Dreißig

Judas Ischariot schlenderte auf dem Hügel entlang. Er hatte in Betracht gezogen, für seinen Auftritt ein fahles Pferd zu verwenden, aber das schien ihm dann doch etwas zu protzig, selbst für seine Verhältnisse. Allein hier aufzutauchen führte das Schicksal auf eine Weise in Versuchung, mit der er sich nicht so ganz anfreunden konnte. Zeit und Erfahrung hatten ihn eine gewisse Umsicht gelehrt.

Aber letztendlich hatte er sich die Uniform eines Generals übergeworfen, den Degen umgeschnallt und war mit festen Schritten aus dem Wäldchen aus Lebenseichen herausmarschiert. Er schlenderte am südlichen Rand des Schlachtfelds entlang, um von oben zuzusehen, wie die Dinge sich entwickelten. Nicht, weil er den Lauf der Ereignisse verändern wollte – solche Dinge überließ man besser anderen –, sondern einfach nur, um sich an dem endlos amüsanten Spektakel des menschlichen Leidens zu ergötzen. Ebenso wie Kreuzigungen und Pornografie wurde das niemals langweilig.

Er war kurz vor Tagesanbruch eingetroffen, als weiter unten bereits der Kanonendonner und der laute Jubel der Dämonen zu hören war. Es trug nicht viel dazu bei, seine Stimmung zu heben. Die Nachricht von dem, was seinem Sammler im Keller der Pfingstkirche zugestoßen war, hatte ihn selbstverständlich schon erreicht. Sie hatte ihn verärgert und in jenen Zustand von Ruhelosigkeit und Depression gestürzt, der ihn in den vergangenen zweitausend Jahren immer wieder einmal heimgesucht hatte. Von den zwölf war er immer der Launischste gewesen, und ein Dämon zu werden hatte daran nichts geändert.

Und dann war da auch noch der Verlust der Schlinge.

Es gab auch noch andere Schlingen, natürlich, ein halbes Dutzend war irgendwo zwischen Burbank und Bangkok über die Welt verstreut. Die meisten befanden sich in den Händen von privaten Sammlern oder Okkultisten, die gar keine Ahnung hatten, was sie da besaßen. Es würden neue Schlingen hinzukommen, weil die Menschheit in ihrer unglaublichen Findigkeit immer wieder das Geheimnis des siebten Knotens entschlüsselte und so ihr eigenes Schicksal webte wie die gehorsamen Schäfchen, die sie nun einmal waren.

Aber nun gab es eine weniger.

Die Schlinge und den Sammler in der gleichen Nacht verloren zu haben, noch dazu an einen niederen Dämon wie diesen McClane, war ein Ärgernis für Ischariot. Aber wenigstens würde die Schlacht, die dieser Idiot hier entfesselt hatte, ihn …

„Judas?“

Er blieb stehen, weil er vollkommen überrascht war, seinen Namen laut ausgesprochen zu hören. Er drehte sich um und sah den Mann an, der ein paar Meter entfernt stand. Er trug einen zerknitterten Anzug und einen Trenchcoat und sah aus, als wäre er die halbe Nacht auf den Beinen gewesen. Als Judas ihn endlich erkannte, lächelte er.

„Castiel“, sagte er ehrlich erfreut. „Wie geht es dir, mein Freund?“

Castiel starrte ihn an.

„Ich habe dich überall gesucht.“

Judas richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Schlacht.

„Es ist immer wieder ein Vergnügen zuzusehen, wie die Ameisen auf dem Ameisenhaufen herumwimmeln, nicht wahr?“ Als Castiel nicht antwortete, verdüsterte sich Judas’ Miene ein wenig. „Du machst mich doch sicher nicht hierfür verantwortlich?“

„Es war deine Schlinge.“

„Sie wurde mir gestohlen“, protestierte Judas, eher bockig als böse. „McClane und seine Gefolgsleute haben einen meiner Sammler in einen Hinterhalt gelockt und sie ihm weggenommen. Schlimmer noch, er hat deine Freunde dafür eingespannt.“

„Trotzdem war es deine Schlinge, also liegt alles Weitere in deiner Verantwortung.“

Judas schüttelte den Kopf und erhob beide Hände.

„Ich habe schließlich nicht deshalb so lange überlebt, weil ich mich in jedes unbedeutende kleine Geplänkel habe verwickeln lassen.“

„Das hier ist nicht einfach nur ein kleines, unbedeutendes Geplänkel“, sagte Castiel. „Nach allem, was bisher passiert ist, müsstest du wissen, was auf dem Spiel steht.“

„Und noch einmal, das ist nicht mein Problem.“

„Du machst dir keine Sorgen?“

Judas sah ihn stirnrunzelnd an.

„Natürlich tue ich das. Du kennst mich doch. Ich mache mir immer Sorgen.“ Er hielt inne, um einer Handvoll Dämonen auf Pferden zuzusehen, wie sie ein Zelt in Brand steckten. Mehrere menschliche Rollenspieler eilten heraus, und die Dämonen schossen ihnen mit ihren Musketen in den Rücken. Er konnte sogar ihr gehässiges Gelächter hören.

„Aber mal ganz ehrlich, wenn man das große Ganze betrachtet, was soll man schon machen?“ Dann wandte er sich wieder Castiel zu. „Warum bist du hier?“ Ein Ausdruck von Erkenntnis begann sich auf Judas’ Gesicht auszubreiten. „Was willst du von mir, Castiel?“

„Es ist etwas anderes.“

„Bemühe dich nicht, taktvoll zu sein! Das gehörte noch nie zu deinen Stärken.“

Castiel seufzte.

„Ich suche Ihn.“

„Immer noch?“

„Immer noch.“

„Ich weiß nicht, warum …?“ Judas brach mitten im Satz ab. „Warte! Du glaubst doch nicht etwa, dass ich …?“ Judas starrte Castiel mit gespanntem Blick und leicht geöffnetem Mund an. Das Gefühl der Ungläubigkeit schwoll zu vollkommener Fassungslosigkeit an und ließ alle Farbe aus Judas’ Gesicht entweichen. Einen Moment lang fühlte er sich, als ob er vor Wut gleich explodieren würde. Aber stattdessen brach er in schallendes Gelächter aus.

„Oh! Oh Mann!“ Er bog sich vor Lachen und hielt sich den Bauch, brüllte geradezu, bis ihm Tränen in die Augen stiegen. „Oh, mein lieber Castiel, es tut mir leid. Ich … ich habe dich hier gesehen, und ich habe angenommen, dass du … aber du … oh Mann …“

Und dann gab er sich einem weiteren Lachkrampf hin.

„Du solltest mal dein Gesicht sehen, das ist einfach unbezahlbar.“ Als Judas endlich wieder zu Atem kam, klopfte er Castiel auf die Schulter. „Danke!“, sagte er und wischte sich schniefend die Tränen aus den Augen. „Das hatte ich bitter nötig. Das hatte ich wirklich.“

Castiel stand ungerührt und bewegungslos da.

„Bist du nicht der, der das Brot mit Seinem Sohn geteilt hat?“

„Oh ja!“, sagte Judas und blickte wie in Erinnerungen versunken himmelwärts. „Ja, in der Tat. Wir haben das Brot geteilt, und ich habe zu seinen Füßen gekniet. Und wir haben über viele Dinge geredet.“

Sein Kopf drehte sich blitzschnell zu dem Engel, seine Stimme wurde schneidend, der Blick hart und seine Augen schwarz. Alle Spuren des Lachens waren aus seinem Gesicht getilgt. „Aber jetzt diene ich einem anderen Herrn.“

Castiel scheute einen Schritt zurück.

„Entschuldige. Schmerzhafte Erinnerungen.“ Judas kam einen Schritt auf Castiel zu und streckte den Arm aus, um ihm eine imaginäre Fussel von der Schulter zu wischen. „Geh schon! Geh nach unten! Misch dich unter deinesgleichen!“

Deinesgleichen.

Castiel drehte sich widerwillig um und sah nach unten auf das aufgewühlte Schlachtfeld, über dem dicker schwarzer Rauch hing. Dort unten sah es nach einer Mischung von Hieronymus Bosch und Ken Burns aus. Dämonen zu Pferd und zu Fuß hatten das letzte Zelt der Rollenspieler umringt, andere drängten auf den Parkplatz. Sie griffen die Streifenwagen an, schlugen die Scheiben ein und ließen die Fahrzeuge durchschaukeln, bevor sie sie in Brand setzten.

Ein Dutzend Wagen der State Troopers kam hinzu, und die Neuankömmlinge begannen im Schutz ihrer Fahrzeuge auf die Angreifer zu feuern. Einer der Dämonen ließ sein Pferd über einen Streifenwagen springen und schwang dabei seinen Säbel so, wie Pete Townsend auf seine Trommeln einzudreschen pflegte. Der Trooper direkt neben dem Wagen büßte seinen Arm ein, während die Pferdehufe die Lichter auf dem Dach zertrümmerten. Funken sprühten auf den Asphalt hinunter. Der Trooper stand still da und starrte auf die verstümmelte Schulter, an der einst sein Arm gehangen hatte.

„Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen“, setzte Castiel an.

Judas schlug einen freundlich-mitfühlenden Ton an.

„Dann tut es mir leid, dass du vergebens gekommen bist.“

„Es war nicht vergebens, wenn ich helfen kann“, drängte Castiel. „Und das werde ich. Aber zuerst muss ich wissen, ob du mir alles gesagt hast, was du weißt.“

„Ich weiß, dass das nicht einfach zu akzeptieren ist“, sagte Judas. „Aber was ich über Ihn weiß … Da kann ich dir nur ehrlich sagen, dass du glücklich über deine Unwissenheit sein solltest. In diesem Fall sind die Unwissenden wirklich selig.“

Castiel sah ihn an. Es war unmöglich zu sagen, ob der Dämon seine Scherze mit ihm trieb oder nicht. Was immer davon auch stimmte, Judas hatte recht. Und er musste nach da unten, und zwar sofort. Solange es noch jemanden zu retten gab.

„Castiel“, rief Judas ihm hinterher, als er seine Patrouille fortsetzte. „Es war schön, mal wieder mit dir zu reden. Lass was von dir hören!“

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