Vierundzwanzig

Sam und Dean verließen die Kirche auf dem Weg, den sie gekommen waren. Vater und Sohn folgten den Winchesters kommentarlos durch die Tür hinaus. Tommys Pick-up war in der Nähe des Hintereingangs geparkt. Sam kletterte auf den Sitz und rutschte in die Mitte, während er die Schlinge vorsichtig in der Hand hielt.

Schritte schlurften hinter ihnen auf dem Asphalt, und Dean drehte sich um. Er sah Castiel, der durch die Gasse auf sie zukam.

„Hey!“ Tommy erhob seine Taschenlampe. „Wer zur Hölle sind Sie?“

„Ganz ruhig“, sagte Dean. „Er ist in Ordnung.“

„Wo ist er?“ Castiels Blicke wanderten zu der Schlinge in Sams Hand. Seine Stimme klang vor lauter Eifer ganz gepresst. „Habt ihr ihn gesehen?“

„Den Zeugen?“ Dean schüttelte den Kopf. „Entschuldige, Cass – er hat sein persönliches Stunt-Double geschickt. Einen sogenannten Sammler. Der Typ wusste gar nichts.“

„Wir werden sehen, was er mir erzählen kann“, sagte Castiel und drängte sich auf dem Weg zu den Treppenstufen am Hintereingang an ihnen vorbei.

„Äh, Cass …? Ich glaube, das wird wohl nichts.“

Der Engel verharrte und sah zurück. „Was?“

„Sam hat ihn irgendwie … getötet.“

Was?“ Castiel starrte sie entsetzt an. „Was habt ihr euch dabei gedacht?“

„Das kann ich dir sagen. Entweder er oder ich“, entgegnete Sam.

„Ich glaube, dass ihr gar nicht versteht, was uns das kosten wird“, sagte Castiel. „Keiner von euch beiden. Euer Egoismus hat uns vielleicht unsere letzte Chance geraubt.“

„Sams Egoismus hat ihm das Leben gerettet“, konterte Dean.

Castiels Gesichtsausdruck strotzte immer noch vor kaum verhohlener Wut. Er schien kurz davor, etwas zu sagen – vielleicht kurz davor, viele wichtige Dinge zu sagen. Am Ende drehte er sich aber einfach um und ging die Stufen hinunter.

Tommy atmete hörbar aus.

„Sollte ich fragen, was das bedeutet?“

„Nein“, sagte Dean. Mit einem Schulterzucken, das eher Müdigkeit als Resignation ausdrückte, ging Tommy über die Straße zu seinem Pick-up und öffnete die Beifahrertür für Dean.

„Ist schon in Ordnung“, sagte Dean. „Lassen Sie mal den Jungen vorne mitfahren. Es ist schließlich mitten in der Nacht.“

„Sie sehen ja noch schlimmer aus als er“, sagte Tommy. „Außerdem hat er da hinten etwas, mit dem er sich beschäftigen kann.“

„Sie meinen ein Spiel?“

Tommy nickte geistesabwesend.

„So was Ähnliches.“

Sie fuhren von der Kirche weg durch eine leere, vom Mond erleuchtete Gasse. Tommy steuerte sie durch die Stadt und blickte ab und zu misstrauisch auf die Schlinge, die Sam immer noch auf dem Schoß liegen hatte und vorsichtig mit dem Stofffetzen festhielt. Aus dem Radio tönte die Marshall Tucker Band mit Can’t you see.

„Es ist schon merkwürdig“, sagte Tommy gedankenverloren. „Da hört man sein ganzes Leben lang Geschichten über etwas, und wenn man es dann endlich findet, fühlt man sich beinahe enttäuscht, wissen Sie?“

„Wir werden die Schlinge zerstören müssen“, sagte Sam. „Früher oder später.“

„Auf dem Schlachtfeld“, sagte Tommy. „Dort muss es passieren.“

„Warum dort?“

„Weil sie dort geknüpft wurde. Aristede Percy hat sie in einem Medizinzelt geknüpft. Mit den gleichen Knoten, die er benutzt hat, um auch die Leiche von Jubal Beauchamp zuzunähen.“

Deans Telefon klingelte. Er zog es hervor und sah auf den Bildschirm.

„Hm, es muss sich irgendwie von dem Bad im Sumpf erholt haben“, sagte er und drückte auf SPRECHEN. „Hey, Bobby!“

Sam beobachtete Dean, der nachdenklich das Messer in seiner Hand betrachtete, während er Bobby zuhörte.

„Bobby, was ist los, Mann?“ Die Stimme des väterlichen Freundes war ein einziges Rauschen, die Worte waren nicht klar genug, um sie erraten zu können. „Was? Ja, haben wir.“ Er blickte zu der Schlinge auf Sams Schoß und dann wieder auf das Messer. „Wir bereiten uns gerade darauf vor, es zu tun. Draußen auf dem Schlachtfeld.“ Er zog eine Augenbraue in Richtung Tommy hoch. „Wie weit ist es noch?“

„Wir sind fast da, sehen Sie?“

Vor dem Fenster leuchtete der Hügel im Mondlicht, obwohl sich die ersten Vorboten der Morgendämmerung bereits im Osten bemerkbar machten. Sam konnte die Umrisse einiger Zelte erkennen, die immer noch am Abhang verstreut zwischen den Kratern standen. Er musste daran denken, was Sarah gesagt hatte. Dass die Rollenspieler sich weigerten, abzuziehen, bevor ihnen jemand erklärt hatte, was mit ihren Kameraden passiert war.

„Also, ja, wir sind …“ Dean verstummte. „Was? Sag das noch mal?“ Der Pick-up fuhr mit knirschenden Reifen über den Parkplatz und hielt an. Bevor Sam fragen konnte, was los war, hörte er hinten auf der Ladefläche ein dumpfes Klopfen. Unter der Plane, die Dean und ihn auf dem Rückweg aus dem Sumpf bedeckt hatte, bewegte sich etwas. Ein tumultartiges Rumpeln war zu hören, das nach um sich tretenden Füßen oder boxenden Fäusten klang. Sam blickte über die Schulter, aber es war zu dunkel, um zu erkennen, was da los war.

„Tommy? Ist Nate da hinten in Sicherheit?“

„Oh ja!“, sagte Tommy. „Er kann auf sich selbst aufpassen.“

„Sind Sie sicher? Er ist doch erst, wie alt? Elf?“

„Warten Sie mal ’ne Sekunde“, fiel Dean drängend ein. „Bobby sagt, wir dürfen die Schlinge nicht zerschneiden. Er sagt, wenn wir das machen …“

Auf der Ladefläche des Trucks ertönte ein Schrei.

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