Fünfundzwanzig

Dean sprang aus dem Wagen und lief zum Heck. Er griff nach der Plane, riss sie zurück und brauchte mehrere Sekunden, um zu verstehen, was er darunter entdeckt hatte. In der Dunkelheit kämpften zwei Gestalten miteinander. Die eine drückte die andere nach unten und schlug mit schnellen, harten Schlägen auf ihr Opfer ein. Die Schreie wurden lauter, heftiger.

„Lass ihn in Ruhe!“, rief Dean, packte den Angreifer am Arm und drehte ihn um. Als der Schläger ihm das Gesicht zuwandte, sah Dean, dass der Arm, den er festhielt, zu Nate McClane gehörte.

„Was?“

Der Junge schenkte ihm ein wildes Grinsen. Dean wandte seine Augen von Nate ab, um das halb bewusstlose Opfer auf der Ladefläche anzusehen. Es war Sarah Rafferty.

„Sarah?“

Sie stöhnte, und ihre Lippen hatten Mühe, Worte zu formulieren.

„Hilfe …“

„Was hast du mit ihr gemacht?“, fragte Dean und drehte sich wieder zu Nate um.

Der Junge grinste immer noch. Er zog die Lippen zurück, sodass jeder einzelne seiner Zähne zu sehen war, und seine Augen wurden blitzartig schwarz. Die Tür des Pick-ups flog auf. Sam sprang heraus, einen Moment später stieg Tommy McClane auf seiner Seite aus und ging gemächlich an der Seite des Wagens entlang. McClane grinste genauso wie sein Sohn. Das Innere seiner Augen schien sich mit schwarzer Tinte gefüllt zu haben. Ein Schleier aus Mondlicht hing wie eine unheimliche Kutte über seiner Gestalt.

„Wir haben das Mädchen bloß zum Spielen mitgenommen“, sagte McClane. „Einfach so zum Spaß. Das ist doch eine nette Belohnung, oder? Schlägt mit Sicherheit jedes E-Book.“

„Sie haben das alles nur gemacht, damit Sie das Relikt bekommen?“, fragte Dean.

„Lassen Sie mich mal so sagen. Judas und seine Sammler waren etwas zu egoistisch, wenn es darum ging, auch mal jemand anders mit der Schlinge spielen zu lassen“, spottete der McClane-Dämon. „Also haben meine Brüder und ich angefangen, selbst danach zu suchen.“

Dean dachte an die Dämonen, denen er auf dem Hügel und dem Highway begegnet war.

„Ihre Brüder.“

„Wir haben Pläne“, sagte McClane. „Große Pläne.“

Dean schüttelte den Kopf.

Verdammt! Ich wusste doch, dass ich Sie gleich beim ersten Mal in die richtige Schublade gesteckt hatte.“

„Leider konnten wir keinen Fuß in den Raum unter der Kirche setzen“, nickte McClane. „Aber Ihr habt das für uns erledigt.“ Er sah den Nate-Dämon an. „Los! Mach sie fertig!“

Nate stürzte sich mit einem Knurren auf Sarah Rafferty. Sam packte Nate an den Schultern und schlug ihn mit dem Gesicht gegen die Seitenwand des Trucks. Der Kopf des Dämons prallte von dort ab und sackte nach unten. Sam spürte, wie ihm etwas aus der Hand gerissen wurde, und er erkannte, dass das Relikt weg war. Es war passiert, als er den Dämon gepackt hatte.

Nun hatte McClane die Schlinge. Fast schneller, als Sams Augen es verarbeiten konnten, hatte der Dämon sie um Deans Handgelenk geworfen und ihm das Messer entrissen. Sam rannte auf McClane zu, als plötzlich an seinem Hinterkopf ein Feuerwerk aus Schmerzen explodierte und sein gesamtes Sichtfeld von einem Kaleidoskop aus fliegenden Kristallen ausgefüllt wurde. Als er sich taumelnd umdrehte, sah er, wie Nate ihn angrinste und sich die Faust rieb. Hinter dem Dämon erhaschte er einen Blick auf Sarah Rafferty, die sich geradezu schmerzhaft langsam, Zentimeter für Zentimeter, in die Dunkelheit verkroch.

Links von ihm hatte McClane Dean in die Knie gezwungen und trat auf ihn ein. Dean kämpfte sich wieder zurück auf die Beine, und McClane trat ihn erneut und diesmal noch härter. Das kalte Klappern seines Lachens klang wie eine Handvoll Murmeln, die von jemandem auf den Marmorfußboden eines Museums geworfen worden waren. An seiner Stimme war nichts Menschliches mehr.

„Bist du bereit?“, fragte McClane, und Nate nickte. Der Ausdruck ungesunden Eifers auf dem Gesicht des Jungen war geradezu widerwärtig.

McClane erhob das Messer, steckte es in den ersten Knoten der Schlinge und drückte das Seil nach oben. Sam hörte ein Reißen, als die Klinge durch das Hanfgeflecht schnitt. Ein schwarzer Saft spritzte aus dem Seil wie Flüssigkeit aus einer infizierten Darmschlinge. Er lief an McClanes Händen entlang bis hinunter zu den Ellbogen.

Als Sam das sah, fiel ihm ein, wie schwer die Schlinge gewesen war. Ihm wurde klar, dass das einen Grund hatte. Sie lebte und pulsierte. In seinen Händen hatte sie sich angefühlt, als würde in ihr etwas hin und her schwappen. Gebannt starrte er darauf, wie die schwarze Substanz sich plötzlich glitzernd in der Nachtluft aufrichtete und sich genau so bewegte, wie er es schon einmal, hinten im Forensik-Mobil, gesehen hatte.

Moa’ah.

Es wirbelte über ihren Köpfen und schoss dann los, quer über das Schlachtfeld und den Hügel hinauf, ein Strom noch tieferer Schwärze vor dem Hintergrund des Dunkels, das dem Sonnenaufgang vorausging. Dann erschütterte ein plötzlicher Ausbruch von Donner die Welt, Lichter blitzten und zitterten über den Abhang und erleuchteten die Wölbungen der Landschaft in einer Serie von stummen Filmbildern.

Nein, begriff Sam. Kein Donner. Kanonen.

Auf der Spitze des Hügels erschienen Schatten, die die Haubitzen bemannten. Die State Police hatte es offensichtlich noch nicht geschafft, die Waffen von dort wegzutransportieren. In jeder Sekunde kamen mehr und mehr Gestalten dazu. Sie schienen aus dem Boden zu wachsen. Aber der Eindruck täuschte. Die fleischlichen Hüllen, die sie trugen, waren die Körper jener Rollenspieler, die sich geweigert hatten, das Schlachtfeld zu verlassen.

* * *

„Ah!“ Als McClane nur noch die letzte Schlaufe des Henkersknotens zerschneiden musste, setzte er das Messer in einem anderen Winkel an, als würde er stärkeren Widerstand erwarten. „Die siebte Windung. Jetzt werden wir sehen, warum Judas wollte, dass die Schlinge so gut bewacht wird.“

Dean holte aus und wollte ihm einen Schlag versetzen.

Das hätte funktionieren sollen. McClane hatte ihn nicht einmal angesehen – er war anscheinend vollkommen in seine Aufgabe vertieft. Aber als Deans Faust auf ihn zuflog, wechselte er die Schlinge in die andere Hand und hielt Dean fast beiläufig am Handgelenk fest. Dann schleuderte er ihn seitwärts herum und übte dabei Druck auf Deans Speichennerv aus. Schmerz schoss Deans Arm wie ein dünner, glühend heißer Speer hinauf, seine Knie versagten, und er sackte zu Boden.

„Nate?“, rief McClane. Nate stieg aus der Fahrerkabine des Pick-ups und hielt etwas in der Hand. Sam erkannte, dass es die Bürgerkriegsmuskete aus dem Waffenregal des Wagens war. Der Junge legte die Büchse mit Leichtigkeit an, zielte und zog den Abzug. Sam hörte einen scharfen, ohrenbetäubenden Knall, als das Mündungsfeuer die Luft vor ihm erleuchtete. Dean kippte mit rudernden Armen nach hinten, drehte sich und landete mit dem Gesicht nach unten im Dreck.

„Dean!“, rief Sam. McClane betrachtete ihn abschätzend.

„Ich hoffe, du bist etwas schwieriger zu knacken“, sagte er und zog das Dämonenmesser. Dann holte er aus und warf es aus kürzester Entfernung auf Sam.

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