Zwei

Sam Winchester träumte. Er träumte, wie er vor dem Panoramafenster einer VIP-Suite im Bellagio stand und die bunten Lichter von Vegas wie eine Handvoll billiger Modeschmuck unter ihm ausgebreitet lagen.

Hinter ihm drang eine sanfte Stimme aus dem Flachbildfernseher und informierte über die Spielregeln beim Blackjack. Es war ein hauseigener Kanal des Hotels, das Programm lief rund um die Uhr.

Sam hörte nicht zu.

Irgendwann im Verlaufe seines Traums hatte er begriffen, dass er zum Spielen hergekommen war und gewonnen hatte – viel gewonnen. Er drehte sich um und sah einen Haufen Chips und Bargeld auf einem zerwühlten Bett liegen. Direkt daneben ruhte eine leere Champagnerflasche in einem verchromten Kühler voll von halb geschmolzenem Eis.

Die Stimme aus dem Fernseher plätscherte im seichten, einschmeichelnden Tonfall eines Salonmagiers weiter.

„Wenn der Spieler sich entschließt, den Einsatz zu verdoppeln, ist es immer ratsam, dass er sich zuerst die Karte des Croupiers ansieht und erst danach seine eigenen.“

Die Tonlage der Stimme veränderte sich ein wenig.

„Wie ist es mit dir, Sam? Weißt du, was der Croupier auf der Hand hat?“ Sam starrte auf den Bildschirm. Das Gesicht war ihm wohlbekannt – aus den Träumen und Albträumen, die er jede Nacht durchlitt.

Luzifer.

„Sam?“

„Verschwinde!“, sagte Sam. Seine Stimme klang gepresst. Ein Gefühl der Anspannung legte sich um seine Kehle, drückte heiß reibend gegen seine Haut und presste seine Stimmbänder zusammen. „Lass mich in Ruhe!“

„Es tut mir leid, das kann ich nicht“, antwortete Luzifer. „Nicht jetzt. Niemals.“

Sam versuchte zu antworten, aber diesmal brachte er kein Wort heraus. Er konnte nicht einmal mehr atmen.

„Schau dich doch nur an“, sagte Luzifer, und dann stand er plötzlich neben Sam. „Wirf einen gründlichen Blick in den Spiegel und sag mir, was du siehst!“

Sich ansehen? Das war leicht. In dieser Suite herrschte kein Mangel an Spiegeln.

Er wandte sich dem nächstgelegenen zu, wobei seine Finger bereits nach dem Etwas griffen, das ihm die Kehle zuschnürte. Aber alles, was Sam im Spiegel erkennen konnte, war, dass die Haut um seinem Hals ein wenig eingedrückt aussah.

Hinter ihm begann Luzifer zu lachen.

„An das meiste hiervon wirst du dich nicht erinnern, wenn du wieder aufwachst“, sagte er beinahe mitfühlend. „Aber du wirst wissen, dass ich kommen werde, dich zu holen.“

Sam konnte immer noch nicht sprechen. Große Flecken in der Farbe von Blutergüssen bildeten ein Band um seinen Hals. Er sah, wie die Flecken dunkler wurden und sich zu den Abdrücken unsichtbarer Hände formten.

Angst – Panik – breitete sich wie eine plötzliche Kältewelle in seinem Bauch aus.

Sam wollte schreien.

Irgendwie glaubte er, dass das alles aufhören würde, wenn er nur irgendein Geräusch herausbrächte. Dann würden diese Flecken verschwinden, und er würde wieder atmen können.

Aber er konnte nicht.

Und er konnte nicht.

Und er …

„Hey! Hey, Sam. Sabberer!“ Eine Hand schüttelte ihn, und das nicht gerade sanft. „Yo! Wach auf.“

Sam grunzte, schreckte hoch und öffnete die Augen, während er den Kopf vom Fenster wegzog. Vom Steuer des Impala aus sah Dean ihn mit brüderlicher Belustigung an.

„Wisch dir das Gesicht ab, Mann, du siehst aus wie ein verdammter glasierter Donut.“

Ohne ein Wort zu sagen, griff Sam nach dem Rückspiegel und drehte ihn nach unten, während er das Kinn anhob, um seinen Hals zu begutachten. Der war fleckenlos, die Haut sah normal aus. Sam seufzte und sank zurück in seinen Sitz, wobei er sich eher ausgewrungen als erleichtert fühlte.

Dean warf ihm erneut einen Blick zu. Sein Gesichtsausdruck war vorsichtig-neutral.

„Schlecht geträumt?“

„Könnte man sagen.“ Sam merkte, dass Dean mehr erwartete, doch die Bilder verblassten bereits und ließen wenig mehr als ein verschwommenes Gefühl des Schreckens zurück. Wenn er versuchte, das in Worte zu fassen, würde das seinen Bruder nur noch misstrauischer machen. „Egal, mir geht es gut.“

„Echt?“ Dean klang nicht überzeugt.

„Echt.“

„Gut.“ So viel dazu.

Dean drehte das Radio lauter. Dort stimmte gerade Lynyrd Skynyrd die letzten Wiederholungen von Sweet Home Alabama an. Der Song lief bereits zum zweiten Mal in der letzten halben Stunde, aber Dean hatte ihn trotzdem lauter gestellt und füllte das Schweigen zwischen ihnen mit dem Klang von Gitarren und Schlagzeug.

Sam fand eine halbwegs saubere Serviette auf dem Boden und wischte sich den Mundwinkel ab. Dann knüllte er sie zusammen und starrte durch das Fenster auf die Landschaft. Sumpfkiefern und kalifornische Buscheichen rauschten vorbei – dichter Wald. Dahinter lag meilenweites Sumpfland, das nur ab und zu von einem herrschaftlichen Südstaatenhaus, Bächen oder Hügeln unterbrochen wurde. Das gleiche Terrain hatte sich schon vor fast einhundertfünfzig Jahren für die Soldaten aus Nord und Süd als Herausforderung erwiesen.

„Wie weit noch?“, fragte er.

„Pst! Ich steh auf diesen Teil.“ Dean drehte für das Gitarrensolo auf und versank für einen Moment vollkommen in sich selbst, bevor er wieder zu sich kam. „Entschuldige, was hast du gesagt?“

„Dir ist schon klar, dass wir hier nicht in Alabama sind, oder?“

„Von den Skynyrd kam auch keiner von da.“ Dean zuckte die Schultern. „Aber du weißt, wo sie den Song aufgenommen haben?“

„Lass mich raten – Georgia?“

Zwanzig Minuten später erreichten sie den Friedhof.

* * *

Die Polizei hatte bereits das vordere Tor abgesperrt, um die Fernsehreporter fernzuhalten, die sich dort zusammen mit mindestens einhundert Schaulustigen eingefunden hatten. Einige hielten selbst gemachte Schilder hoch. „Friedhofsjunge, wir lieben dich“ oder „Komm nach Hause, Toby“ stand darauf. Dean hielt eine Hand aus dem Fenster und zeigte seinen FBI-Ausweis. Der Trooper winkte sie mit dem müden Gesichtsausdruck eines Beamten durch, der seiner Pflichten schon seit Längerem überdrüssig war. Sam konnte ihm keinen Vorwurf machen. Da draußen herrschte das reinste Chaos.

Der Friedhof erstreckte sich auf einem alten Stück moosbewachsenen Sumpfgeländes, das unregelmäßig mit uralten grauen Grabsteinen bestanden war. Viele davon neigten sich bereits zur Seite oder waren umgefallen und senkten sich in den weichen Untergrund. Von den meisten Steinen waren die Namen bereits vollkommen verschwunden und hatten nur noch glatten amnesischen Marmor zurückgelassen.

Dean parkte den Impala unter einer hohen Eiche. Er und Sam kletterten aus dem Wagen, die Hitze ließ ihre schlecht sitzenden Anzüge regelrecht am Körper kleben. Die Brüder gingen auf die Ansammlung aus Streifenwagen und blauen Uniformen zu, die sich ein paar Hundert Meter vor ihnen zeigte.

„Also“, sagte Dean. „dieser Junge, der ‚Friedhofsjunge‘ …“

„Toby Gamble“, ergänzte Sam.

„… ist vor vier Tagen von zu Hause verschwunden?“, beendete Dean seine Frage.

„Richtig.“

„Und keiner hat was gesehen?“

„Sieht ganz so aus.“

„Und dann, gestern Morgen …“

Sie blieben vor einem Mausoleum stehen, an dem sich ein paar Cops versammelt hatten und Kaffee tranken. Die meisten starrten auf die Worte, die in kindlichen, rotbraunen Buchstaben direkt auf den Stein gekritzelt waren.

HILF MIER

„Der Junge hat’s wohl nicht so mit der Rechtschreibung“, bemerkte Dean.

„Er ist erst fünf.“

„Wahrscheinlich ein Produkt des Hausunterrichts.“

„Das sind wir auch.“ Sam blickte auf die Seiten, die er zuvor ausgedruckt hatte. „Seine Mutter bestätigt, dass es seine Handschrift ist.“

„Und das Blut?“

„Die Probe ist noch im Labor.“

„Das ist also alles, was wir haben?“

„Das hier“, sagte Sam, „und das dort.“

Er zeigte auf den Hügel. Dean blickte zu den Grabsteinen, die am westlichen Ende des Friedhofs standen.

„Oh!“

Dort standen Dutzende Grabsteine, die über und über mit der gleichen schiefen kindlichen Handschrift beschmiert waren.

HILF MIER HILF MIER HILF MIER


HILF MIER HILF MIER

Dean nickte. „Wenigstens ist er konsequent.“

„Seine Mutter sagt, dass sie in der Nacht, als er verschwand, Stimmen in seinem Zimmer gehört hat.“

„Was für Stimmen waren das genau?“

„Wir können sie fragen.“ Sam drehte sich um und sah eine blonde Frau, die neben den Polizisten stand. Sie mochte Anfang zwanzig sein, wirkte aber so dünn und erschöpft, dass sie mindestens zwei Jahrzehnte älter aussah. Man konnte sich gut vorstellen, dass sie an einem Samstagabend kellnerte, Tabletts mit leeren Flaschen wegräumte und von betrunkenen Gästen in den Po gekniffen wurde, während aus der Jukebox die Country-Hymne des Monats dudelte. Als Sam näher kam, konnte er erkennen, dass sie etwas umklammert hielt, das wie ein blassblauer Lumpen aussah. Sie drückte den Gegenstand mit beiden Händen fest an ihre Brust. Dann wurde Sam klar, dass das ein T-Shirt des Jungen sein musste.

„Ich will ihn nur wiederhaben“, sagte sie, und ihre Stimme verriet, dass sie ihre Emotionen nur mit Mühe beherrschen konnte. „Ich will doch nur meinen Jungen wiederhaben.“

„Ma’am?“, fragte Dean und ging auf sie zu.

Sie riss den Kopf hoch und sah ihn mit ihren rot verweinten Augen erschrocken an. Der Polizist, mit dem sie geredet hatte, blickte Dean und Sam misstrauisch an.

„Ja?“

„Ich bin Agent Townes, das ist Agent Van Zandt, FBI. Wir haben uns gefragt, ob wir Ihnen ein paar Fragen über Ihren Sohn stellen dürfen.“

„Ich habe schon mit der Polizei gesprochen.“

„Es dauert nur eine Minute.“

„Ich kann nicht – Es tut mir leid – Ich weiß einfach nicht, ob ich das kann …“

„Die Stimmen, die Sie in seinem Zimmer gehört haben“, fuhr Dean unbeirrt fort. „Haben Sie verstanden, was dort gesagt wurde?“

„Es waren … Worte, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Dann haben sie einfach nur immer wieder seinen Namen gesagt. Zuerst …“ Ihr kamen wieder die Tränen. „Zuerst dachte ich, das wäre nur der Fernseher, aber dann hörte ich ihn schreien. Ich bin ins Zimmer gerannt, aber er war schon weg.“

Sie schüttelte den Kopf, ihre blassblauen Augen schweiften über den Friedhof, und sie drückte das T-Shirt noch fester an sich.

„Als ich von dieser ganzen Sache erfahren habe, dachte ich …“

Plötzlich ertönte ein Schrei auf der anderen Seite des Friedhofs. Dean und Sam fuhren herum, um die Quelle des Lärms zu orten.

Ein Afroamerikaner kam hinter den Grabsteinen hervor und trug einen kleinen Jungen auf dem Arm. Der ganze Oberkörper des Kindes war über und über mit roten Spritzern besudelt, aber es war am Leben und wand sich heftig im festen Griff des Mannes.

„Du da!“, brüllte einer der Cops. „Stehen bleiben! Lass den Jungen los! Sofort!“ Er zog seine Waffe und richtete sie auf den Neuankömmling.

Sams Miene verfinsterte sich.

„Ist das …?“

Rufus?“, rief Dean und blinzelte. „Was zur Hölle –?“

Sam und Dean gingen auf ihren Jägerkollegen zu. Der nervöse Polizist senkte die Waffe, offensichtlich irritiert, weil die beiden den blutbefleckten Fremden kannten.

Rufus Turner blieb stehen und ließ den Jungen gehen, der sofort zu seiner Mutter rannte.

„Mir geht es gut“, sagte Rufus und sah auf seine Jacke hinab. Sie war auch voller roter Flecken. „Außer diesem ganzen verdammten Karo-Sirup auf meinen Klamotten.“

„Karo-Sirup?“

„Der Bengel hatte eine ganze Flasche dort hinter den Bäumen versteckt.“

Der Junge sagte etwas. Obwohl er leise sprach, konnte man seine Worte klar und deutlich hören.

„Mami, ich habe keine Lust mehr, bei diesem Spiel mitzumachen“, sagte er und umarmte seine Mutter, die auf einmal den Eindruck machte, dass sie es ziemlich eilig hatte, von diesem Ort zu verschwinden. „Ich hab Hunger, mein Magen fühlt sich ganz komisch an.“

Dann, ganz plötzlich, übergab er sich.

„Klasse“, murrte Dean und warf Rufus einen Blick zu. „Wir wussten nicht, dass du schon an dem Fall dran bist.“

Rufus zuckte mit den Schultern.

„Ich war in der Gegend, war auf dem Weg in eine Stadt namens Mission’s Ridge. Dachte, ich halte mal kurz hier an, um zu sehen, was läuft. Jetzt sieht mein letztes sauberes Hemd so aus, als hätte darin jemand eine Herzoperation durchgeführt.“

„Sir, wir haben ein paar Fragen“, sagte einer der Detectives in Zivil. „Würde es Ihnen etwas ausmachen mitzukommen?“

„Werden Sie mir die Reinigung erstatten?“, fragte Rufus.

Sam blickte auf.

„Was ist das für eine Sache in Mission’s Ridge?“

„Schießerei bei der Nachstellung einer Bürgerkriegsschlacht“, sagte Rufus leise. „Ein paar Zivilisten sind gestorben.“

„Und?“

„Die verwendeten Gewehre waren Replica-Waffen.“ Rufus blickte sie an. „Und sie waren voller Blut.“

Echtes Blut?“

„Das habe ich zumindest gehört.“

„Das ist alles?“, fragte Dean. „Wie hast du davon erfahren?“

„Anonymer Tipp via E-Mail. Ausgerechnet ’ne Quelle oben in Maryland.“

Deans Gesicht verfinsterte sich.

„Maryland?“

„Ein Ort namens Ilchester. Warum, kennst du das Kaff?“

Dean drehte sich zu Sam um, der ihn bereits anstarrte.

„Wer ist diese Quelle?“

„Habe ich doch gesagt. Anonym.“

„Dann übernehmen wir das“, sagte Dean. „Gib uns, was du hast, und wir kümmern uns darum.“

„Bist du sicher? Warum seid ihr so erpicht darauf?“, fragte Rufus.

„Vergiss es“, sagte Dean. „Geh du mal und lass deine Jacke reinigen!“

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