Sechs

„Okay“, sagte Dean, während sie zum Büro des Gerichtsmediziners gingen. „Willst du mir nicht sagen, was das gerade sollte?“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Komm schon.“

„Ich habe diese Male an Wolvertons Hals gesehen, und ich glaube … es hat etwas in meinem Unterbewusstsein ausgelöst.“ Er hielt an und sah Dean in die Augen. „Es hat mit diesem Traum zu tun. Aber ich kann mich nicht genau erinnern.“

„Du verheimlichst mir doch nichts, oder, Sammy?“

Sam schüttelte den Kopf.

„Du weißt doch, dass das sowieso nicht funktionieren würde“, fügte Dean hinzu.

„Ich weiß“, sagte Sam. „Es ist einfach – es ist, als wäre einfach alles, was da passiert ist, vollkommen ausgelöscht.“

„Hm, vielleicht hilft ein Blick auf die Leiche deinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge.“

Das Büro des Gerichtsmediziners von Mission’s Ridge County verbarg sich hinter einer unprätentiösen Stahltür in einem länglichen braunen Gebäude der Stadtverwaltung, das sich in einer Seitenstraße der Main Street befand. Dean und Sam kamen an einem Müllcontainer und einem einzeln parkenden Fahrzeug vorbei. Es war eine beigefarbene, unscheinbare Limousine mit Regierungskennzeichen. Der Boden auf dieser Seite des Gebäudes war mit Lotterielosen und Kippen übersät. Es wirkte, als ob dort jemand ziemlich lange dabei zugesehen hätte, wie sein Glück ihn verließ.

Dean rüttelte an der Tür.

„Verschlossen.“ Er drückte auf einen Summer, wartete ein paar Sekunden und begann dann damit, an das mit Drahtgeflecht verstärkte Glasfenster in der Tür zu klopfen.

„Das Licht ist aus. Hat unsere süße Sheriff-Schnitte nicht gesagt, dass sie für uns anruft?“

„Vielleicht hat der Gerichtsmediziner für heute Feierabend gemacht“, schlug Sam vor.

„Oder vielleicht hat keiner Lust, sich mit ein paar Yankee-Jungs herumzuschlagen, die unbequeme Fragen stellen.“ Dean trat einen Schritt zurück und betrachtete das Tastenfeld für den Sicherheitscode. „Ich muss schon sagen, ich merke hier gerade nichts von der berühmten Gastfreundschaft der Südstaaten, Sammy.“

„Und dabei warst du derjenige, der gesagt hat, dass er den Süden so liebt.“ Sam sah zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Was ist mit der Historischen Gesellschaft?“

„Was soll damit sein?“, fragte Dean.

„Vielleicht sollten wir da mal hingehen, bevor es noch später wird.“

Dean runzelte die Stirn.

„Willst du die Leiche denn nicht ansehen?“

„Die Tür ist verschlossen, Dean.“

„Ja, aber das war der Safe des Bellagio auch, und er war trotzdem kein Hindernis für Ocean’s Eleven.“

Sam sah ihn streng an.

„Ich versuche nur, die Zeit sinnvoll zu nutzen“, sagte er.

„Dann hast du also keine Angst, dir die Blutergüsse an Wolvertons Hals anzusehen?“

Angst?

„Ja, ich sage bloß ‚Albtraum‘.“ Dean sah Sam erwartungsvoll an.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich nicht daran erinnere.“

„Und du willst es auch nicht.“

„Hey, sieh mal“, sagte Sam. „Wenn du willst, dass ich bleibe …“

Dean zuckte mit den Schultern.

„Nee, du hast recht“, sagte er. „Geh du vor und schau mal, was du so ausgraben kannst. Teile und herrsche. Und zwar Apocalypse now.“

Aber Sam gab nicht nach.

„Was soll das denn, Dean?“, forderte er. „Geht es darum, dass du mir nicht traust? Wenn das so ist, gibt es nur noch wenige Möglichkeiten, wie wir zusammen weitermachen können.“

„Ja, du bist mein Bruder“, sagte Dean. „Aber du bist auch Luzifers Ballkleid. Und wenn er dir in deinen Träumen Hinweise auf seinen Masterplan gibt, wäre es vielleicht eine gute Idee, sie sich so gut wie möglich zu merken. Mehr will ich dazu gar nicht sagen.“

„Was ich fühle, hat mit Hinweisen nichts zu tun, Dean“, sagte Sam und versuchte es so gut zu erklären, wie er konnte. „Das sind keine Hinweise – wenn überhaupt halten sie mich eher davon ab, das alles zu enträtseln. Das ist so, als ob dir jemand einen elektrischen Viehtreiber ins Gehirn rammen würde. Also entschuldige bitte, wenn ich mich nicht gerade darum reiße.“

„Okay.“ Dean zog sein Handy aus der Tasche. „Ich werde noch mal Sheriff Daniels anrufen und sehen, ob ich sie nicht dazu bringen kann, selbst herzukommen und mich reinzulassen. Du mach dein Geschichtsding. Wir treffen uns später.“

Sam nickte und ging.

Dean stand neben der Tür und sah zu, wie sein Bruder mit flotten Schritten um die Ecke verschwand. Sams schneller Abgang ließ keinen Zweifel zu. Der Albtraum hatte Spuren bei ihm hinterlassen, und er war nicht bereit, sich damit auseinanderzusetzen – jedenfalls nicht in diesem Moment. Irgendwann würde Sam bereit sein, und Dean konnte nur hoffen, dass es dann nicht zu spät sein würde. Er blickte auf das drahtverstärkte Fenster in der Tür vor ihm, steckte das Handy zurück in die Tasche und hob einen Ziegelstein auf.

„George Clooney war ein Weichei“, sagte er und holte mit dem Stein aus. Er wollte ihn gerade losschleudern, als das Schloss klickte und die Tür aufging.

Castiel blinzelte ihn an.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte Dean und ging schnell hinein. Die Kühle in dem klimatisierten Raum war nach der brütenden Hitze draußen eine Wohltat.

„Bin gerade angekommen.“

„Hey!“, mischte sich eine Stimme ein. „Wer zur Hölle sind Sie?“

Dean sah an Castiel vorbei. Aus einem Büro blickte ein unrasierter Mittdreißiger vollkommen überrascht seine Besucher an. Sein weißes Oxfordhemd war bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt und seine Krawatte gelockert. Er hatte sich gerade eine Zigarette anzünden wollen, die er nun überrascht an seiner Unterlippe hängen hatte.

„Die Tür war offen“, sagte Dean.

„Nein, war sie nicht.“

„Sind Sie der Gerichtsmediziner?“

„Wer will das wissen?“

Dean zeigte seinen Dienstausweis.

„Agent Townes, FBI. Das hier ist Agent … Zevon.“ Bevor Castiel etwas erwidern konnte, fuhr Dean fort: „Sheriff Daniels hat uns den Zugangscode gegeben, für den Fall, dass sie zu beschäftigt sind.“

Der Gerichtsmediziner betrachtete Dean, Castiel und die offene Tür hinter ihnen einen langsamen Herzschlag lang. Dann führte er das Feuerzeug an die Zigarette und hielt die Flamme an die Spitze.

„Ich bin Todd Winston. Und ja, ich bin der Gerichtsmediziner.“

Er zog an der Zigarette und blies anschließend eine Rauchwolke aus dem Mundwinkel. „Aber Sheriff Daniels hat Ihnen gewiss nicht den Zugangscode gegeben. Sie ist kein sonderlicher Freund des FBI.“

„Oh, verflixt und zugenäht, Cletus, das schmerzt mich wirklich sehr“, sagte Dean. „Wie wäre es denn, wenn wir aufhören, uns um den Sheriff zu sorgen, und Sie uns stattdessen die Leiche zeigen?“

Leise vor sich hin meckernd führte Winston sie über eine Laderampe und dann den Flur hinunter zu einem kleinen Büro, in das er hineinschlüpfte. Als Dean ihm hinterhersah, fiel ihm auf, dass die Wände vom Boden bis zur Decke mit dicken gebundenen Büchern bedeckt waren, von denen die meisten noch in ihren Schutzumschlägen steckten.

Als Winston wieder herauskam, hielt er einen Schlüsselbund in der Hand. Er führte sie um die Ecke und einen weiteren, noch schmaleren Gang entlang. Dann trat er durch eine Tür in einen Lagerraum, der von der Decke mittels langer Leuchtstoffröhren beleuchtet wurde, die alles in ein kaltes, klärendes Licht tauchten. Während es in den anderen Räumen des Gebäudes angenehm kühl war, herrschte hier Eiseskälte. Dean war nun doch froh darüber, dass er einen Anzug trug.

In der Mitte des Zimmers stand ein Stahltisch mit einem Abfluss darunter. Er war von Kästen mit sterilisierten Instrumenten und Kanistern mit Flüssigkeiten und anderem Zubehör umgeben. Eine halb ausgetrunkene Wasserflasche stand an der Seite.

Dean zögerte. Der altbekannte Geruch von Desinfektionsmitteln und chemischen Konservierungsstoffen kitzelte ihn in der Nase. Winston zog sich währenddessen Gummihandschuhe und einen Kittel an, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Wand am anderen Ende des Raums und legte seine Hand auf einen Knauf. Der Gerichtsmediziner drehte ihn und zog dann mit merklichem Krafteinsatz eine gut zwei Meter lange Schublade heraus. Anschließend entfernte er die Abdeckung aus Edelstahl und zeigte auf den Inhalt des Behälters.

„Ist das Ihr Junge?“, fragte Winston.

Dean sah auf den Toten hinunter. Die Leiche von Dave Wolverton sah blass, nackt und irgendwie platt gedrückt aus. Alles in allem wirkte sie auf ihn noch dürrer und mitleiderregender, als er es erwartet hatte. Trotz all der Bemühungen Wolvertons, sich wie ein Bürgerkriegssoldat zu kleiden und zu handeln, hatte es ironischerweise der Nacktheit und Ruhe bedurft, um seine Verwandlung zu vervollkommnen. Die Stichwunde unterhalb seines Kinns war gereinigt und zugenäht worden. Der typische Y-Schnitt des Gerichtsmediziners war noch frisch, sodass das Fleisch an den Stellen roh und rosa aussah, an denen die Schere durch Wolvertons Brusthöhle geschnitten hatte. Am Brustbein des dürren Mannes und an der fast ausgemergelt zu nennenden Höhlung seines Bauches wuchsen kleine Haarbüschel. Es war eine Leiche, die auch aus dem Zelt eines Feldchirurgen im Jahr 1864 hätte stammen können.

Sieht aus, als wäre er hungrig gestorben, ging es Dean durch den Kopf, und die Zufälligkeit dieses Gedankens überraschte ihn.

Er starrte auf Wolvertons Gesicht, dessen eingefallene Wangen und schlaffen Lippen. Selbst tot und erschlafft hatte das Gesicht noch einen merkwürdig anzüglichen Ausdruck, der Dean nervös machte. Ihm wurde klar, dass er mit dieser Leiche nicht länger in einem Raum sein wollte, als er unbedingt musste.

„Haben Sie bei der Autopsie irgendetwas Merkwürdiges gefunden?“, fragte Dean.

„Nicht wirklich“, sagte Winston.

„Toxikologischer Bericht?“

„Noch nicht da.“ Er zog noch einmal an seiner Zigarette, dann sah er sich nach einem Aschenbecher um. Eine benutzte Kaffeetasse tat es auch.

„Sie machen das nicht selbst?“

Winston schüttelte den Kopf.

„Das Labor des Gerichtsmediziners unten in Waldorp City kümmert sich darum. Habe hier nicht die nötige Ausrüstung.“

„Nun, das wäre doch mal was für den Wunschzettel zu Weihnachten, oder?“ Dean bückte sich, um die Haut an Wolvertons Hals näher zu betrachten, insbesondere die Blutergüsse, die Sam schon auf den Fotos aufgefallen waren. „Was ist das denn?“

„Abschürfungen. Seilbrand.“

„Woher hat er das?“

„Seil“, sagte Winston ohne auch nur einen Anflug von Humor. „Vielleicht eine Art Schnur.“

„Danke!“, sagte Dean. „Dann bin ich ja jetzt schlauer.“

Winston schien der Sarkasmus in Deans Worten völlig zu entgehen.

„Es war nichts um den Hals der Leiche gewickelt, als der Sheriff sie herbrachte. Auch keine Spuren von Fasern in Haut. Und die würde man sehen.“

„Es gibt andere Möglichkeiten die Seele des Menschen zu binden“, sagte Castiel und beugte sich vor, um die Hämatome auf beiden Seiten von Wolvertons Hals zu berühren. „Einige Formen dämonischer Fesselung sind nicht so einfach zu entdecken.“

„Fesselung?“ Winston blickte Dean an. „Wovon zur Hölle redet er?“

„Vergessen Sie’s!“, sagte Dean. „Gibt es eine Liste der Sachen, die Wolverton bei sich hatte, als er starb?“

„Das Büro des Sheriffs ist noch dabei, alles abzutippen.“ Er sah zur Tür. „Mir fällt gerade ein, ich muss noch mal telefonieren.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinaus und ließ Dean und Castiel mit der Leiche allein.

„Hm, also, dann können wir das hier ebenso gut mal probieren“, sagte Dean, warf seinem Begleiter einen Blick zu und griff in die Gesäßtasche seiner Hose. Von dort zog er eine Karteikarte hervor und begann das Rituale Romanum vorzulesen.

„Deus, et Pater Domini nostri Jesu Christi, invoco nomen sanctum tuum …“

„Du kannst das immer noch nicht auswendig?“, fragte Castiel absolut ernst.

„Es hat mir gestunken, dass mich alle dauernd verbessert haben, also habe ich es aufgeschrieben“, sagte Dean und las weiter.

„… et celmentiam tuam supplex exposo …“

Ohne Vorwarnung zuckte Wolvertons Leiche ein wenig in ihrer Kiste. Es war ein kaum merklicher Impuls, doch gerade stark genug, dass eine Hand sich erst zusammenkrampfte und dann mit der Handfläche nach oben liegen blieb. Die Finger zitterten und zuckten.

Der Kopf des Toten drehte sich ein Stück zur Seite.

„… ut adversus hunc, et omen immundum spiritum …“

„Da passiert etwas“, sagte Castiel.

Dean hielt inne und sah nach unten.

Etwas Schwarzes trat aus Wolvertons linkem Ohr aus. Zuerst dachte Dean, es wäre eine Art Flüssigkeit, aber dann wurde ihm klar, dass es sich um etwas Lebendiges handelte. Winzige wimpernartige Beinchen – Dutzende von ihnen – zappelten um seinen Körper herum. Dann begann das schwarze Etwas mit einer merkwürdig zielgerichteten Geschwindigkeit wie eine missgestaltete Schabe über Wolvertons bleiche Wange zu huschen. Es sah so aus, als ob es Kurs auf seine Augen nähme.

Dean starrte das Ding an, und es blieb wie angewurzelt stehen.

Es sieht mich an.

Deans Nackenhaare stellten sich auf.

Das ist unmöglich, es hat noch nicht einmal …

Dann sprang das schwarze Etwas mit einem schrillen Quieken hoch – direkt auf Deans Gesicht zu. Der schreckte reflexartig zurück, und das Ding landete auf dem Boden. Dean sprang nach vorne, stampfte darauf und versuchte es unter dem Absatz zu zerquetschen. Eine klebrige Masse spritzte unter Deans Schuh hervor und ließ ihn sein Gesicht zu einer angewiderten Grimasse verziehen. Aber das Wesen wand sich immer noch und pulsierte heftig, während es versuchte, nach oben über Deans Knöchel zu kriechen. Er konnte spüren, wie es sich an seine Haut ansaugte und in Richtung seiner Wade hochglitt.

„Es bewegt sich immer noch!“, rief Dean. „Mach es weg!“

Ohne zu zögern, griff Castiel nach der Wasserflasche. Er schloss die Augen, murmelte etwas, dann schüttete er das Wasser über Deans Unterschenkel.

Es gab ein rauchendes Zischen, und das Wesen stieß ein weiteres Kreischen aus. Dann fühlte Dean, wie es auf seiner Haut erschlaffte. Fieberhaft riss er sein durchnässtes Hosenbein hoch, aber er sah nichts außer einer schwachen Rötung über der Achillessehne.

Dean nahm ein Papierhandtuch, um sich den Rest des Weihwassers abzuwischen, knüllte es zusammen und warf es in einen Mülleimer.

„Was war das?“, fragte er und versuchte seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Moa’ah“, sagte Castiel.

„Was?“

„Das ist so etwas wie eine dämonische Nachgeburt, die nur in dieser Region des amerikanischen Südens vorkommt.“ Das Gesicht des Engels verfinsterte sich. „Ich habe ihn das letzte Mal auf den Schlachtfeldern des Bürgerkriegs gesehen. Als Engel und Dämonen um die Seelen der Gefallenen kämpften.“

„Und jetzt ist er zurückgekehrt“, sagte Dean und warf voller Ekel einen prüfenden Blick auf seine Schuhsohle. „Aber warum? Und warum Wolverton?“

Castiel sah ihn an.

„Er wurde von dem Zeugen berührt.“

„Also ist dein Zeuge so eine Art dämonischer Rotzlappen?“

„Du verstehst das nicht“, beharrte Castiel. „Moa’ah ist nicht mehr als eine Fußnote im Inventar des luziferianischen Giftschranks. Er dürfte gar nicht mehr existieren. Seine bloße Präsenz ist ein Vorbote der Apokalypse. Und der Zeuge weiß das. Er will, dass wir das wissen.“

„Und du suchst diesen Typen wirklich?“, fragte Dean. „Mit Absicht?“

„Ich muss ihn finden.“

„Ja, gut.“ Dean schüttelte den Kopf. „Dann viel Glück dabei!“

Winston war in seinem Büro und hielt den Telefonhörer ans Ohr. Dean ging zu ihm hinüber und drückte die Aus-Taste.

„Hey!“, protestierte der Gerichtsmediziner und sprang auf. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er noch einen Schritt näher kommen, aber dann entdeckte er etwas in Deans Gesichtsausdruck, was ihn erstarren ließ.

„Wer war noch mit der Leiche allein?“, fragte Dean eindringlich.

„Was?“

„Sie haben mich schon verstanden. Außer Ihnen, wer war noch da hinten?“

„Niemand. Sheriff Daniels, glaube ich. Das war’s dann aber auch. Die Sache ist schließlich mitten auf dem Schlachtfeld passiert, vor Gott und allen anderen. Wenn da ein Seil um Wolvertons Hals gewesen wäre, hätte es jemand gesehen.“ Winston klang schon ein wenig verzweifelt. „Oder?“

„Das Seil ist Ihre geringste Sorge“, sagte Dean und blickte zur Decke auf. „Haben Sie hier Überwachungskameras? Bewegungsmelder?“

Castiel sah Dean an.

„Der Zeuge besitzt alle dämonischen Kräfte. Er könnte hier vollkommen unbemerkt durchgeschlüpft sein.“

Winstons Augen weiteten sich.

„Was?“

„Quatsch. Etwas so Ekelhaftes muss doch Spuren hinterlassen.“

Castiel schüttelte den Kopf.

„Aber …“, warf Dean ein und wandte sich wieder dem Gerichtsmediziner zu. „Wann kommt der toxikologische Bericht?“

Winston schluckte mühsam.

„Morgen wahrscheinlich.“

„Haben Sie sonst noch etwas Außergewöhnliches im Körper oder an den Kleidern festgestellt? Irgendwelche Zeichen oder Spuren eines Rituals wie Brandwunden oder Narben?“

„Nein“, antwortete Winston, aber der Ton seiner Stimme verriet etwas anderes.

„Sind Sie sicher?“

„Ja.“ Winston starrte hilflos auf die Schreibtischoberfläche. „Jesus, ja.“

Deans Augen wanderten zum Telefon.

„Lassen Sie uns mal sehen, wen Sie angerufen haben“, murmelte er, drückte auf Lautsprecher und dann auf die Taste für Wahlwiederholung.

„Lassen Sie das“, bettelte Winston. „Sie wollen das wirklich nicht …“

„Oh, und ob ich das will!“, antwortete Dean, während das Telefon auf der anderen Seite bereits klingelte. Endlich nahm jemand ab. Eine Frauenstimme drang durch den Lautsprecher.

„Hallo“, sagte sie. „Hier ist …“

Dean sah Castiel stirnrunzelnd an.

„Warte mal, die Stimme kenne ich doch.“ Er starrte das Telefon an. „Wer ist da?“

Aber die Stimme auf dem Band fuhr bereits fort.

„… Candy. Meine Freundinnen und ich feiern gerade eine Party in unserem Whirlpool, aber wir haben unsere Bikinioberteile verloren, und jetzt …“ Die Stimme begann zu seufzen und heftiger zu atmen. „Jetzt musst du uns helfen, sie zu finden. Gib uns einfach deine Kreditkartennummer für drei Minuten …“

„Du kennst diese Frau?“, fragte Castiel.

Dean unterbrach die Frauenstimme mitten im Satz und blickte Winston an. Das Gesicht des Gerichtsmediziners war knallrot angelaufen.

„Ich hoffe, dieser Anruf ging nicht auf Kosten der Stadt“, murrte Dean und wandte sich zum Gehen. „Wir werden wiederkommen, um uns den toxikologischen Bericht anzusehen.“

„Sicher“, sagte Winston. „Wie Sie wollen. Bloß … Geben Sie mir nächstes Mal eine kleine Vorwarnung, ja?“

„Er hat nicht gelogen“, sagte Castiel, als sie nach draußen in die anbrechende Dunkelheit traten.

„Ich weiß“, seufzte Dean. „Das bedeutet, wir haben absolut nada.“

„Nicht unbedingt.“ Sie gingen unter den Straßenlampen auf dem Bürgersteig entlang. „Wolverton könnte dem Zeugen auf dem Schlachtfeld begegnet sein oder …“

„Warte mal.“ Dean ging nicht weiter. „Du sagst immer, der Zeuge dies, der Zeuge jenes. Aber wenn dieser Zeuge mit Jesus rumgehangen hat und etwas für Seilschlingen übrig hatte, dann lässt das für mich nur einen Schluss zu.“

„Und der wäre?“

„Judas. Du jagst Judas.“

Castiel schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht“, sagte er.

„Warum nicht?“, bohrte Dean nach.

„Judas hatte eher mit Versuchung und Verrat zu tun als mit blutiger Gewalt.“

„Ja, hm, wenn ich eine Sache über die Menschheit weiß, dann die, dass Verrat ziemlich hässlich werden kann, wenn erst mal Schusswaffen im Spiel sind.“

Weiter vorne hörte Dean ausgelassene Stimmen und Gelächter. Zum ersten Mal achtete er wieder auf die Umgebung. Sie standen jetzt gut einen Block von einer riesigen alten Holzkirche entfernt. Das Holz sah aus, als hätte es schon Jahrhunderte des Kriegs und rauen Wetters überstanden, beinahe wie das Wrack eines Schlachtschiffs, das hier gestrandet war.

Trauben von Menschen in Anzügen und festlichen Kleidern strömten gerade durch den hohen Eingangsbogen ins Freie.

„Ist das eine …?“, fragte Castiel.

„Eine Hochzeit.“ Applaus und Jubelrufe brandeten auf, während Dean zusah, wie das Brautpaar die Kirchentreppe herunter auf eine Limousine zuschritt, die an der Straße wartete.

Die Braut trug ein antikes Hochzeitskleid und der Bräutigam eine konföderierte Uniform, die so originalgetreu war, dass Dean tatsächlich sehen konnte, wie Staubwölkchen von ihr aufstiegen, als jemand dem Bräutigam auf die Schulter klopfte.

„Du machst Witze. Sie heiraten in den Klamotten?“, fragte Dean.

Love is a battlefield.“

Dean starrte ihn an.

„Was?“

„Das ist ein Lied, das ich neulich gehört habe.“

Dean konnte sich das Grinsen kaum verkneifen und wandte sich von dem Engel ab.

„Du bist schon ’ne Marke, Cass, weißt du?“ Dean bekam keine Antwort und hielt inne, ohne sich umzudrehen. „Du bist mal wieder einfach verschwunden, oder?“

Und tatsächlich, als er sich umdrehte, war Castiel verschwunden.

Загрузка...