Fünfzehn

Nach dem Exorzismus wurde der Schwefelgeruch noch schlimmer.

„Bäh, was haben die da unten eigentlich aufgemacht?“, fragte Dean und sah über die Haubitzen hinweg auf das schwelende Schlachtfeld hinab. Er bedeckte Mund und Nase mit einer Hand und wedelte mit der anderen vor dem Gesicht, als könnte er ein Loch reiner Luft in die dicken Schwaden fächeln, die sich um sie herum sammelten.

„Riecht wie …“

„Ich weiß“, sagte Sam. „Und es wird immer schlimmer.“

Granatsplitter aus den Kanonen hatten das Schlachtfeld vollkommen aufgewühlt, Bäume entwurzelt und Dutzende Löcher in den Boden gerissen. Durch dicke Wolken aus Rauch und Staub sah Sam, dass sich Rettungskräfte und Polizisten um einen der Krater versammelt hatten und hineinstarrten. Wahrscheinlich war unter ihnen auch der Sheriff, dachte er finster.

Lange Speere aus Sonnenlicht brachen durch die Wolken, so plastisch wie Säulen. Es sah aus, als hätte Gott höchstpersönlich Interesse an dem, was hier passiert war. Obwohl es aus der Entfernung schwer auszumachen war, glaubte Dean in dem Loch zwischen den Steinen und Baumwurzeln Trümmer zu erkennen. Und nach den Reaktionen der Umstehenden zu urteilen, sahen die auch etwas.

Und Dean fiel noch etwas auf.

„Hat der Zug nicht im Schuppen gestanden?“

Sam sah hinüber zum anderen Flussufer und den Stahlschienen, die dort über das Schlachtfeld verliefen. Ganz weit links stand eine Dampflokomotive aus den 1850er-Jahren vor einem Eisenbahnschuppen. Man konnte die Zugmaschine, den Kohlenwagen und den Werkstattwagen sehen, ebenso wie die Artillerie, die aus einem Gatling-Geschütz bestand, das auf einen Flachwagen montiert war.

„Gehört vielleicht zur Nachstellung der Schlacht?“, fragte Dean hoffnungsvoll.

„Wenn das so ist, warum haben wir es dann bisher noch nicht gesehen?“, konterte Sam. „Das ist schwer zu übersehen. Der Dämon meinte doch, dass er einem höheren Ziel dient“, fügte er hinzu. „Ich glaube nicht, dass die versucht haben, jemanden umzubringen. Ich glaube, die wollten Löcher erzeugen. Um an das, was in einem speziellen Loch ist, ranzukommen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn sie diese Kanonen in Gang gebracht haben, wer kann dann schon sagen, ob sie nicht auch die gute, alte Dampflok angeworfen haben.“

Dean blickte weiter den Hügel hinab und fixierte dann etwas in einiger Entfernung.

„Ich möchte mir das mal aus der Nähe ansehen.“

„Der Sheriff ist da unten“, sagte Sam.

„Und?“

„Wir gehören nicht mehr zum FBI, erinnerst du dich?“

„Ich habe einen Plan“, verriet Dean.

„Warum überrascht mich das nicht?“

„Hey!“, sagte Dean und klopfte Sam beschwichtigend auf die Schulter. „Wo bleibt dein Vertrauen?“

Sam wollte gerade antworten, als er spürte, wie das Handy in seiner Gesäßtasche vibrierte.

„Warte mal!“ Er sah auf das Display. „Das ist Bobby.“

„Nicht jetzt.“

„Das könnte wichtig sein.“ Sam sah, wie sein Bruder sich den Hals an der Stelle rieb, wo der Dämon versucht hatte, ihn zu erwürgen. „Willst du mir wirklich erzählen, dass du keine Verschnaufpause brauchen kannst?“

„Schön – aber maximal fünf Minuten.“ Seufzend suchte Dean sich einen abgelegenen Steinhaufen und ließ sich darauf nieder, um zu beobachten, was unten vor sich ging. Sam nahm das Gespräch an.

„Hey, Bobby!“

„Sam?“ Bobby bemühte sich gar nicht erst, seine Besorgnis zu verbergen. „Du hörst dich erschöpft an. Ist alles in Ordnung?“

„Dean und ich haben gerade ein Dämonen-Killerkommando ausgeschaltet.“

„Nun ja, dann habe ich Neuigkeiten für euch.“

„Schieß los!“

„Die Münze, von der du mir ein Bild geschickt hast“, sagte Bobby. „Das ist ein tyrischer Schekel – eine alte phönizische Münze. Es ist einer der dreißig Silberlinge, die Judas dafür bekam, dass er Christus verraten hat. Wo habt ihr ihn her?“

„Die Münze stammt aus einem der Opfer“, sagte Sam.

„Bist du derjenige, der sie gefunden hat?“

„Ich habe sie aus dem Büro des Sheriffs, aber …“

„Sam, das ist wichtig. Weiß der Sheriff, dass du sie genommen hast?“

„Keine Ahnung, aber vermutlich nicht.“

„Hat sie jemals versucht, dich aufzuhalten?“

Sam runzelte die Stirn. „Ich kann dir nicht folgen.“

„Das ist Blutgeld, Sam. In der ganzen Geschichte der Menschheit gibt es nur dreißig Münzen dieser Art. Sie sind die Bezahlung für geleistete Dienste.“

Bobbys Stimme wuchs zu einem drängenden Knurren an. „Die Überlieferungen sagen, dass es nur eine Weise gibt, auf die man diese Art Silber verdienen kann. Und zwar genauso wie Judas. Indem man Menschen verrät, die man liebt.“

„Sollte ich sie loswerden?“

„Du hast mich nicht verstanden, Sam. Die Sache ist nicht mehr rückgängig zu machen. Selbst wenn du sie jetzt loswirst, es würde nichts ändern.“

„Bobby …“

„Ich rufe dich wieder an, sobald ich mehr weiß“, sagte Bobby. „Inzwischen klärst du lieber Dean auf, was ihm bevorsteht.“

„Das werde ich“, sagte Sam. Aber als er zurück zu dem Steinhaufen blickte, auf dem sein Bruder gesessen hatte, war Dean verschwunden.

Sam suchte sich seinen Weg den Hügel hinab und entdeckte seinen Bruder. Dean duckte sich hinter eine Reihe Zypressen und Lebenseichen, die entlang dem Bach wuchsen. Er beobachtete, wie ein mobiles Kriminallabor der Georgia State Police auf das Gelände fuhr und sich zwischen dem Pulk der übrigen Fahrzeuge hindurchmanövrierte.

„Was ist mit dir passiert?“, fragte Sam, als er sich neben Dean kauerte.

„Ich bin mal runter, weil ich mir das aus der Nähe ansehen wollte.“ Dean blickte ihn mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an. „Was hat Bobby gesagt?“

„Die Münze ist zweitausend Jahre alt.“ Während er diese Worte aussprach, bemerkte Sam, dass seine Hand nach oben wanderte und seinen Kragen berührte, an dem immer noch seine lose geknotete FBI-Krawatte hing. „Was Cass’ Judas-Hypothese bestätigt.“

„Das war’s?“

Sam stieß einen langen Seufzer aus. „Nein. Nein, das war es leider nicht.“

Dean erwiderte den Blick seines Bruders mit zusammengekniffenen Augen. „Was ist los, Sammy?“

„Das ist Blutgeld.“ Sam griff in die Tasche und zog den Schekel heraus. „Bobby sagt, dass die einzige Art, wie jemand an das Ding kommt …“ Der Rest des Satzes blieb irgendwo in seiner Brust hängen, und er musste sich zwingen, ihn zu Ende zu bringen. „… ist, jemanden zu betrügen, den man liebt.“

Dean starrte ihn an.

„Ich habe nichts getan, Dean!“

„Dann ist es vielleicht eine Anzahlung.“

„Was soll ich denn sagen? Meinst du, ich freue mich darüber?“

„Ich glaube, du steckst bis über die Ohren drin.“

„Also was? Soll ich dich das hier alleine machen lassen? Mich mit Handschellen an einen Baum fesseln, bis es vorbei ist?“

Dean wandte sich ab und schüttelte den Kopf. Er sah eher verärgert aus als irgendetwas sonst. „Gehört das irgendwie zu deinem Albtraum?“

„Das könnte sein“, sagte Sam. „Ich erinnere mich immer noch nicht richtig daran.“ Er starrte auf den Silberling, dann schloss er fest seine Hand darum und schleuderte ihn in den Fluss. Die Münze funkelte noch einmal und verschwand dann im braunen, langsam fließenden Wasser.

Einen Moment lang saßen die Brüder einfach still hinter den Bäumen, blickten auf Schlachtfeld und Parkplatz. Keiner von beiden wusste, was er sagen sollte. Das mobile Kriminallabor hatte inzwischen das Ende des Parkplatzes erreicht und rangierte in eine Lücke. Dahinter fuhr ein Abschleppwagen, und Sheriff Daniels dirigierte ihn zwischen den Streifenwagen, Pick-ups und Zivilfahrzeugen hindurch, die immer noch auf dem Parkplatz standen.

Sam beobachtete die Szene, während er aus dem Augenwinkel seinen Bruder im Blick behielt. Es schien ihm, als würde Dean nur auf die Gelegenheit warten, einfach wie gehabt weiterzumachen und dieses Gespräch hinter sich zu bringen. Wenn Sam noch etwas zu sagen hatte, dann wäre nun der richtige Zeitpunkt.

„Dean …“

„Schau“, unterbrach der Ältere, „verbeiß dich nicht zu sehr in diese Sache, okay? Das muss nicht unbedingt etwas heißen.“ Er stand auf und klopfte sich die Jeans ab. „Was immer mit uns passiert, wir werden damit fertig, wenn es ansteht. Außerdem hast du noch eine ganze Menge dieser Münzen im …“ Er hielt abrupt inne, geradezu schockgefroren, weil er mit ansehen musste, was sich gerade auf dem Parkplatz tat. „Im Auto.“

„Dean, was …?“

„Dieses Miststück!“ Dean zeigte zum Parkplatz, auf dem der Abschleppwagen gerade den Impala mit einer Winde hochzog. Sekunden später kämpfte Dean sich bereits durch das Dickicht der Bäume. „Sie lässt mein Baby abschleppen!“

„Dean, warte!“ Sam holte ihn ein, ergriff seinen Bruder am Arm und hielt ihn zurück. „Wir konzentrieren uns besser auf das Wichtige.“

„Du glaubst gar nicht, wie konzentriert ich bin“, sagte Dean und wehrte sich gegen Sams Griff.

„Wenn du da jetzt hinrennst, sitzen wir beide innerhalb von zwanzig Minuten in der Arrestzelle. Das weißt du.“ Sam legte seine Hände auf Deans Schultern und widerstand dem starren Blick seines Bruders. „Wir holen sie zurück, okay? Ich verspreche es.“

„Wenn da auch nur ein Kratzer an der Stoßstange ist, ich schwöre …“

„Okay, okay, ich habe dich verstanden“, nickte Sam. „Du hast gesagt, du hast einen Plan?“

Dean zog sich zurück und deutete mit dem Kopf auf das mobile Kriminallabor auf der anderen Seite des Flusses. Die Techniker, die aus dem Truck kletterten, trugen schwere Schutzkleidung – Anzüge, Atemgeräte und Schutzhauben, die wie Schweißerhauben über ihre Köpfe und Schultern gestülpt waren.

„Die Typen da“, sagte Dean. „Dort fangen wir an.“

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