Der trübe Schein der beiden Laternen trug nur wenig dazu bei, ein wenig Helligkeit in das düstere Zimmer zu bringen. Die kleinere stand auf einem Tisch in der Ecke, so als hätte sie sich in Gegenwart des Todes dorthin zurückgezogen, die andere dagegen stand auf dem Nachttisch neben einem Glas Wasser und einem feuchten Lappen und hatte größte Mühe, die immer näher rückenden Schatten in Schach zu halten. Über Cara lag eine Brokattagesdecke mit verschnörkeltem Goldrand gebreitet, auf der schlaff ihre Arme ruhten. Cara hatte kaum noch Ähnlichkeit mit sich selbst, sie sah aus wie ein Leichnam, selbst im gelblichen Schein der Lampe wirkte ihr Gesicht aschfahl. Richard konnte nicht sehen, dass sie atmete. Er bekam selbst kaum Luft und fühlte, wie ihm die Knie zitterten. Der Kloß in seiner Kehle schien ihn zu ersticken. Am liebsten hätte er sich über sie geworfen und sie angefleht, doch wieder aufzuwachen. Nicci berührte sachte ihr Gesicht, ehe ihre Finger seitlich zu ihrem Hals hinunterglitten. Richard fiel auf, dass Caras entsetzliches Zittern aufgehört hatte, auch wenn er nicht glaubte, dass dies die gute Nachricht war, für die man es vielleicht halten könnte.
»Ist sie ... ist sie ...?«
Nicci sah über ihre Schulter hinter sich’. »Sie atmet noch, aber ich fürchte, ihr Atem wird immer flacher.«
Richard musste seinen ausgetrockneten Gaumen mit der Zunge benetzen, um überhaupt sprechen zu können. »Wisst Ihr, Cara hat jemanden, dem sie sehr zugetan ist.«
»Ach, ja? Tatsächlich?«
Richard nickte. »Die meisten Menschen halten die Mord-Sith für vollkommen unfähig, so etwas wie Zuneigung zu empfinden, aber das stimmt nicht. Cara empfindet große Zuneigung für einen Soldaten, General Meiffert. Und Benjamin empfindet für sie ebenso.«
»Du kennst ihn?«
»Ja, er ist ein prima Kerl.« Richard starrte auf den blonden Zopf, der über Caras Schulter lag und sich von dort über die Brokatdecke ausbreitete. »Ich habe ihn seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Er dient in der d’Haranischen Armee.«
Nicci machte ein skeptisches Gesicht. »Und Cara hat dir mit ihren eigenen Worten anvertraut, dass sie diesen Mann mag?«
Kopfschüttelnd starrte er auf Caras vertraute Gesichtszüge. Ihr einstmals so hübsches Gesicht war eingefallen und blass und nur noch ein Schatten seines früheren Selbst.
»Nein, Kahlan hat mir davon erzählt. Während des einen Jahres, als ich hier unten in Altur’Rang Eure Gefangene war, sind die beiden einander recht nahe gekommen.«
Nicci wandte den Blick ab und machte sich an der Bettdecke zu schaffen, mit der Cara zugedeckt war. Als Richard näher trat, ging Nicci zu einem Stuhl am Tisch hinüber, um nicht im Weg zu sein. Ihm war, als hätte er seinen Körper verlassen und beobachtete das Geschehen von oben, er sah sich auf ein Knie heruntergehen, Caras Hand ergreifen und sie an seine Wange pressen.
»Gütige Seelen, tut ihr das nicht an«, hauchte er. »Bitte«, setzte er mit einem unterdrückten Schluchzen hinzu, »ruft sie nicht zu euch.«
Er sah zu Nicci. »Sie wollte immer wie eine Mord-Sith sterben, im Kampf für ihre Sache, nicht im Bett.«
Nicci schenkte ihm ein kaum merkliches Lächeln. »Ihr Wille ist erhört worden.«
Die Worte, die klangen, als wäre sie bereits tot, trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er durfte nicht zulassen, dass es so weit kam, er konnte es einfach nicht. Erst war Kahlan verschwunden, und nun das! Er konnte es einfach nicht zulassen. Fast zärtlich legte er seine hohle Hand unter Caras eiskaltes Gesicht. Es war, als berührte man eine Tote. Richard kämpfte mit den Tränen.
»Ihr seid eine Hexenmeisterin, Nicci. Ihr habt mich gerettet, als ich dem Tod nahe war. Niemand außer Euch wäre damals imstande gewesen, eine Lösung zu finden, niemand außer Euch hätte mich retten können. Habt Ihr denn überhaupt keine Idee, was Ihr noch tun könnt, um Cara zu retten?«
Nicci ließ sich nach vorn vom Stuhl heruntergleiten und kniete neben ihm nieder, ergriff seine Hand und presste sie an ihre Lippen. Er spürte, wie eine Träne auf den Rücken jener Hand tropfte, die sie so zärtlich hielt, als sei sie eine unterwürfige Dienerin ihres Königs, die ihren Herrscher um Vergebung anfleht. »Ich bin untröstlich, Richard, aber meine Möglichkeiten sind erschöpft. Ich hoffe, du weißt, ich würde alles tun, was nötig ist, wenn ich sie damit retten könnte, aber ich kann es nicht. Dies übersteigt meine Fähigkeiten. Irgendwann wird der Augenblick kommen, da wir alle sterben müssen. Ihr Augenblick ist jetzt, und daran vermag ich nichts zu ändern.«
Er nickte. »Bitte, Nicci, würdet Ihr mich mit ihr allein lassen? Ich möchte allein mit ihr sein, wenn der Augenblick kommt, da sie... Das geht nicht gegen Euch, ich glaube nur, ich sollte mit ihr allein sein.«
»Verstehe, Richard.« Beim Aufstehen streiften ihre Finger kurz seinen Rücken und wanderten, als sie sich an ihm vorbeischob, über seine Schulter, so als widerstrebte es ihr, den Kontakt mit den Lebenden abzubrechen. »Falls du mich brauchst, ich bin ganz in der Nähe«, sagte sie, und im selben Moment riss ihr belebender Kontakt ab.
Leise schloss sich hinter ihr die Tür, und zurück blieb ein Zimmer in völliger Stille. Obwohl die schweren Vorhänge an den Fenstern vorgezogen waren, konnte Richard draußen den unablässigen Chor der Zikaden hören.
Schließlich konnte er seine Tränen nicht länger zurückhalten; schluchzend legte er seine Hand auf Caras Bauch und ergriff ihre schlaffe Hand.
»Es tut mir so Leid, Cara, es ist alles mein Fehler. Dieses Wesen hatte es auf mich abgesehen, nicht auf Euch. Es tut mir so Leid. Bitte, Cara, verlasst mich nicht, ich brauche Euch doch so sehr.«
Cara war der einzige Mensch, der aus tiefer Überzeugung zu ihm hielt. Auch wenn sie mit Nicci einer Meinung sein mochte, dass er sich Kahlan nur zusammenfantasierte – sie glaubte an ihn, für sie war das kein Widerspruch. In letzter Zeit schien ihr Glaube an ihn mehr und mehr zu seinem einzigen Halt geworden zu sein, der es ihm ermöglichte, sich ganz auf das zu konzentrieren, was er tun musste. Cara war von ihm überzeugt, auch wenn sie nicht an Kahlans Existenz glaubte, und diese Gesinnung hatte etwas Einzigartiges, an das nicht einmal der Respekt heranzureichen vermochte, den Nicci oder Victor für ihn empfanden. Er nahm Caras Gesicht in beide Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, hoffte dabei, dass sie nicht litt, dass ihr alles andere als friedliches Leben ein friedliches Ende finden möge. Sie war so blass, ihr Atem so flach.
Ihr Fleisch fühlte sich so kalt an wie der Tod. Plötzlich widerstrebte ihm der Gedanke, dass sie so kalt war, und so schlug er die Bettdecke zurück, beugte sich über sie und nahm sie in die Arme, in der Hoffnung, seine Körperwärme werde ihr helfen. »Nehmt meine Wärme«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Nehmt Euch, was immer Ihr braucht. Bitte, Cara, nehmt meine Körperwärme an.« Wie er so dalag und sie in den Armen hielt, drohte Richard in einem Nebel aus tiefster Seelenangst zu versinken. Er wusste, wie sehr diese Frau gelitten, wie ihr Leben ausgesehen hatte und wie viel Schmerz sie über sich hatte ergehen lassen müssen, denn er hatte selbst so manche der Torturen ertragen müssen, die sie unter der wahnsinnigen Herrschaft seines Vaters, Darken Rahl, erdulden musste, er hatte die gleiche Pein und Hoffnungslosigkeit erfahren. Wahrscheinlich konnte er sich mehr als jeder andere wirklich in sie hineinversetzen. Er wusste, dass Wildfremde sie in eine Welt der Qualen und des Wahnsinns entführt hatten, er wusste es, weil er selbst dort gewesen war. Nichts hatte er sich sehnlicher gewünscht, als sie von diesem düsteren, schrecklichen Ort zurückzuholen. »Nehmt meine Körperwärme, Cara. Ich bin mit Leib und Seele für Euch da.«
Er öffnete sich für sie, ließ sie sein Verlangen spüren und öffnete sich für das ihre. Sie fest in seinen Armen haltend, weinte er sich an ihrer Schulter aus. Fast hatte er das Gefühl, wenn er sie nur fest genug hielte, würde sie nicht in den Tod hinübergleiten können. Dieses Ziel vor Augen, öffnete er sich, öffnete sich bis auf den Grund seiner Seele. Er überließ sich ganz seinem Mitgefühl für diese Frau, der er so viel zu verdanken hatte. Mehr als einmal hatte sie in Ausführung seiner Befehle ihr Leben riskiert, und nicht minder oft, indem sie ihnen bewusst zuwiderhandelte. Sie war ihm quer durch die ganze Welt gefolgt, unzählige Male hatte sie sich schützend vor ihn und Kahlan gestellt, wenn ihrer beider Leben in Gefahr war. Cara verdiente es, zu leben, sie verdiente alles Gute im Leben. Er hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als sie wieder gesund zu machen, und diesem Wunsch opferte er sein ganzes Sein – für den Wunsch, Cara unter den Lebenden zu halten. Er erzitterte unter der übermenschlichen Bürde, ihr einen Teil des Leids von den Schultern zu nehmen, während sie sich an den Schmerz klammerte, als wollte sie ihn nicht hergeben, und schon gar nicht an ihn. Aber geschwächt, wie sie war, gelang es ihm, ihn ihr dennoch zu entreißen – und Augenblicke darauf noch ein wenig mehr.
Kaum hatte er die Schichten ihres Leids freigelegt, spürte er in ihrem Innern den kalten Hauch des Todes. Die nackte Angst, die diese Begegnung bei ihm hervorrief, war die beeindruckendste Erfahrung, mit der er je konfrontiert worden war. Zeit verlor jede Bedeutung, der Schmerz an sich wurde zur Verkörperung der Ewigkeit. »Der Tod wird Euch noch oft heimsuchen und sich erbieten, Euch heimzuholen ... Euch zu sich nehmen wollen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Schlagt das Angebot aus, Cara. Bleibt. Ihr dürft den Tod nicht akzeptieren.«
Ich will sterben.
Aus einem Meer von Elend und Verzweiflung schoss dieser einfache Gedanke plötzlich an die Oberfläche, schockierte ihn und machte ihm Angst. Was, wenn der Versuch, sich an das Leben zu klammern, ihre Kräfte überforderte? Was, wenn er mehr von ihr verlangte, als sie ertragen konnte ... mehr, als er von Rechts wegen von ihr verlangen durfte?
»Cara«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich brauche Euch lebendig. Bitte, ich brauche Euch lebendig.«
Ich kann nicht mehr.
»Ihr seid nicht allein, Cara, ich bin hier, bei Euch. Haltet Euch fest. Um meinetwillen, haltet Euch fest und lasst mich Euch helfen.«
Bitte, lasst mich gehen, lasst mich sterben. Ich flehe Euch an, wenn Euch etwas an mir liegt, dann lasst mich jetzt allein... lasst mich sterben.
Sie begann ihm zu entgleiten. Er umarmte sie noch fester, nahm noch mehr von ihrem Leid auf sich. Das Innerste ihres Wesens schrie gequält auf, als sie sich gegen ihn sträubte. »Cara, bitte«, sperrte er sich keuchend gegen die Woge von Schmerz, die durch seinen Körper flutete, »lasst mich Euch helfen. Bitte, verlasst mich nicht.«
Ich will nicht weiterleben. Ich habe Euch im Stich gelassen. Ich hätte Euch retten sollen, als Nicci kam, um Euch gefangen zu nehmen, das ist mir jetzt klar geworden – Ihr selbst habt mir die Augen geöffnet. Ich wollte für Euch sterben, aber ich habe meine Pflicht vernachlässigt und das Versprechen gebrochen, das ich mir selbst gegeben habe. Es gibt für mich keinen Grund mehr weiterzuleben. Ich bin Euch keine würdige Beschützerin. Bitte, lasst mich gehen.
Zu seiner Verblüffung verstand er die Verzweiflung hinter ihrer flehentlichen Bitte, obwohl ihm doch eigentlich eher davor graute.
Dann nahm er auch diesen Schmerz und erlöste sie davon – selbst dann noch, als sie versuchte, sich daran zu klammern und ihm vollends zu entgleiten.
»Ich liebe Euch, Cara. Bitte, verlasst mich nicht. Ich brauche Euch doch.«
Er kämpfte darum, einen immer größeren Teil ihrer Qualen auf sich zu laden, überwand ihren Widerstand, und als sie ihn nicht mehr daran hindern konnte, lud er noch mehr auf sich. Schließlich befreite er sie aus dem aschefarbenen Gewand des Todes, das sie in die Tiefe zu ziehen drohte. Richard hielt sie fest in den Armen und öffnete ihr sein Herz, seine Sehnsucht, seine Seele.
Als sie einen herzzerreißenden Klagelaut ausstieß, begriff er, wie überwältigend einsam sie sich fühlte. »Ich bin bei Euch, Cara. Ihr seid nicht allein.« Plötzlich kam er sich vor wie jemand, der aufs offene Meer hinausgeschwommen ist, um einen Ertrinkenden zu retten, und der plötzlich mit ihm zusammen vom selben wilden Strudel erfasst wird, der sie zusammen in die dunklen Fluten des Todes zu reißen versucht. Ich will nicht mehr leben. Ich habe Euch im Stich gelassen. Bitte, lasst mich sterben.
»Warum wollt Ihr mich verlassen? So redet schon, warum?«
Weil ich Euch nur auf diese Weise dienen kann, weil nur dann eine andere an meine Stelle treten kann, die Euch nicht im Stich lassen wird.
»Das ist nicht wahr, Cara. Irgendetwas läuft verkehrt, etwas, das keiner von uns beiden versteht.«
Doch genau in diesem Augenblick begriff er, warum Cara glaubte, sie habe ihn bereits zuvor, damals bei Nicci, im Stich gelassen, und weshalb sie diesmal entschlossen war, ihren Treueschwur unter Beweis zu stellen. Der Wahnsinn hatte sie noch nicht verlassen.
Offenbar war sie im Glauben, wenn der Tod sie ereilte, würde das in seinen Augen ihre Erlösung sein, und deshalb weigerte sie sich, dagegen anzukämpfen.
Sie wollte ihm mit ihrem Tod ihre Treue beweisen.
Als das Wesen durch die Wand gebrochen und durch ihr Zimmer gejagt war, hatte Cara versucht, den Tod höchstselbst seiner Macht zu berauben.
Richard spürte, wie der quälende Hauch ihn mit seiner alles verzehrenden Seelenangst umfing, ein Hauch, so kalt, dass sein Herz zu gefrieren begann.
Die Welt begann ihm zu entgleiten, so wie zuvor ihr, und er verlor sich in der erdrückenden Pein dieses tödlichen Hauches ...