Elf

Draußen vor der Stadt legte sich die Nacht über das Schlachtfeld. Schnell senkte sich ihr ganzes Gewicht über den sternenbedeckten Himmel. Lagerfeuer leuchteten am Hügel auf, wo die Zelte der Männer standen. Die Rollenspieler beider Seiten kauerten vor ihren Zelten, tranken aus Blechtassen, kratzten Essen von Tellern, sprachen mit den gedämpften Stimmen von Männern, die fort von ihren Familien und ihrem Zuhause waren. Aus Maiskolben wurden Pfeifen gebaut, Musketen wurden im Laternenlicht liebevoll zerlegt und geschmiert, die alten Rituale hervorgekramt und zum wiederholten Male genau studiert.

Hier und da leuchteten Handys zwischen den Bäumen wie blaue Glühwürmchen, wenn der eine oder andere Mann sich davonschlich, um leise mit seiner Frau oder Freundin zu telefonieren.

Private Terry Johnson saß mit seinem Banjo am Feuer und zupfte die ersten markanten Töne von My Old Kentucky Home. Er spielte leise, wie für sich allein, unbefangen. Es war schon spät, und die meisten vom Zweiunddreißigsten hatten sich hingelegt, um sich für den langen Marsch morgen auszuruhen.

Die einzigen anderen Geräusche waren das Knistern des Feuers und das Wiehern von mehreren Dutzend Pferden, die sich in einem Pferch nahe dem Lager der Kavallerie ebenfalls zur Nachtruhe niederließen.

„Kennst du was von Coldplay?“

Johnson zuckte überrascht zusammen und hörte auf zu zupfen. Phil Oiler – der auch als Norwalk Pettigrew aus dem Zweiunddreißigsten Georgia-Regiment bekannt war – setzte sich auf einen Baumstumpf neben ihm.

„Oh“, sagte er. „Hallo, Phil!“

„Nenn mich Norrie!“

Oiler lehnte seine Muskete gegen einen der großen Steine, die die Feuerstelle bildeten, zog sein Bajonett hervor und rieb es mit einem Polierleder ab.

„Das war der Spitzname meines Typen.“

„Cool.“ Johnson wollte gerade sein Banjo an die Seite legen, als Oiler ihn bremste.

„Nein, Mann, spiel weiter! Damals in den Lagern hat das die Leute auch in bessere Stimmung versetzt.“ Er griff in seine Jacke, zog eine verbeulte Metallflasche hervor, entfernte den Verschluss und streckte sie Johnson entgegen. „Whiskey?“

„Danke!“ Johnson kippte die Flasche und nahm einen Schluck und ließ ihn brennen. Das war guter, sanfter Stoff, wahrscheinlich weit entfernt von dem, was die Jungs vor gut hundertfünfzig Jahren auf den Schlachtfeldern genippelt hatten. Aber wer wusste das schon? Das hier war immer noch der Süden. Vielleicht war das Zeug damals sogar besser gewesen.

„Ich weiß es zu schätzen.“

„Das ist übrigens eine original Taschenflasche aus dem Bürgerkrieg“, sagte Oiler. „Aus den 1860ern.“

„Ziemlich cool.“

„Hat mich auch ’ne ziemliche Stange Geld gekostet, aber das war es wert.“ Er verstummte und betrachtete den Flachmann im Feuerschein. „Kennst du noch ein paar andere Lieder?“

„Eigentlich nur eine Handvoll. Foggy Mountain Breakdown und den Anfang von The Rainbow Connection, aber das war’s dann auch schon.“

Oiler seufzte, legte sein Bajonett auf ein Stück Stoff und lehnte sich im flackernden Schein des Feuers zurück.

Nach einem Moment der Stille zupfte Johnson lustlos auf dem Banjo herum, während er darüber nachdachte, was er sagen könnte. Johnson war noch relativ neu im Zweiunddreißigsten. Er war erst vor ein paar Monaten eingetreten, nachdem ihm seine Frau wegen eines Kieferorthopäden, den sie über das Internet kennengelernt hatte, davongelaufen war. Die Einsamkeit hatte ihn auf die Suche nach Gleichgesinnten gehen lassen. Johnson kannte Oiler nicht sehr gut. Er wusste nur, dass er Versicherungen verkaufte und mit seiner Familie irgendwo bei Atlanta wohnte.

Oiler schien das Schweigen nichts auszumachen. Er reichte die Flasche erneut herüber, nickte ermunternd, und Johnson nahm einen weiteren Schluck Whiskey. Um sie herum wurde es dunkler. Alles wirkte immer massiger und breiter, bis der Hügel, die Bäume und alles außerhalb des Leuchtens des Lagerfeuers schließlich unterschiedliche Schattierungen der Dunkelheit angenommen hatten.

„Es fühlt sich fast an wie 1863“, sagte Oiler. „Oder etwa nicht? So ruhig …“

„Ja.“

„Hier, ich zeige dir mal was“, sagte Oiler. Seine Stimme klang nun anders, sehr sanft und fremd. Das Feuer knisterte und knackte hypnotisch zu ihren Füßen.

„Was denn?“, fragte Johnson.

Oiler antwortete nicht sofort. Einen Moment lang flackerten die Flammen schwächer und tauchten sie fast vollkommen in Dunkelheit.

Als das Feuer wieder heller leuchtete, dachte Johnson einen Moment lang, dass der andere etwas um den Hals hängen hatte. Dann war es fort. Die Schatten hatten ihm wohl einen Streich gespielt. Er rieb sich die Augen.

Das muss wohl der Whiskey sein, dachte er. Ich fange schon an, komische Sachen zu sehen.

„Phil …“

„Nenn mich Norrie!“ Oiler lächelte. „Hast du es gesehen?“

„Habe ich was … gesehen?“

„Ich weiß mehr über Jubal Beauchamp, als ihr denkt“, sagte Oiler. „’ne ganze Menge mehr.“

„Du meinst Dave?“

Oiler schüttelte den Kopf und lächelte.

„Er hat sie mich anprobieren lassen, weißt du – um meinen eigenen Hals. Und es hat sich gut angefühlt.“

Johnson stand etwas unsicher auf. Vielleicht war er betrunkener, als er dachte. Es war Zeit, ins Bett zu gehen.

„Wo glaubst du, dass du hingehst?“, fragte Oiler mit sanfter Stimme.

„Ich … ich wollte nur …“

Plötzlich schoss ein reißender Schmerz wie eine Explosion durch seinen Fuß. Er blickte nach unten und sah, dass Oiler das Bajonett durch seinen Stiefel gerammt und seinen Fuß im Boden festgenagelt hatte.

Aber noch bevor Johnson schreien oder sich befreien konnte, riss Oiler die Klinge heraus, legte ihm die Hand auf den Mund und warf ihn zu Boden. Oiler drückte ihn mit dem ganzen Gewicht seines Körpers in den Staub. Johnson wehrte sich, aber sein Gegner war zu stark. Einer von beiden versetzte dem Banjo während des Kampfes einen Tritt. Es landete im Feuer und gab wütende kleine Plonks und Twengs von sich. Dann war Oilers Gesicht ganz nahe an Johnsons. So nahe, dass der Unterlegene die Bartstoppeln des Widersachers an seiner Wange kratzen und den Whiskey in seinem Atem riechen konnte.

Da ist keine Schlinge um seinen Hals, dachte Johnson benebelt. Da ist überhaupt nichts.

„Der Krieg ist die Hölle“, flüsterte Oiler ihm ins Ohr.

Er schien übermenschlich stark zu sein, wie aus puren Muskeln gemacht. Ganz vage roch Johnson trotz der Agonie, was der andere Mann in Wellen ausdünstete: Alkohol, Tabak und noch etwas anderes, das an den Geruch eines schimmeligen alten Kellers erinnerte.

„Willkommen in der Hölle!“

„Bitte“, murmelte Johnson in die Handfläche des anderen.

„Steck das in den Mund!“

„Was?“

„Du hast mich schon verstanden.“

Johnson sah nach unten und sah das Bajonett direkt unter seinem Kinn.

„Bitte nicht!“

Oiler stieß die Spitze der Klinge nach oben und zerbrach Johnsons Zähne. Der musste würgen, als das ölige Metall in seinen Mund eindrang, und ein tiefer Schmerz durchschoss ihn, als die geschliffene Spitze durch seine Lippen und Zunge schnitt. Seine Nebenhöhlen füllten sich mit salziger Wärme. Sein Leben lang hatte er sich gefragt, was jemandem durch den Kopf ging, der gleich sterben würde. Nun wusste er es.

Seine Gedanken kreisten um seine Eltern, seine Exfrau und seine Schwester in New Jersey und um alle Dinge, die er nie getan hatte und bald nicht mehr würde tun können. Er versuchte etwas zu sagen, aber seine Lippen konnten außer ein paar verzweifelten Lauten keine Worte formen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die ihm die Wangen herunterliefen.

Am Himmel über Johnson hatten die Sterne ihre festen Formen verloren. Sie huschten und strömten wie verrückte Planeten gegen den Rand eines Universums, das aufgehört hatte, einen Sinn zu ergeben. Oiler drückte ihn immer noch zu Boden und flüsterte etwas, sprach in einer anderen Sprache, die Johnson nicht verstehen konnte. Er fühlte, wie die Klinge nach vorn schoss.

Und dann nichts mehr.

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