst bekannt zu machen.»

Captain Kent war ein großer, schlanker Amerikaner mit einem auffallend unbeweglichen Gesicht, welches aus Holz geschnitzt zu sein schien.

«Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, meine Herren», murmelte er, indem er uns die Hände kräftig schüttelte.

Da es ein kühler Abend war, warf Poirot noch ein Holzscheit in den Kamin und rückte mehrere Armsessel heran. Ich holte Gläser, Whisky und Soda. Der Captain nahm einen großen Schluck und gab seiner tiefen Zufriedenheit Ausdruck. «Eure Whiskybrennereien sind immer noch auf der Höhe», bemerkte er.

«Und nun zur Sache», wandte Japp ein. «Monsieur Poirot hatte mich seinerzeit um etwas gebeten. Er war interessiert an allem, was mit den Großen Vier in Verbindung gebracht werden konnte, und bat mich, ihn unverzüglich zu benachrichtigen, sofern ich in meinem täglichen Dienstbetrieb hierüber etwas zu hören bekäme. Ich maß diesen Dingen bisher wenig Bedeutung bei, doch behielt ich sie im Auge. Als nun der Captain hier mit einer ziemlich seltsamen Geschichte herausrückte, empfahl ich ihm sogleich, Monsieur Poirot persönlich aufzusuchen.»

Poirot sah erwartungsvoll hinüber zu Captain Kent, und der Amerikaner begann seine Erzählung.

«Sie werden sich wohl sicher erinnern, Monsieur Poirot, gelesen zu haben, dass eine Anzahl unserer Torpedoboote und Zerstörer gesunken sind, nachdem sie an den Riffen der amerikanischen Küste zerschmetterten. Dies ereignete sich gleich nach dem Erdbeben in Japan, und man brachte das Unglück mit einer Flutwelle in Verbindung. Nun wurde vor nicht allzu langer Zeit eine Razzia auf eine Gangsterbande gemacht, und bei dieser Gelegenheit wurden einige Schriftstücke beschlagnahmt, wodurch die Angelegenheit ein gänzlich neues Gesicht erhielt. Diese Schriftstücke schienen auf eine Organisation, genannt die Großen Vier, hinzuweisen und gaben eine unvollständige Beschreibung einer außerordentlich wirksamen drahtlosen Erfindung – einer Konzentration von Energie, weit über die bisherigen Erfahrungen hinausreichend und imstande, Strahlen von großer Intensität drahtlos auf einen gegebenen Punkt zu richten. Die Auswirkungen dieser wichtigen Erfindung schienen zweifellos sehr bedeutend, so dass ich sie an unser Hauptquartier zur weiteren Beurteilung weitergab, wo einer unserer Experten sich damit zu beschäftigen begann. Wir haben in Erfahrung gebracht, dass ein britischer Wissenschaftler vor einem englischen Fachgremium über diese Erfindung einen Vortrag gehalten hat. Seine Zuhörer nahmen, nach vorliegenden Berichten, nicht allzu große Notiz davon, bezeichneten es als weit hergeholt und fantastisch. Jedoch der Wissenschaftler beharrte auf seinem Standpunkt und erklärte, dass er kurz vor dem Abschluss seiner Versuche stehe.»

«Sehr interessant», murmelte Poirot.

«Es wurde angeregt, dass ich herüberfahren und diesen Herrn interviewen sollte. Es handelt sich um einen verhältnismäßig jungen Mann namens Halliday. Er ist führend auf diesem Gebiet, und meine Aufgabe war, aus ihm herauszuholen, ob sich die Erfindung tatsächlich verwirklichen lasse.»

«Und lässt sie sich verwirklichen?», fragte ich interessiert.

«Das ist gerade das, was ich nicht erfahren konnte. Ich habe Mr Halliday nicht gesehen, und ich werde auch wohl nicht dazu kommen, so wie die Dinge liegen.»

«Kurz gefasst», unterbrach Japp ungeduldig, «Halliday ist verschwunden.»

«Wann?»

«Vor zwei Monaten.»

«Ist sein Verschwinden amtlich gemeldet worden?»

«Natürlich wurde es gemeldet. Seine Gattin kam in großer Aufregung zu uns. Wir taten, was wir konnten, aber ich wusste, dass alles zwecklos sein würde.»

«Warum?»

«Es ist immer das Gleiche, wenn jemand nach jener Richtung hin verschwindet», sagte Japp mit einem Augenzwinkern.

«Nach welcher Richtung?»

«Paris.»

«So? Verschwand Halliday nach Paris?»

«Ja, er reiste dorthin, um eine wissenschaftliche Arbeit zum Abschluss zu bringen, so sagte er jedenfalls. Natürlich musste er etwas Derartiges sagen. Aber Sie wissen es wohl selbst, was es bedeutet, wenn ein Mann dort drüben verschwindet. Entweder ist er unter die Pariser Apachen gefallen – und das würde das Ende bedeuten – oder er ist freiwillig von der Bildfläche verschwunden, und das ist die größere Wahrscheinlichkeit.

Die Anziehungskraft des Pariser Nachtlebens – Sie wissen ja. Halliday und seine Gattin hatten eine Meinungsverschiedenheit, bevor er abreiste, und dieser Umstand erklärt vieles.»

«Ich bezweifle es», meinte Poirot gelassen.

Der Amerikaner sah ihn neugierig an.

«Sagen Sie, Monsieur Poirot», fragte er mit schleppender Stimme, «was hat es auf sich mit den Großen Vier?»

«Die Großen Vier», sagte Poirot, «sind eine internationale Organisation, deren Leitung ein Chinese hat. Er ist bekannt als Nummer eins. Nummer zwei ist ein Amerikaner, Nummer drei eine Französin, Nummer vier, der Zerstörer, ist ein Engländer.»

«Eine Französin, was?» Der Amerikaner pfiff leise vor sich hin. «Und Halliday verschwand in Frankreich. Vielleicht ist sie darin verwickelt. Wie heißt sie?»

«Das weiß ich nicht. Ich weiß bis jetzt noch gar nichts über sie.»

«Aber dann ist das wohl eine ziemlich schwierige Aufgabe», warf der andere ein.

Poirot nickte, während er dabei die Gläser auf dem Tablett in einer Reihe ausrichtete. Wie immer kam auch jetzt seine Ordnungsliebe an den Tag.

«Was bedeutet es, dass jene Boote versenkt wurden? Arbeiten die Großen Vier in fremdem Auftrag?»

«Die Großen Vier verfolgen nur ihr eigenes Interesse, Monsieur Kent. Ihr Ziel ist die Weltbeherrschung.»

Der Amerikaner brach in ein Lachen aus, hielt jedoch sofort inne, als er Poirots ernstes Gesicht sah.

«Sie lachen, Monsieur», sagte Poirot in warnendem Ton. «Sie kombinieren nicht und lassen Ihre kleinen grauen Zellen gar nicht arbeiten. Wer sind die Menschen, die eine von Ihren Einheiten einfach der Vernichtung preisgaben, um ihre Macht zu erproben? Denn dieses, Monsieur, war in Wirklichkeit ein Versuch zur Anwendung ihrer neuen magnetischen Waffe.»

«Nun hören Sie aber auf», unterbrach Japp gutmütig. «Ich habe oft von Superverbrechern gelesen, aber ich bin noch niemals auf sie gestoßen. Well, Sie haben Captain Kents Schilderung gehört; kann ich sonst noch etwas für Sie tun?»

«Ja, lieber Freund, seien Sie so freundlich und geben Sie mir die Adresse von Mrs Halliday, zusammen mit ein paar Worten zu meiner Einführung bei ihr.»

So waren wir denn am folgenden Tag auf dem Weg nach «Chetwynd Lodge» im Dorfe Chobham in der Grafschaft Surrey.

Mrs Halliday, eine hoch gewachsene, blonde Dame, lebhaft und nervös, empfing uns sogleich. Sie hatte ihr kleines Töchterchen, ein hübsches fünfjähriges Kind, bei sich.

Poirot erklärte ihr den Zweck unseres Besuches.

«Oh, Monsieur Poirot, ich bin ja so froh und dankbar. Natürlich habe ich von Ihnen gehört. Sie sind sicherlich anders als die Leute von Scotland Yard, die mich nicht einmal richtig anhören und auch nicht den Versuch machen, meine Lage zu verstehen. Und die französische Polizei ist genauso schlimm, womöglich noch schlimmer. Alle sind davon überzeugt, dass mein Mann mit einer anderen Frau durchgebrannt ist, aber das ist bestimmt nicht der Fall. Er dachte nur immer an seine Arbeit, und dies war der häufigste Grund für unsere unbedeutenden Plänkeleien. Die Arbeit bedeutete ihm weit mehr als seine eigene Frau.»

«Die Engländer sind sich darin alle gleich», sagte Poirot tröstend. «Und wenn es nicht die Arbeit ist, dann sind es Spiel und Sport. Alle diese Dinge nehmen sie au grand sérieux. Nun, Madame, rekonstruieren Sie bitte in allen Einzelheiten und der Reihe nach, so wie Sie dazu imstande sind, die genauen Begleitumstände des Verschwindens Ihres Gatten.»

«Mein Mann reiste am Donnerstag, dem 20. Juli, nach Paris. Er hatte dort eine geschäftliche Verabredung mit verschiedenen Leuten, unter anderem mit Madame Olivier.»

Poirot nickte bei der Erwähnung der berühmten französischen Chemikerin, welche sogar Madame Curie mit ihren aufsehenerregenden Entdeckungen übertroffen hatte. Sie hatte hohe Auszeichnungen durch die französische Regierung erhalten und war eine der prominentesten Persönlichkeiten der Welt.

«Er kam in den Abendstunden dort an und begab sich sogleich zum ‹Hotel Castiglione›, in der Rue de Castiglione. Am folgenden Morgen plante er eine Zusammenkunft mit Professor Bourgoneau, welche auch stattgefunden hat. Sein Benehmen war normal und völlig unbefangen. Sie hatten eine sehr interessante Unterredung, und es wurde verabredet, dass mein Mann am folgenden Morgen an einigen Experimenten in des Professors Laboratorium teilnehmen sollte. Er hat im ‹Cafe Royal› allein zu Mittag gegessen, unternahm einen Spaziergang in den Bois und besuchte dann Madame Olivier in ihrem Haus in Passy. Auch dort war sein Benehmen vollkommen normal, und er verließ das Haus gegen sechs Uhr abends. Wo er zu Abend gegessen hat, ist nicht bekannt, wahrscheinlich in irgendeinem Restaurant.

Er kehrte gegen elf Uhr abends zum Hotel zurück und ging sogleich auf sein Zimmer, nachdem er gefragt hatte, ob für ihn Post eingegangen sei. Am folgenden Morgen verließ er das Hotel und ist nicht wieder gesehen worden.»

«Um welche Zeit verließ er das Hotel? Zu der Zeit, da er in Professor Bourgoneaus Laboratorium erwartet wurde?»

«Das wissen wir nicht, denn niemand hat ihn das Hotel verlassen sehen. Auch hat er kein Frühstück zu sich genommen, was darauf hinzudeuten scheint, dass er sehr früh fortgegangen ist.»

«Könnte er vielleicht gleich wieder ausgegangen sein, nachdem er nachts heimgekommen war?»

«Das glaube ich nicht. Sein Bett war benutzt, und der Nachtportier hätte jeden bemerken müssen, der um diese Zeit das Hotel verließ.»

«Das ist vollkommen richtig, Madame. Wir können somit als sicher annehmen, dass er das Hotel frühmorgens verließ, und eine andere Möglichkeit vollkommen ausschließen. Es ist hiernach auch nicht anzunehmen, dass er zur Nachtzeit irgendwelchen Pariser Apachen in die Hände gefallen ist. Fehlte etwas von seinem Gepäck?»

Mrs Halliday zögerte sichtlich bei dieser Frage, jedoch sagte sie schließlich:

«Nein, er muss nur einen kleinen Koffer mitgenommen haben.»

«Hm», sagte Poirot nachdenklich, «ich möchte gerne wissen, wo er den Abend verbracht hat. Wenn wir das herausbringen könnten, wären wir ein gutes Stück weiter. Wen hat er an diesem Abend getroffen, da liegt das Geheimnis. Madame, ich teile durchaus nicht den Standpunkt der Polizei, bei der es immer heißt: cherchez la femme, jedoch liegt es auf der Hand, dass irgendetwas Ihren Gatten zur Nachtstunde veranlasste, seine Pläne zu ändern. Sie sagten, dass er bei seiner Rückkehr nach eingegangener Post gefragt hat. Hat er etwas erhalten?»

«Nur einen Brief, und das muss der gewesen sein, den ich an dem Tage geschrieben habe, an dem er England verließ.»

Poirot blieb eine Zeit lang stumm; dann erhob er sich.

«Nun, Madame, die Lösung des Rätsels liegt in Paris, und zu diesem Zwecke werde ich mich unverzüglich auf die Reise machen.»

«Es liegt aber alles bereits so lange zurück, Monsieur.»

«Ja, trotz allem, wir müssen dort weitersuchen.»

Er wandte sich zur Tür, hielt jedoch inne, die Hand am Türgriff. «Sagen Sie, Madame, erinnern Sie sich, dass Ihr Gatte jemals irgendetwas über die Großen Vier erwähnt hat?»

«Die Großen Vier», wiederholte sie verständnislos, «nein, ich kann mich nicht erinnern.»

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