Achtundzwanzig

Steh auf!

Es war die Stimme seines Vaters. Dean hätte sie überall erkannt. Selbst wenn sein alter Herr nicht direkt vor ihm gestanden und auf ihn heruntergeblickt hätte. Er wirkte in höchstem Maße unbeeindruckt von der Kette der Ereignisse, die ihn an diesen Punkt gebracht hatte.

Ich kann nicht, Dad. Ein Mischmasch aus inkohärenten Eindrücken und Antworten tummelte sich unproduktiv in Deans Bewusstsein. Bin angeschossen. Mistkerl hat auf mich geschossen. Du hast’s doch gesehen.

Was ich sah, war, wie ein Mann von seiner eigenen Dummheit vor den Kopf geschlagen wurde, antwortete John Winchester mitleidlos. Ich sah einen Mann, der – angesichts der Umstände und der schieren Größe seiner Torheit – von Glück sprechen kann, dass er nicht tot ist.

Dad, wieso redest du wie Abraham Lincoln?, dachte Dean. Dann sah er, dass sein Vater tatsächlich wie Lincoln gekleidet war, mit Bart und hohem Zylinder. Trotz der schneidenden, weißglühenden Schmerzen in seiner Brust und seiner rechten Schulter, fand er diesen Gedanken schreiend komisch. Hier lag er nun zusammengerollt in einer Ecke des Parkplatzes und versuchte die Blutung zu stillen, die die Schrotladung aus der Bürgerkriegsmuskete verursacht hatte. Und kein Geringerer als der große Befreier der Sklaven persönlich ragte ebenso lebensecht über ihm auf, wie er in Phil Wagners Wachsfigurenkabinett zu sehen war.

Dad …?

Dean streckte einen Arm nach oben.

Er kämpfte sich auf die Beine.

Seine Hand berührte kaltes Metall.

Lincoln, sein Vater, war eine Statue. Nicht die Spur eines Menschen. Ein Abbild aus Bronze. Rau und hart. Sie stand auf einem Betonsockel, den Blick auf das Schlachtfeld gerichtet. Ein Arm zeigte nach Norden, als würde er Mission’s Ridge auf die Ursache seiner unvermeidlichen Niederlage hinweisen. Dean spürte, wie ihm die Welt aus ihren gut geschmierten Angeln glitt und er das Gleichgewicht verlor. Er klammerte sich an die Statue und nutzte den Arm des „ehrlichen Abe“, um sich abzustützen.

Wie viel Blut habe ich wohl verloren?

In der Ferne heulten Sirenen auf, die sich schnell näherten. Darüber hinweg hörte Dean Schreie – der „Rebel Yell“ hallte den Hügel herab. Aber alles, woran Dean denken konnte, waren Whiskey und Billy Idol. Sein Verstand mühte sich, die Situation zu erfassen. Tommy McClane hatte sich das Messer geschnappt und … das hier … auf die Welt losgelassen.

Dean kniff die Augen zusammen und sah den Pick-up. Es war der von Tommy McClane, diesem verräterischen Bastard. Der Wagen kurvte wie wild über das Schlachtfeld, mitten zwischen den Explosionen hindurch. Wer immer da am Steuer saß, es sah so aus, als könnte er gar nicht fahren.

Aber wo ist Sam?

Die Frage brannte eine Schneise der Klarheit durch seine Gedanken, nur vorübergehend zwar, aber lange genug für Dean, um zu merken, dass er sich lediglich eine Fleischwunde zugezogen hatte, und war das nicht eine wunderbar schönfärbende Formulierung? Nur eine Fleischwunde.

Und schon fiel ihm Harvey Keitel in Reservoir Dogs ein: Abgesehen von der Kniescheibe ist der Bauch die schlimmste Stelle, an der du angeschossen werden kannst. Es schmerzt höllisch, aber du stirbst nicht. Und guter Gott, würde dieses Popkultur-Zeug jemals aufhören, ihm in den Sinn zu kommen? War er nicht einmal in Augenblicken körperlicher Todesqualen davor sicher? Jetzt sah er Blaulichter auf der anderen Seite des Parkplatzes. Streifenwagen. Bullen.

„Super“, murrte Dean. „Perfekt. Das wird …“

BUMM!

Zu seiner Rechten, vielleicht hundert Meter entfernt, war ein Geschoss in die Ladefläche des Trucks eingeschlagen. Der Ford wirbelte durch die Luft wie ein Matchbox-Auto, dessen junger Besitzer das Interesse an ihm verloren hatte. In der erschrockenen Stille, die darauf folgte, hörte Dean Bremsen quietschen und Schotter spritzen. Türen öffneten sich. Stimmen von Polizisten.

„Du bist das“, sagte jemand.

Dean ließ den Arm der Statue los und taumelte herum, nur um sich Auge in Auge mit McClane wiederzufinden. Der Bastard war nicht länger bewaffnet, aber ehrlicherweise glaubte Dean nicht, dass sein Widersacher jetzt noch eine Waffe brauchte. McClane konnte ihn wahrscheinlich sogar mit einem nassen Lappen erschlagen.

Schwachsinn! Ich werde nicht sterben.

„Wir haben übrigens gerade deinen Bruder umgelegt“, sagte McClane. „Er war in dem Pick-up, der hochging.“ Ein zutiefst unmenschliches Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Dämons aus. „Das ist die Quittung für das, was er meinem Partner angetan hat.“

„Hat er ihn zurück in die Hölle geschickt?“, fragte Dean. „Gut. Aber Sie lügen, wenn Sie behaupten, dass Sam tot ist.“

„Warum glauben Sie das?“

„Sie haben zu hart für das hier gearbeitet. Und Sam ist zu wichtig für Sie.“

Der Dämon hielt inne, wie um das Gesagte zu reflektieren, und tat dann etwas Seltsames. Er nickte.

„Sie haben recht“, sagte McClane. „Das ist er.“

„Was soll also das Ganze mit Ihnen und Ihren ‚Brüdern‘?“

McClane winkte ab, als ob die Frage ihn nichts anginge.

„Das ist ein kompliziertes Räderwerk. Viel zu hoch für Ihresgleichen.“

„Wissen Sie“, sagte Dean. „Ich glaube, ich mochte Sie lieber, als sie bloß irgend so ein Hinterwäldler waren.“

„Ah“, strahlte der Dämon, aber hinter seiner Gelassenheit flackerte kurz Ungeduld auf. Loderte tief unter dieser Schale aus verblüffender Ruhe etwa eine Flamme des Zorns? Dean glaubte, dass es so war. Allein das zu sehen bescherte ihm ein boshaftes Gefühl der Befriedigung.

„Jedenfalls sind wir weit über das alles hinaus, oder?“ McClane neigte sein bärtiges Kinn in Richtung der aufgerissenen Haut an Deans rechter Brustseite. „Übrigens, wie geht’s der Schulter?“

„Schmerzt höllisch.“

„Gut.“

Dean ignorierte ihn. Er blickte über die Schulter des Dämons hinweg zu den Streifenwagen mit den blinkenden Lichtern am anderen Ende des Parkplatzes. Keine Geringere als Sheriff Jackie Daniels persönlich marschierte gerade mit großen Schritten und einem Funkgerät in der Hand auf das Schlachtfeld zu, hinter sich eine Phalanx der State Trooper im Schlepptau. Ein weiteres BUMM! krachte, und der Himmel explodierte erneut. Alle blieben wie angewurzelt stehen.

Dean setzte sich gerade auf und richtete seine Augen wieder auf McClane.

„Also, wie lautet der Plan?“

McClane zog eine Augenbraue hoch.

„Wie bitte?“

„Sie bringen mich und meinen Bruder um, dann übernimmt ihre Dämonenarmee die Stadt und schmeißt ’ne Riesenparty. Sie hissen die Konföderiertenfahne und spielen Kriegshelden. Habe ich etwas vergessen?“

„Nein“, sagte McClane. „Ich glaube, Sie haben das alles sehr hübsch geschildert.“

„Und was passiert, wenn Judas Sie erwischt?“

„Es wird zu spät sein.“

„Ja“, sagte Dean. „Da haben Sie recht.“

McClane neigte den Kopf.

„Sie stimmen mir zu?“

„Absolut.“

„Warum?“

Dean schüttelte den Kopf.

„Weil ich und der ehrliche Abe hier Ihnen in den Rebellenarsch treten werden.“

Die Gelassenheit des Dämons war wie weggeblasen. Er stürzte sich mit einem einzigen, flirrend schnellen Schritt auf Dean, sprang ihn an und warf ihn zu Boden. Dean bekam das wohlbekannte, jetzt leicht schweflige Aroma des Asphalts zu schmecken.

Hallo, Asphalt!

McClane richtete sich über ihm auf, holte mit dem Fuß aus und trat ihm gegen die Schulter, genau dorthin, wo die Schusswunde war.

Der Schmerz war teuflisch. Die Nervenbündel in Deans Körper kreischten. Er schrie auf. Er konnte nicht anders. McClane trat noch einmal zu.

Der Dämon sprach zwischen seinen Tritten, jedes Mal, wenn er mit dem Fuß ausholte, platzten die Wörter aus ihm heraus.

„Als ich Winston zu Tode gefoltert habe …“

Kick.

„… dachte ich, das wäre der Höhepunkt der Gefühle.“

Kick.

„Aber das hier

Kick.

„… lässt alles andere… “

Kick.

„… aussehen wie trockenvögeln auf der Rückbank von Opas altem Studebaker.“

Dean wand sich vor Schmerzen zu McClanes Füßen. Dessen Red-Wing-Stiefel trieften vor Blut. Etwas davon tropfte auch vom Ende eines seiner halb geschnürten Schnürsenkel herunter. Dean versuchte noch einmal zu schreien, schaffte es aber nicht. Seine ganze rechte Seite inklusive seines Gesichts war wie taub. Was seinen Körper allerdings nicht davon abhielt, sich anzufühlen, als ob er in Flammen stünde.

McClane thronte triumphierend über ihm. Dean konnte sehen, wie er das Bein anwinkelte und einen letzten Tritt vorbereitete. Dieser Tritt würde ihn entweder ins Reich der Bewusstlosigkeit schicken oder ihm das Rückgrat brechen.

„Auf Wiedersehen, Dean!“

Der Stiefel schoss wieder nach vorne. Diesmal allerdings gelang es Dean irgendwie, seinen funktionierenden Arm zu heben und den Schuh zu packen. Er klammerte sich daran fest, als ob es sein Leben wäre. Die Aktion kam so plötzlich und unerwartet, dass McClane von ihr kalt erwischt wurde. Als Dean ihn ruckartig nach vorne zerrte, fiel der Dämon mit der Andeutung eines überraschten Grunzens zu Boden. Dean setzte sich rittlings auf ihn, packte das Haar McClanes und rammte sein Gesicht in den Asphalt. Etwas splitterte; etwas platzte. Schädelknochen. Knorpel. Zähne.

Denk daran, mischte sich eine Stimme ein, das hier ist nicht nur eine fleischliche Hülle. Da war mal ein Mensch drin …

Im Moment war Dean das herzlich egal. Er schlug den Kopf des McClane-Dämons noch einmal auf den Boden, hart und schnell, solange er noch die Kraft dazu hatte. Adrenalinkapseln explodierten wie eine Schnur Knallfrösche in seinem Motorcortex und gaben Energiereserven für die Muskeln in seinem funktionierenden Arm frei.

McClane stieß unter ihm ein gedämpftes Heulen aus und spuckte einen Mundvoll Kies und Schotter aus. In Deans Ohren klang das wie Musik. Er fühlte sich, als könnte er das hier noch die ganze Nacht machen, wenn es sein musste.

„Du wertloses Stück Dreck“, sagte McClane. „Schau dir an, was du mit meinem Gesicht gemacht hast!“

Der Dämon warf sich auf die Seite, schüttelte Dean ab und packte mit seinen Fingern dessen Hals. Dean sah zu McClane auf. Das Gesicht des Dämons war nur noch ein zerschmettertes, matschiges Trümmerfeld. McClanes Griff schnürte Deans Luftröhre ab und hinderte ihn am Atmen.

Die Dunkelheit begann sich wie eine riesige Lawine auf Dean Winchester herabzusenken.

Dann kamen Schreie.

Aber diesmal war es nicht Dean.

Der Schrei kam von McClane.

Der Griff um Deans Hals lockerte sich und erschlaffte. Der blutige Oval, das einmal der Mund des Dämons gewesen war, stand offen und schrie Zeter und Mordio. Sheriff Jackie Daniels stand hinter ihm, beugte sich über seine Schulter und machte irgendetwas an seinem Nacken. Aus seiner Perspektive konnte Dean nicht richtig erkennen, was sie da tat … und als er es erkennen konnte, ergab es zunächst überhaupt keinen Sinn.

Daniels drückte die Innenseite ihres Handgelenks gegen McClanes Hals. Sie schlug ihn nicht, und sie hielt ihn auch nicht fest. Sie berührte ihn eigentlich kaum. Aber es reichte, um McClane dazu zu bringen, bäuchlings zusammenzubrechen. Er drehte und wand sich, um zu entkommen, was ihm aber nicht gelang. Daniels kauerte sich neben ihn und presste ihr Handgelenk direkt gegen seine Haut.

Sie sah Dean nicht an, schien nicht einmal zu bemerken, dass er da war. Ihre gesamte Aufmerksamkeit konzentrierte sich restlos auf Tommy McClane.

„Du kannst so viel strampeln, wie du willst“, sagte sie. „Solange dich das Tattoo berührt, wirst du diesen Körper nicht verlassen. Also sag mir, was ich wissen will!“ Sie beugte sich weiter nach unten, bis sich ihr Gesicht direkt neben seinem Kopf befand. Und obwohl sie nicht laut sprach, konnte Dean jedes einzelne Wort, das sie in McClanes Ohr flüsterte, klar und deutlich hören.

„Wo ist die Schlinge?“

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