Als Nicci den Kamm eines Hügels erreichte, bot ihr der erste Blick auf die gewaltige Stadt in der Ferne ein prächtiges Panorama. Ein flüchtiger Blick über die Schulter ergab, dass die herandonnernde Kavallerie ihr dicht auf den Fersen war, sie konnte ihre erhobenen Schwerter, Streitäxte, Speere und Lanzen, den stählernen Borsten eines gewaltigen Stachelschweins gleich, im Licht der untergehenden Sonne blinken sehen. Hinter ihnen stieg eine Staubwolke auf, die bereits weite Teile des dunkler werdenden Himmels im Osten verdeckte, und das blutrünstige Schlachtgebrüll war Furcht erregend. Und das war nur die Kavallerie, weiter hinten, das wusste sie, folgte eine wahre Flut von Fußsoldaten. Auch wenn sie nicht in die Sonne geblickt hätte, sie hätte in der Stadt vermutlich kaum einen Menschen ausmachen können, und so sollte es auch sein, denn die Bewohner hielten sich auf ihren ausdrücklichen Wunsch, so gut es irgend ging, im Verborgenen. Nichtsdestoweniger war es nicht eben ein beruhigendes Gefühl, sich ganz allein zu wissen mit einem Schwärm zorniger Hornissen im Nacken. Sie hatte Victor und Ishaq die Route mitgeteilt, die sie bei ihrer Rückkehr in die Stadt zu nehmen versuchen würde, damit diese ihre Verteidigungsmaßnahmen möglichst vorteilhaft konzentrieren konnten. Sie konnte nur hoffen, dass alles bereit war, denn für die Vorbereitungen hatten sie nicht eben viel Zeit gehabt. Nun, mehr würden sie nicht bekommen, der Augenblick der Wahrheit war gekommen.
Jetzt, da die Stadt immer näher rückte, fand Nicci endlich Zeit, ihren rechten Arm in den Ärmel ihres Kleides zu schieben, ehe sie, mit einem Griff hinter sich, auch den linken in den anderen Ärmel fädelte. Die Zügel fest in einer Hand, beugte sie sich vorne über den Widerrist des galoppierenden Pferdes, bis es ihr schließlich gelang, das Kleid, ohne hinzusehen, wieder zuzuknöpfen. Der kleine Triumph entlockte ihr ein kurzes Lächeln. Schon flogen die ersten Gebäude vorüber. Obwohl es eine Abkürzung gegeben hätte, auf der sie rascher in das eigentliche Stadtgebiet gelangt wäre, war sie auf ihrem Weg von den Hügeln herab auf der Hauptstraße geblieben. An der Grenze zum eigentlichen Stadtgebiet mündete die Landstraße auf einen breiten Boulevard, die größte Querverbindung von Ost nach West. Je enger die Gebäude hier zusammenrückten, desto höher wurden sie auch. Da und dort war die Straße von Bäumen gesäumt, auf deren Rinde sie die aufgeplatzten, leeren Hüllen der bereits gehäuteten Zikaden haften sehen konnte, ein Anblick, der sie für einen flüchtigen Moment an die kleine Schutzhütte und die schützende Geborgenheit von Richards Armen denken ließ.
Sa’dins Körper war mittlerweile von einer schäumenden Schweißschicht bedeckt, doch obwohl seine Kräfte eigentlich längst hätten erlahmen müssen, ließ er durch nichts erkennen, dass er beabsichtigte, in seinem Tempo nachzulassen. Sie musste ihn sogar ein wenig bremsen, damit die Kavallerie aufschließen und sich der trügerischen Hoffnung hingeben konnte, sie seien kurz davor, sie einzuholen. Ein Jäger, der seiner Beute immer näher kam, neigte dazu, alles andere aus dem Blick zu verlieren, ein Jagdinstinkt, der bei Soldaten nicht minder ausgeprägt war als bei Wölfen. Damit sie bei ihrer Hatz auf sie endgültig alle Vorsicht in den Wind schlugen, ließ sie sich ein wenig zur Seite hinüberkippen, um den Eindruck zu erwecken, sie sei womöglich verletzt und könne jeden Moment vom Pferd stürzen. Wie sie in der Straßenmitte dahinjagte, hinter sich eine lange Staubfahne, begann sie die ersten Häusergruppen wieder zu erkennen, und die ersten vertrauten Fensterzeilen schoben sich in ihr Blickfeld. Linker Hand erblickte sie ein hellgelbes, mit Schindeln verkleidetes Gebäude, und auch die roten Fensterläden zu ihrer Rechten kamen ihr vertraut vor. Im Schatten einer engen Gasse, unmittelbar hinter einer Reihe eng beieinander stehender Häuser, die sie wegen der zwischen ihnen aufgespannten Wäscheleinen als Wohnhäuser identifizierte, erblickte sie einige mit Bogen bewaffnete Männer in ihren Verstecken und wusste: Jetzt konnte es nicht mehr weit sein.
Unversehens tauchte das dreistöckige Ziegelgebäude vor ihr auf, im Licht der tief stehenden Sonne hätte sie es fast nicht erkannt. Die quer über die Straße verteilten Eisendorne waren mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, um sie vor den Blicken der Soldaten zu verbergen. Gleich hinter einer Straßenecke erspähte sie im Vorübergaloppieren einige Männer, bereit, die Dorne hinter ihr augenblicklich hochzuziehen. »Wartet, bis die meisten vorüber sind!«, rief sie den Wartenden zu, gerade laut genug, dass sie sie hören konnten, nicht aber ihre Verfolger. Aus den Augenwinkeln sah sie einen von ihnen in ihre Richtung nicken und hoffte, dass sie verstanden hatten. Wurden die Dorne unmittelbar hinter der Angriffsspitze der Kavallerie hochgezogen, würde die Streitmacht als Ganzes in einen Engpass gelockt, sodass nur die vordersten Reihen ausgeschaltet werden konnten, während die nachrückenden Reiter weitgehend verschont blieben und sich neu formieren konnten. In diesem Fall hätten sie ihre Chance vertan, die Kavallerie auseinander zu brechen. Sie war darauf angewiesen, dass die Verteidiger an den Eisendornen den Großteil der Angreifer zunächst passieren ließen.
Ein erneuter Blick über die Schulter ergab, dass ihre hünenhaften Verfolger soeben mit erhobenen Waffen an dem Ziegelgebäude vorüberdonnerten. Die meisten hatten das Ende des Gebäudes bereits passiert, doch dann erhob sich unvermittelt ein heulendes Gebrüll, als die dahinjagenden Schlachtrösser Hals über Kopf in die Eisendorne hineinrasten. Die nachfolgenden Pferde konnten nicht mehr abbremsen und prallten in vollem Lauf gegen die bereits gepfählten Tiere. Reiter schrien auf, als sie zerquetscht wurden, andere wurden über die Köpfe ihrer Pferde geschleudert.
Als die jetzt pferdelosen Krieger die Nachzügler der nach wie vor heranpreschenden Kavallerie aufzuhalten versuchten, ging aus den Fenstern ein Pfeilhagel auf sie nieder, sodass sie bei dem verzweifelten Versuch getroffen wurden, ihre Tiere noch abzubremsen. Schließlich wurden Pferde wie Reiter von dem aus allen Richtungen auf sie niedergehenden, alles niedermähenden Schwärm von Pfeilen zu Boden gerissen. Viele versuchten noch, einen Arm hochzureißen, nur um entsetzt zu erkennen, dass sie es in der Panik versäumt hatten, ihre Schilde mitzunehmen.
Während die letzten Reiter noch immer in die plötzlich aufgetauchte Straßensperre hineinrasten, wandte Nicci sich an einer Gabelung der breiten Straße nach rechts. Die Kavallerie war ihr jetzt unmittelbar auf den Fersen und jagte hinter ihr die Straße entlang.
»Wartet, bis die erste Hälfte vorüber ist!«, brüllte sie den hinter der Ecke einer hohen Steinmauer verborgenen Männern im Vorüberreiten zu.
Wieder hörte man einen wuchtigen Aufprall, gefolgt vom entsetzlichen Geräusch der vor Schmerz und Angst schreienden Tiere, als diese völlig überraschend gepfählt oder aufgeschlitzt wurden. Soldaten schrien auf, als sie gewaltsam aus dem Sattel geworfen wurden. Sofort kamen hinter dem Gebäude Männer mit Speeren in den Händen hervor und stachen sie ab, ehe sie auch nur eine Chance hatten, sich wieder aufzurappeln und zu fliehen. Äxte, Schwerter und neunschwänzige Katzen, eben noch im Besitz der Gefallenen, wurden flugs eingesammelt, um Augenblicke später bereits gegen die Imperiale Ordnung eingesetzt zu werden. Eine Untergruppe der bereits zweimal genarrten Kavallerie wollte sich nicht noch ein drittes Mal zum Narren halten lassen und scherte in vollem Galopp von der Hauptkolonne aus. Ein Teil nahm eine Nebenstraße linker Hand, während der andere in eine enge Gasse zu ihrer Rechten einbog. Die sie verfolgenden Reiter hatten noch keine nennenswerte Strecke zurückgelegt, geschweige denn Gelegenheit gehabt, sich darüber klar zu werden, ob sie die Verfolgung nicht besser abbrechen sollten, da passierte Nicci bereits die dritte Sperre aus Eisendornen, deren Bemannung diese mit einem Ruck nach oben riss und die Stützen in Stellung brachte. Die Pferde unmittelbar hinter ihr rasten in die Dorne hinein, und gleich darauf vernahm sie unmittelbar hinter ihrem Rücken ein Geräusch, das an Entsetzlichkeit nicht zu überbieten war, denn die ungeheure Masse der Pferdeleiber prallte mit einem dumpfen Krachen auf die bereits gepfählten Führungstiere und wurde dadurch jäh gestoppt. Sofort erhob sich unter den in dieser plötzlich entstandenen Massenpanik gefangenen Kavalleristen ein schauriges Gebrüll. Fast im selben Augenblick sahen sich die in die Straßen rechts und links ausgescherten Reiter in ganz ähnlichen eisernen Fallen gefangen, und plötzlich saßen die Angreifer fest – in einer ausweglosen, nicht etwa aus Felsen, sondern aus Ziegeln und Eisen bestehenden Schlucht.
Der Aufprall, mit dem die in vollem Tempo heranrasenden Tiere in das die Hauptstraße vollständig blockierende chaotische Gewirr aus schwer verwundeten Männern und Pferden hineinjagten, war grässlich, Fleisch prallte auf Fleisch, Knochen splitterten, Pferde schrien vor Schmerz. Die Wucht des Zusammenpralls war so ungeheuer, dass die Sperre aus Eisendornen in die Brüche ging und eine Bresche in den Engpass aus Kadavern gesprengt wurde. Mächtige Schlachtrösser, manche noch mit ihrem Gesichtspanzer, drängten vereinzelt durch die Lücke, nur um sogleich ins Schlittern zu geraten und in den Blutlachen getöteter Soldaten und anderer Tiere auszugleiten, ehe sie von den nachfolgenden Tieren, die in vollem Galopp durch die Bresche schössen und ihnen nicht mehr ausweichen konnten, niedergetrampelt wurden. Sofort preschte eine Gruppe von bis an die Zähne bewaffneten Männern aus den Seitengassen hervor und versperrte der heranpreschenden Kavallerie den Weg, um die Bresche in der Barrikade wieder zu schließen, was zur Folge hatte, dass sich die durch das Gemetzel und die brutale Vernichtung einer so großen Zahl ihrer Artgenossen bereits völlig verstörten Pferde Formation auf Formation von auf sie zustürmenden Kämpfern gegenübersahen, die ihnen mit einem Schlachtruf auf den Lippen ihre Speere in die Flanken rammten. Die völlig verzweifelten Tiere schrien entsetzlich, als sie erbarmungslos abgestochen wurden, bereits gestürzte Tiere brachten jene zu Fall, die noch auf den Beinen waren und zu entkommen versuchten. Dann erhob sich ein die abendliche Luft zerreißendes Gebrüll, als die Bogenschützen zu guter Letzt einen Pfeilhagel auf jene Kavalleristen niedergehen ließen, die dem blutigen Gemetzel zu entkommen versuchten. Nicci bezweifelte, dass diese Truppen der Imperialen Ordnung ihren Angriff bewusst bis in die Stadt hineingetragen und die Kavallerie auf diese Weise eingesetzt hätten, wären sie nicht dazu verleitet worden. Pferde dieses Typs waren für diese Art der Schlacht vollkommen ungeeignet, denn auf engem Raum waren die Tiere weitgehend manövrierunfähig, sodass die Kavalleristen ihre Gegner kaum wirkungsvoll niedermachen konnten. Erschwerend kam hinzu, dass die Verteidiger über viel zu viele Verstecke verfügten, als dass eine Kavallerieattacke wirklich hätte effektiv sein können, denn normalerweise bestand die Aufgabe dieses Truppenteils darin, rasch jeden organisierten Widerstand zu brechen, der die Truppen der Imperialen Ordnung noch vor Erreichen der Stadt im offenen Gelände aufzuhalten versuchte, und anschließend, nach dem Einmarsch der Fußtruppen, jeden Fluchtversuch aus der Stadt zu unterbinden. Nicci bezweifelte, ob die Befehlshaber, wären sie Herr der Lage und ihrer Truppen gewesen, einen derart unbesonnenen Kavallerieangriff innerhalb der Stadtgrenzen überhaupt zugelassen hätten. Aber aus ebendiesem Grund war sie schließlich losgezogen und hatte dem Hornissennest besagten deftigen Schlag versetzt.
Der Irrsinn einer bis in das Zentrum einer Stadt getragenen Kavallerieattacke wurde immer augenfälliger. Das Abschlachten der Angreifer erfolgte mit ebenso großer Schnelligkeit wie Gnadenlosigkeit, bis der grauenhafte Anblick so ungeheuer vieler aufgerissener Pferde- und Soldatenleiber der Szene etwas Unwirkliches verlieh und der Blutgeruch einem fast den Atem raubte.
Als sie eine Kolonne feindlicher Reiter in eine Seitengasse einbiegen sah, offenbar um sich aus dem Staub zu machen, schleuderte Nicci ihr Han, um dem Leitpferd mit einem Dorn aus konzentrierter Luft die Beine zu brechen. Als die Beine des Tieres wegknickten, rauschten die nachfolgenden Tiere sofort in vollem Tempo in es hinein und brachen sich die Vorderläufe, da das erste Pferd unter sie geriet, ehe die nachfolgenden ihm ausweichen konnten. Es dauerte eine Weile, bis die ersten nachrückenden Tiere die Situation erfassten, sodass sie etwas mehr Zeit zu reagieren hatten und sich mit einem Satz in Sicherheit bringen konnten. Am Ende der schmalen Gasse konnte Nicci die Männer ihnen bereits den Fluchtweg abschneiden sehen. Sie bog um die Häuserecke und gelangte in die Nähe des größten Schlupflochs, wo sie verhindern half, dass Teile der Kavallerie der Imperialen Ordnung der Falle wieder entkamen. Als sie um die letzte Gebäudeecke bog, stieß sie auf eine Traube von Kavalleristen, die sich soeben anschickten, die Front der mit Speeren bewaffneten Verteidiger zu durchbrechen. Sofort schleuderte Nicci den Invasoren einen heulenden Ball aus geschmolzenem Feuer entgegen, der knapp über die Köpfe der Verteidiger hinwegstrich, auf der Straße zerplatzte und sein flüssiges Feuer auf die Flanken der Pferde spritzte. Das Fell lichterloh in Flammen, bäumten sich die Tiere auf, sodass die Flammen auf die auf ihrem Rücken sitzenden Reiter übersprangen. Nicci preschte um eine Gruppe dicht beieinander stehender Gebäude herum und gelangte so hinter den Rückraum der Hauptfalle, in der sich eine große Zahl von Angreifern verfangen hatte. Längst waren die männlichen Stadtbewohner über sie hergefallen. Dieses eine Mal waren die Kavalleristen in der Unterzahl und hatten, völlig außerstande, sich dem Angriff zu entziehen, jede Ordnung aufgegeben. Wer für seine Freiheit kämpfte, war von einer glühenden Entschlossenheit beseelt, mit der diese Soldaten nicht gerechnet hatten; ihre Taktik aus Einschüchterung und primitiver Abschlachterei war in sich zusammengefallen.
Im schwindenden Licht der Abenddämmerung sah Nicci Victor mit einer schweren Keule auf jeden Schädel der Imperialen Ordnung eindreschen, den er finden konnte, und lenkte Sa’din mitten durch das Gemetzel in seine Richtung.
»Victor!«
Er sah auf, einen mörderischen Ausdruck im Gesicht. »Was gibt es?«, rief er über den Schlachtenlärm hinweg, die stählernen Klingen seiner Waffe voller Blut.
Nicci lenkte ihr Pferd näher heran. »Unmittelbar hinter der Kavallerie folgen Fußtruppen; dann wird sich zeigen, wir gut wir tatsächlich gewappnet sind. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass sie ihre Meinung jetzt noch ändern und ihren Angriff abbrechen. Und sollten ihnen doch noch Bedenken kommen, werde ich ihnen etwas zeigen, dem sie so wenig widerstehen können, dass sie es bis in das Zentrum hinein verfolgen werden.«
Victor zeigte ihr ein entschlossenes Grinsen. »Gut. Wir werden auf sie vorbereitet sein.«
War die Armee erst einmal bis in die Stadt vorgedrungen, konnten sie ihre geschlossene Formation unmöglich länger aufrechterhalten, vielmehr wären die Soldaten gezwungen, sich aufzuspalten und auf verschiedenen Straßen vorzurücken. Sobald dies geschehen war, konnten die einzelnen Unterabteilungen von den Verteidigern weiter zersplittert werden. Gingen die einzelnen Untergruppen dann zum Angriff über oder ergriffen sie die Flucht, bekämen sie es sofort mit versteckten Bogenschützen sowie mit schwer bewaffneten Speerträgern zu tun, von den zahlreichen Straßenfallen ganz zu schweigen.
Zudem war Altur’Rang eine Stadt von beträchtlicher Größe. Sobald sich die Dunkelheit über die Stadt gesenkt hatte, würden viele der Invasoren die Orientierung verlieren und sich verlaufen. Wegen der engen Straßen in den dicht bevölkerten Vierteln konnten sie nicht zusammenbleiben, um sich zu einem geordneten Angriff zu formieren. Sie wären der Möglichkeit beraubt, sich nach Belieben in der Stadt zu bewegen, um über deren unschuldige Bewohner herzufallen, und würden stattdessen unerbittlich in die Enge getrieben und immer weiter dezimiert. Innerhalb kürzester Zeit würden die einzelnen Gruppen immer mehr zerfallen, teils wegen der durch die ständigen Hinterhalte bedingten Verluste, aber auch weil nicht wenige aus ihren Reihen versuchen würden, sich auf anderen Wegen in Sicherheit zu bringen. Nicci hatte dafür gesorgt, dass sie sich an keinem Punkt der Stadt sicher fühlen konnten. »Ihr seid vorne über und über mit Blut beschmiert«, rief Victor zu ihr hoch. »Seid Ihr etwa verletzt?«
»Ich war unachtsam und bin vom Pferd gefallen, aber sonst geht es mir gut. Dies muss noch heute Abend zu Ende gebracht werden«, ermahnte sie Victor.
»Ihr könnt es wohl kaum erwarten, Richard hinterher zureiten?«
Sie schmunzelte, ließ seine Frage aber unbeantwortet. »Ich sollte jetzt besser losziehen und dem Hornissennest den zweiten deftigen Schlag versetzen. Bei meiner Rückkehr werden sie mir dicht auf den Fersen sein.«
Er nickte knapp. »Wir sind bereit.«
Als sie ein Stück weiter vorn drei Soldaten erblickte, die sich ohne ihre Pferde aus dem Staub zu machen versuchten, hielt sie kurz inne, um einen schimmernden Bann durch eine enge, gewundene Gasse zu jagen. In schneller Folge hörte man drei dumpfe Schläge, als die Lanze aus purer Energie sich durch ihr Fleisch und ihre Knochen bohrte und sie zu Boden riss.
Sie wandte sich wieder zu ihm herum. »Noch ein Letztes, Victor.«
»Und das wäre?«
»Nicht einer von ihnen darf lebend entkommen. Nicht einer.«
Den Lärm der tobenden Schlacht im Rücken, musterte er einen Moment lang prüfend ihre Augen. »Verstehe. Ishaq erwartet Euch bereits. Versucht, die Hornissen so schnell wie irgend möglich zu ihm zu locken.«
Nicci nahm Sa’din scharf an die Zügel, um ihn ruhig zu halten, und nickte. »Ich werde sie mitten durch die ...«
Das unvermittelte Rauschen eines aufflammenden Feuers ließ sie herumfahren. Drüben im Osten loderten gewaltige Flammenwände in den Himmel, und das konnte nur eins bedeuten. Fluchend kletterte Victor auf den Kadaver eines Schlachtrosses und reckte den Hals, um über die Dächer hinweg einen Blick auf die dichten Rauchwolken zu erhaschen, die in den dunkler werdenden Abendhimmel stiegen.
Er warf Nicci einen skeptischen Blick zu. »Habt Ihr Kronos etwa nicht erledigt?«
»Doch, hab ich«, knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen, »und obendrein noch einen zweiten Zauberer. Aber allem Anschein nach haben sie noch einen dritten mit der Gabe Gesegneten in ihren Reihen. Schätze, sie sind gut vorbereitet hergekommen.« Sie legte die Zügel um und lenkte Sa’din in die Richtung, aus der das ferne Geräusch von Schreien herüberdrang. »Nun, mit der Herrin des Todes werden sie dennoch kaum gerechnet haben.«