Dreizehn

Als Sam und Dean zurück in die Stadt kamen, drängten sich die Reporter bereits vor dem Büro des Sheriffs. Die nächste Parklücke fand sich zwei Blocks entfernt zwischen zwei Ü-Wagen des Fernsehens. Als Dean mit dem Impala zurücksetzte, um einzuparken, sah er in den Rückspiegel. Auf dem Rücksitz saß Castiel und starrte ihn an. Dean schreckte zusammen und trat reflexartig auf die Bremse.

„Verdammt, Cass, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du das bleiben lassen sollst!“ Sam drehte sich ebenfalls ruckartig um.

„Ihr beide müsst hier verschwinden.“

„Was? Wieso?“

„In dieser Gegend kommt es gerade zu extrem starken Dämonenaktivitäten. Ihr beide solltet so weit weg davon sein, wie es nur geht.“

„Klar“, grollte Dean. „Vor Dämonen weglaufen. Das ist ja genau unser Stil.“

„Du verstehst mich nicht ganz“, entgegnete Castiel. Er beugte sich nach vorne, packte die Sitzlehne so kräftig mit beiden Händen, dass Dean die Federn im Polster quietschen hören konnte. Castiel sprach mit einer Intensität, die jedes Wort wie in kaltes Wasser tauchende Eisenschmelze zischen ließ. „Ich dachte, dass ich herausfinden könnte, wo das Moa’ah hergekommen ist. Aber ihr seid hierher in eine Falle gelockt worden. Der Zeuge ist näher denn je.“

„Judas, oder?“, fragte Sam. „Über den reden wir doch, nicht wahr?“

„Ja“, gab Castiel zu.

„Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?“

Der Engel schüttelte den Kopf.

„Anfangs ergab es einfach keinen Sinn, dass ein so mächtiger Zeuge in so ein einfaches lokales Geplänkel verwickelt sein sollte.“

„Und jetzt ist das anders?“

„Judas ist der Hüter der Schlinge. Er und seine Helfer waren gezwungen, nach Mission’s Ridge zu kommen, weil jemand die Macht der Schlinge aktiviert hat. Und sie sind darüber nicht gerade glücklich.“

„Woher weißt du das alles?“, fragte Sam.

„Das Wissen wurde mir eingegeben …“

„Von …?“

Castiel betrachtete Sam mit absoluter Ernsthaftigkeit.

„Von dem Einzigen, der zu so etwas fähig ist, nehme ich an. Gott selbst.“

„Du weißt schon, Cass, dass Gott einer ganzen Menge verrückter Gestalten befohlen hat, eine ganze Menge verrückter Dinge zu tun. Und ein paar von den Typen sind nicht besonders nett.“

„Das war noch nicht alles.“

„Na super!“

„Du bist nicht der, auf den sie es abgesehen haben.“ Castiel drehte sich um und richtete seine Augen auf Sam. „Wer immer dahintersteckt, er lässt dir keine Wahl, Sam. Sie nutzen die Judasschlinge, um das Kommen der Apokalypse zu beschleunigen. Sie versuchen eine Situation zu erzeugen, in der du keine Wahl mehr hast und dich als Luzifers Gefäß zur Verfügung stellen musst.“

Bevor Sam etwas entgegnen konnte, sprach Dean.

„Aber natürlich hat sich der Allmächtige nicht dazu bequemt, dir zu sagen, wie das ablaufen soll?“, fragte er.

„Nein.“

„Hört sich mehr und mehr nach ihm an.“ Dean sah seinen Bruder an. „Bist du bereit?“

Sam nickte.

„Dean, warte“, sagte der Engel, seine Stimme klang fast wie ein Betteln.

„Sei mir nicht böse, Cass, aber das konnte ich noch nie gut.“

Dean und Sam stiegen aus dem Impala und bahnten sich einen Weg durch die Menge zum Büro des Sheriffs. „Dir ist klar, dass er wahrscheinlich recht hat“, sagte Sam, ohne seinen Bruder anzusehen.

„Hm, hm!“

„Und wir gehen trotzdem rein?“

„Hast du ein Problem damit?“

Sam schüttelte den Kopf.

„Wenn die mich unbedingt haben wollen, kommen sie sowieso.“

„Also schlagen wir zuerst zu“, sagte Dean. „Und zwar kräftig.“

Sie kamen an der Tür des Polizeireviers an und drängten sich durch eine Traube von Reportern und Schaulustigen, die vor dem Eingang warteten. Die Tür war verschlossen.

Dean holte seine Marke hervor und ließ sie laut gegen das Glas klacken. Drinnen blickte der Stellvertreter des Sheriffs zu ihnen auf und dann herunter auf ihre FBI-Marken. Er war ein stämmiger Mann mit einem dicken schwarzen Schnurrbart wie aus einem Cartoon. Er kam herüber und schloss die Tür auf.

„Ist Sheriff Daniels da?“, fragte Dean, als er hineinschlüpfte.

„Ja, aber Sie sollten sie im Moment besser nicht stören.“

„Es ist wichtig“, sagte Dean. Er konnte Daniels bereits auf der anderen Seite des Büros erkennen. Sie hatte den Hörer am Ohr und schrie fast hinein. „Ist mir scheißegal, was die Ihnen erzählen“, rief sie. „Ich will alle vom Schlachtfeld runterhaben. Sofort! Diese Männer kontaminieren meinen Tatort.“

Ihren Tatort?“ Dean ging mit schnellen Schritten auf sie zu und starrte sie an, bis sie gezwungen war, aufzusehen und seiner Anwesenheit Aufmerksamkeit zu schenken. Dann drehte sie sich einfach wieder um und suchte etwas anderes, auf das sie sich konzentrieren konnte. Dean bewegte sich mit ihr und hielt Augenkontakt. Sie starrte wütend zurück und beendete endlich das Gespräch, indem sie den Hörer aufknallte.

„Was wollen Sie?“, fragte sie.

„Wo ist die Schlinge?“

„Die was?“

„Phil Oiler hatte ein Seil um den Hals, als er letzte Nacht starb, und jetzt ist es weg. Bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes waren Sie alleine am Tatort. Sie haben uns die ganze Zeit Informationen vorenthalten. Also, wo ist die Schlinge?

Daniels’ Gesicht wurde kalkweiß bis auf zwei rote Flecken, die sich auf ihren Wangen zeigten. Sie kniff die Lippen zusammen, und Dean konnte sehen, wie ein kleines Blutgefäß an ihrer Schläfe zu pochen begann.

„Raus aus meinem Büro!“, knirschte sie.

„Noch nicht.“ Dean bewegte sich nicht.

Die Ader an ihrem Kopf pulsierte stärker.

„Ich habe hier zweihundert Bürgerkriegsrollenspieler, die sich weigern, zusammenzupacken und mich meinen Job machen zu lassen. Auf zwei Clowns wie euch kann ich da gut und gerne verzichten.“

„Wir gehen nicht weg, bevor wir ein paar Antworten bekommen haben“, sagte Dean.

„Oh, ich bekomme ebenfalls Antworten. Tatsächlich …“ Ihre Lippen rundeten sich etwas und formten sich zu einem dünnen, humorlosen Lächeln. „Das FBI-Büro in Atlanta ruft mich gleich zurück. Von dort, sagten Sie doch, kommen Sie, nicht wahr?“

„Ja“, sagte Dean. „Aber…“

Das Telefon auf Daniels’ Schreibtisch klingelte.

„Da ist es schon.“ Sie nahm ab. „Hallo? Ja, Sir. Hier ist der Sheriff von Mission’s Ridge, Jacqueline Daniels. Tut mir leid, sie zu belästigen, aber ich habe hier zwei Männer, die behaupten, Bundesagenten zu sein. Ich wollte mir ihre Identität bestätigen lassen.“

„Warten Sie!“, sagte Sam. „Lassen Sie mich mit denen reden.“

„Keine Chance.“ Daniels schüttelte den Kopf und kehrte ihnen den Rücken zu. „Ja, Sir. Agenten Townes und Van Zandt. Das ist richtig, V-A-N-Z-A-N-D-T. Danke! Ich warte.“

Sam blickte Dean an und sah, dass sein Bruder den Sheriff unverwandt anstarrte.

Oder auch nicht.

Eigentlich fixierte er eine Leinentasche, die in der Ecke des Büros lag. Es war dieselbe, die Daniels vom Tatort mitgenommen hatte. Dean stierte sie an, als könnte er durch pure Willenskraft hineinsehen oder sie durch die Luft befördern.

Daniels lächelte und sprach in den Hörer.

„Ja, Sir. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben!“ Sie schüttelte den Kopf. „Jerry?“, rief sie.

„Was ist los, Sheriff?“

„Bitte begleiten Sie diese beiden Männer in eine Zelle. Ihnen wird vorgeworfen, sich fälschlich als Polizeibeamte ausgegeben zu haben.“ Sie lächelte erneut, wobei sie ihren Blick diesmal auf Dean richtete. „Wir haben später noch genug Zeit, herauszufinden, wer die beiden sind. So lange können sie in der Ausnüchterungszelle vor sich hin rotten.“ Sie blickte aus dem Fenster. „Und bringen Sie ihre Schrottkarre auf den Abschlepplatz. Ich will nicht, dass sie meine Straße vermüllt.“

„Moment!“, schnauzte Dean, in dem langsam die Wut hochkochte. „Passen Sie verdammt noch mal auf, was Sie sagen, Lady. Sie können nicht einfach …“

Jerry wandte sich ihnen mit unerwarteter Intensität zu. Jeglicher Ausdruck von Ungezwungenheit und Nachsichtigkeit war aus seinem Schnurrbartgesicht verflogen. Stattdessen hatte sich eine neue Härte auf seine Gesichtszüge gelegt. Seine Hand ruhte auf dem Griff eines Schlagstocks.

„Auf die sanfte oder die harte Tour, Gentlemen. Mir ist beides recht.“

„Okay“, sagte Dean. „Schauen Sie …“

„Also auf die harte“, sagte Jerry und zog den Knüppel aus dem Gürtel. Plötzlich sah er aus wie jemand, der es genoss, ihn bei Vagabunden, Betrunkenen und allen anderen, die sich ihm in den Weg stellten, einzusetzen, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte.

„Warten Sie!“, sagte Sam und erhob die Hände mit den Handflächen nach außen. Das war alles, was er noch sagen konnte, bevor eine Bombe heulend die Luft zerriss und mit ihrer Explosion die Fenster des Polizeireviers erschütterte.

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