Fünf

Es war Nachmittag – die Sonne stand noch hoch am Himmel, und die Bäume warfen lang gezogene Schatten –, als Dean sie zurück ins Zentrum von Mission’s Ridge fuhr.

„Glaubst du, es gibt eine Verbindung zwischen Castiels Jesuszeugen und dem, was in dieser Stadt vor sich geht?“, fragte Sam.

„Wie kann es da keine Verbindung geben?“, konterte Dean. „Ich meine, Die Passion Christi steht nicht gerade auf der Liste meiner Lieblingsfilme. Nur weil Castiels Zeuge sich ein Happy Meal mit JC geteilt hat, heißt das nicht, dass er kein verdammter Mistkerl ist, der Ärger macht. Und gerade das passt ziemlich gut auf die Beschreibung dessen, der – oder dessen was – Dave Wolverton vielleicht umgebracht hat.

„Du denkst also an einen Dämon?“

„Fürs Erste.“

„Ich fange mal an, nach den häufigsten Zeugen erster Ordnung zu suchen, die sich hier gerade so rumtreiben.“ Sam sah auf den Tacho. Sie fuhren achtzig Meilen. „Und du nimmst vielleicht besser den Fuß vom Gas“, fügte er hinzu. „Ich möchte den Sheriff nicht unter den falschen Umständen kennenlernen.“

„Ja, wie hieß der noch mal?“

„Hier heißt es …“ Sam überprüfte seine Notizen, die er aus dem Internet abgeschrieben hatte. „Jack Daniels.“

„Kein Scheiß?“

„Würde ich mir so etwas ausdenken?“

„Klar würdest du das.“ Er blickte zu seinem Bruder hinüber und richtete dann seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. „Ich kann es nicht erwarten, ihn kennenzulernen.“ Trotzdem verlangsamte er den Impala auf ein Tempo, das näher an der erlaubten Höchstgeschwindigkeit lag.

„Ich bin mir sicher, das beruht auf Gegenseitigkeit.“

Sie fuhren durch die Innenstadt, dann bog Dean vor dem Büro des Sheriffs von der Straße ab und parkte neben dem Streifenwagen.

Das Polizeiauto glänzte wie frisch gewaschen und gewachst. Die Fenster waren heruntergelassen, und Sam konnte das Knacken des Funkgeräts hören. Beim Aussteigen bemerkten sie eine leere Sandwichverpackung auf dem Sitz.

„Was schätzt du?“, fragte Sam.

„Hm, warte mal. Ich würde sagen …“ Dean zögerte. Seine Augen waren halb geschlossen, als würde er so etwas wie ein inneres Orakel konsultieren. „Mitte fünfzig, Glatze, dicker Bauch, der von einem Militärgürtel mit Schultergurt in Schach gehalten wird.“

„Über sechzig“, antwortete Sam, „gezwirbelter Schnurrbart, volles Haar, das er sich jeden Sonntagmorgen drüben in Babe’s Barbershop schneiden lässt. Oh ja, und er ist echt dünn – einer von denen, die sich dreimal am Tag ein paniertes Steak reinziehen können, ohne ein Gramm zuzulegen.“

„Vietnamveteran. So einer wie Buford Pusser ausDer Große aus dem Dunkeln.

„Einer der Flüchtenden aus Beim Sterben ist jeder der Erste. Hat haufenweise öffentliche Belobigungen über dem Schreibtisch hängen.“

„Sohn hat ein Bein im Golfkrieg verloren. Insgeheim beneidet er den Jungen.“

„Bescheißt bei den Steuern“, sagte Sam und stieß die Tür auf. „Ist vollkommen vernarrt in seine Frau.“

Dean schnaufte abfällig, als sie die Wache betraten.

„Trägt Damenunterwäsche. Offen im Schritt. Die Art, die …“

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“

Die beiden Winchesters erstarrten zuerst und fuhren dann gleichzeitig herum.

Sam erlangte zuerst die Fassung zurück.

„Wir … äh, suchen den Sheriff. Sheriff Jack Daniels.“

Die Frau in der eng anliegenden braunen Uniform nickte.

„Ich bin Jacqueline Daniels.“ Sie machte drei Schritte auf sie zu, und die Absätze ihrer Lederstiefel klackten auf dem gefliesten Boden. Sie war nicht ganz so jung wie die beiden Frauen, die sie auf der Straße gesehen hatten – Sam schätzte sie auf Anfang dreißig –, aber ihre braunen Augen und vollen Lippen verhießen eine Vitalität, die noch eine Weile vorhalten würde.

Dean dagegen sah ihr überhaupt nicht in die Augen. Er starrte auf ihren Sheriffstern, der glänzte, als habe sie ihn mit der gleichen Inbrunst poliert wie den Streifenwagen vor der Tür.

„Sheriff Daniels, nicht wahr?“ Es fiel Dean nicht ganz leicht, seine Aufmerksamkeit wieder aufs Tagesgeschäft zu lenken. „Ich bin Agent Townes, das ist Agent Van Zandt …“

„Townes?“, sagte die Polizistin. „Van Zandt? Soll das ein Witz sein?“

Sam zog eine Augenbraue hoch.

„Wie bitte?“

Sie blickte die beiden prüfend an.

„Ihre Namen“, sagte sie.

„Wollen Sie etwa andeuten …“, brauste Dean auf.

„Entweder wollen Sie mich auf den Arm nehmen“, fuhr sie fort und starrte sie weiter misstrauisch an. „Oder Ihr Vorgesetzter hat einen merkwürdigen Sinn für Humor.“

Dean seufzte.

„Ja, und die Leute nennen Sie wahrscheinlich Jackie, richtig?“

„Sie nennen mich Sheriff Daniels“, antwortete sie abweisend. Das Telefon klingelte, und sie blickte sich nach ihrem Schreibtisch um, der genauso sauber und aufgeräumt aussah wie ihr Auto. Die einzige Ausnahme war ein voller Aschenbecher, der überfüllt war mit etwas, was wie zusammengeknülltes Kaugummipapier aussah.

„Würden Sie mich einen Moment entschuldigen? Meine Sekretärin hat sich heute krankgemeldet, und ich bin hier gerade ziemlich beschäftigt.“

„Sicher, lassen Sie sich Zeit.“ Dean wartete, während sie zum Telefon ging, und Sam musste seinen Bruder nicht mal ansehen, um zu wissen, wohin seine Augen gerade gewandert waren. „Hey! Was glaubst du, dass sie …“

„Lass es“, sagte Sam. „Lass es einfach!“

„Ich meine ja nur. Alter, über so etwas werden Songs geschrieben.“

„Es gibt auch Songs darüber, wie es im Gefängnis ist“, sagte Sam. „Lass uns mal versuchen, dort nicht schon in den ersten zehn Minuten nach unserer Ankunft hier zu landen, okay?“

Sheriff Daniels beendete ihr Telefonat.

„In Ordnung“, sagte sie und blieb auf ihrer Seite des Tisches. „Dann fangen wir mal an.“

„Ich will ehrlich sein“, fuhr sie fort, bevor Dean oder Sam etwas sagen konnte. „Falls es Ihnen nicht entgangen ist, habe ich gerade einen ziemlich schwierigen Fall, und wenn ich nicht bald eine Lösung präsentiere, fliegt mir hier alles um die Ohren.“ Das Telefon läutete wieder, aber sie machte keine Anstalten den Hörer abzunehmen. „Also, wenn Sie etwas von mir wollen, fassen Sie sich kurz.“

„Aber sicher“, sagte Sam.

Jacqueline Daniels blickte sie wieder misstrauisch an.

„Und?“

„Beginnen wir mal mit Dave Wolverton, dem …“ Dean machte eine vage Geste. „Wie nennen Sie die noch mal? Kostümfuzzis?“

„Man nennt sie Rollenspieler“, sagte der Sheriff. „Wenn Sie einen von denen mit ‚Kostümfuzzi‘ anreden, dann sollten Sie sich besser warm anziehen.“

„Richtig. Sorry. Rollenspieler. Dem Bericht nach spielte Wolverton die Rolle einer ganz bestimmten historischen Person, nämlich die des Bürgerkriegssoldaten Jubal Beauchamp, richtig? Und er hat einen anderen Kostü…,… äh, Rollenspieler mit einer Replica-Waffe erschossen?“

Daniels nickte ungeduldig.

„Eine Kopie der klassischen Springfield-Muskete, eine Spezialanfertigung, die ausschließlich zum Verschießen von Platzpatronen geeignet ist.“

„Woher wissen Sie, dass die Waffe nicht scharf war?“

„Ich erkenne eine Replica-Waffe, wenn ich eine sehe.“ Sie zeigte auf einen Stuhl zu ihrer Rechten. Daran lehnte ein Gewehr. „So wie die da.“

„Darf ich?“, fragte Sam.

„Bitte.“

Er nahm die Muskete in die Hand und legte an.

„Fühlt sich ziemlich echt an, wenn Sie mich fragen.“

„Natürlich fühlt sie sich echt an“, sagte der Sheriff. „Es ist ein detailgetreuer Nachbau einer Originalwaffe. Diese Rollenspieler legen sehr viel Wert auf Authentizität. Die sind wirklich hart drauf.“

„Ja, das haben wir auch gehört“, sagte Sam. „Was ist mit dem Bajonett und der Waffe passiert, die Wolverton auf dem Schlachtfeld benutzt hat?“

„Die sind im Labor und werden getestet.“

„Okay“, sagte Dean. „Also wäre es möglich, dass er vielleicht ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen ist, weil er plötzlich gedacht hat, er wäre tatsächlich mitten im Krieg? Wissen Sie, vielleicht war er ein bisschen, wie soll ich sagen … unausgeglichen?“

Daniels seufzte. „Vielleicht haben Sie mich nicht richtig verstanden. Wir reden hier über Steuerberater und IT-Typen, die gerne in Uniform und Stiefel schlüpfen und Dreißig-Kilometer-Märsche bei über dreißig Grad machen. Aus Spaß. So was verstehen die unter Vergnügen.“

„Die sind nicht ‚unausgeglichen‘“, fuhr sie fort. „Die sind regelrecht unzurechnungsfähig. Trotzdem läuft keiner von denen mit einem echten Gewehr herum. Mir ist es egal, ob die glauben, dass sie der Geist von Lee Harvey Oswald sind – man kann niemanden mit einer Waffe töten, die nur Platzpatronen verschießt.“

„Sie wollen also sagen …“, begann Dean und zögerte, weil er nicht mehr wusste, worauf er hinauswollte.

„Ich will also sagen, dass – ausgenommen, es gibt ein Wurmloch im Raum-Zeit-Kontinuum, durch das plötzlich die Kopie gegen eine echte Waffe mit scharfer Munition vertauscht wurde – es unmöglich ist, dass eine Waffe, wie sie Dave Wolverton gestern bei sich hatte, so etwas anrichtet.“

Sie zog eine Schreibtischschublade auf, holte eine Hängemappe heraus und ließ sie auf den Tisch fallen. Ein paar Hochglanzbilder rutschten heraus. Sam nahm die Tatortfotos an sich, auf denen eine Leiche in der Uniform eines Unionssoldaten zu sehen war.

Er reichte das erste Foto an Dean weiter. Ein Großteil des Kopfes war direkt über dem Hals abgerissen und das Gehirn in alle Himmelsrichtungen verspritzt. In ihrer ganzen grellen Farbigkeit wirkte die Szene wie ein ziemlich bunt zusammengestelltes italienisches Gericht, das jemand quer über den Rasen verschüttet hatte.

Das nächste Bild war eine Nahaufnahme eines weiteren Rollenspielers. Ihm war ein Auge ausgestochen worden. Angetrocknetes Blut bedeckte das halbe Gesicht wie bei einer Theatermaske.

„Wolverton hat ihn mit dem Bajonett erstochen“, sagte Daniels und deutete mit dem Kopf auf einen Tisch links von ihrem Schreibtisch. „Mit so einem wie dem da drüben.“

Dean nahm es in die Hand und prüfte die Spitze mit seiner Handfläche.

„Damit könntest du nicht mal Weißbrot schneiden.“

„Ach wirklich, meinen Sie?“ Daniels grüne Augen warfen scharfe Blicke auf die beiden Brüder. Sie zog einen Streifen Kaugummi aus einer Schublade, wickelte ihn aus und warf ihn in den Mund. Dann zerknüllte sie das Papier und stopfte es in den Ascher.

„Schauen Sie mal“, sagte sie. „Ich weiß, dass Sie nicht von hier sind. Also möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Gehen Sie zur Historischen Gesellschaft, schauen Sie sich einige Bilder an, überprüfen Sie das Schlachtfeld, reden Sie mit einigen Rollenspielern –“

„Das haben wir bereits getan“, sagte Dean.

„Sehr gut.“ Sie nahm den Kaugummi aus dem Mund und schaute ihn an, als hätte er sie persönlich beleidigt. Dann stopfte sie ihn in den Aschenbecher. „Dann sind wir uns ja einig. Sie machen ihre Hausaufgaben selbst und lassen mich meine Arbeit machen. Wenn Sie ein paar intelligente Fragen haben, dann kommen Sie wieder, okay?“

Demonstrativ richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Papierkram auf ihrem Schreibtisch. Die Diskussion war eindeutig beendet.

„Richtig“, sagte Dean. „Intelligente Fragen.“

Sam blickte auf.

„Ich habe eine.“

Der Sheriff sah aus den Abgründen einer bodenlosen Gleichgültigkeit zu ihm hoch.

„Ja?“

„Wolverton hat sich mit seinem eigenen Bajonett erstochen, oder?“

„Ja.“

„Also“, sagte er und zeigte auf das Foto. „Was sind das für Male an seinem Hals?“

„Wo?“

„Genau da.“ Sam tippte auf das Foto und zeigte auf Wolvertons Hals, auf dem sich ein Paar roter Würgemale rund um den Hals wanden. „Sieht aus wie Blutergüsse, nicht wahr?“

„Das müssten Sie den Gerichtsmediziner fragen.“

„Sie haben also selbst nichts Merkwürdiges entdeckt?“

„Etwas Merkwürdiges?“ Der Sheriff zog eine Augenbraue hoch. „Machen Sie Witze?“

Dean entging nicht, dass Daniels die Frage nicht beantwortet hatte.

„Vielleicht sollten wir mal selbst mit dem Gerichtsmediziner reden“, sagte er.

„Bitte. Sein Büro ist nur zwei Blocks entfernt.“ Sie schaute auf die Uhr. „Ich sage Ihnen etwas – es wird langsam spät, aber ich rufe ihn an und informiere ihn, dass Sie kommen.“

„Blutergüsse.“ Dean untersuchte das Foto immer noch eingehend. „Sieht fast so aus, als wäre er erwürgt worden oder so etwas. Nicht wahr, Sam?“

Als er nicht sofort eine Antwort bekam, drehte er sich um und blickte über die Schulter zu seinem Bruder. Er erwartete Zustimmung oder zumindest ein Nicken zur Bestätigung.

„Sam?“

Aber Sam Winchester tat etwas sehr Ungewöhnliches.

Er blieb plötzlich vollkommen stumm.

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