Als Nicci an der Spitze einer kleinen Traube von Männern am Rand einer breiten Durchgangsstraße entlangschritt, kam ihr der Gedanke, dass es seit Richards Abreise fast ein wenig so schien, als wäre die Sonne erloschen. Sie vermisste es, ihm einfach nur in die Augen sehen zu können, die für gewöhnlich vor Lebendigkeit nur so sprühten. Zwei Tage hatte sie nun schon unermüdlich an den dringend erforderlichen Vorbereitungen für den bevorstehenden Angriff gearbeitet, trotzdem erschien ihr das Leben ohne ihn belanglos, weniger strahlend, weniger ... in jeder Hinsicht weniger.
Auch wenn, als er noch da war, seine verbohrte Entschlossenheit, seine nur in seiner Fantasie existierende Geliebte wieder zu finden, sehr an ihren Kräften gezehrt hatte und sie ihm tatsächlich mehr als einmal am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Sie hatte wirklich alles versucht, von Geduld bis zu Zornesausbrüchen, um ihn endlich zu bewegen, sich nicht länger der Wahrheit zu verschließen, aber ebenso gut hätte sie versuchen können, einen Berg zu verrücken. Was immer sie versucht hatte, es hatte letztendlich nichts genützt. Sie hoffte, nach der Befreiung Altur’Rangs von der Bedrohung durch die anrückenden Truppen der Imperialen Ordnung und ihres Zauberers, Kronos, sofort wieder zu Richard und Cara stoßen zu können, aber wegen der Reservepferde und des forschen Tempos, das sie anschlagen würden, würde sie die beiden wohl erst nach ihrer Ankunft bei der Hexe einholen – wenn er es denn überhaupt bis dorthin schaffte und Shota ihn nicht auf der Stelle umbrachte.
Nach allem, was Nicci über Hexen wusste, waren Richards Chancen, ihren Schlupfwinkel lebend wieder zu verlassen, eher bescheiden, denn er würde der Hexe ohne ihre Hilfe und ihren Schutz gegenübertreten müssen. Immerhin kannte er die Frau, und nach allem, was Nicci über sie gehört hatte, war sie eine Frau durch und durch; er würde ihr gegenüber also zumindest höflich sein. Unhöflichkeit im Umgang mit einer Hexe wäre auch alles andere als klug.
Aber selbst wenn er die Begegnung mit der Hexe überstand, würde er am Boden zerstört sein, wenn sie ihm ihre Hilfe verweigerte. Das aber – dessen war sich Nicci sicher – konnte sie gar nicht, weil es keine verschollene Frau zu finden gab. Es machte sie rasend, dass er mit an absolute Sturheit grenzender Beharrlichkeit an einer Geschichte festhielt, die offensichtlich nichts weiter als eine Selbsttäuschung war, andererseits war sie besorgt, dass er tatsächlich den Verstand verlieren könnte – eine Vorstellung, die zu entmutigend war, um sie ernsthaft in Betracht zu ziehen.
Plötzlich ließ eine erschreckende Erkenntnis Nicci am Straßenrand innehalten. Mit einem Ruck blieben die Männer hinter ihr ebenfalls stehen und rissen sie aus ihren Gedanken. Sie hatten sie begleitet, teils um ihre Anweisungen hinsichtlich irgendeiner Verteidigungsmaßnahme der Stadt sofort ausführen zu können, teils um bei Bedarf Meldungen zu überbringen. Jetzt standen sie schweigend da, verunsichert und nicht wissend, weshalb sie stehen geblieben war.
»Dort oben«, wandte sie sich an einen von ihnen, indem sie auf ein dreistöckiges Eckgebäude aus Ziegeln auf der anderen Straßenseite wies. »Seht zu, dass wir diese Stelle zu unserem größtmöglichen Vorteil nutzen, und platziert wenigstens ein Dutzend Bogenschützen in den Fenstern. Sorgt auch dafür, dass sie über einen großen Vorrat an Pfeilen verfügen.«
»Ich werde gehen und es mir mal ansehen«, antwortete er, ehe er loslief und sich, Wagen, Reitpferden und Handkarren ausweichend, zur anderen Straßenseite hinüberkämpfte. Menschen hasteten am Straßenrand entlang, drängten sich an ihr und den Männern in ihrer Begleitung vorbei, wie an einem Fels in einem schnell dahinfließenden Strom. Passanten unterhielten sich mit gesenkter Stimme, während sie sich an Trauben von mit lauter Stimme ihre Waren anpreisenden Straßenhändlern vorbeischoben, andere fanden sich in kleinen Gruppen zusammen, um mit eindringlicher Stimme über die der Stadt bevorstehende Schlacht zu diskutieren, und was sie zu ihrem persönlichen Schutz zu tun gedachten. Fahrzeuge jeder Bauart – schwere, von sechsköpfigen Pferdegespannen gezogene Transportkarren bis zu leichten Einspännern – rasten eilig vorbei. Die Menschen wollten mit dem Anlegen von Vorräten und anderen wichtigen Arbeiten fertig werden, solange sie noch die Möglichkeit dazu hatten. Obwohl Pferde, Wagen und Menschen einen nicht zu überhörenden Lärm verursachten, bekam Nicci kaum etwas davon mit, denn sie war in Gedanken bei der Hexe.
Ihr war nämlich eingefallen, dass Shota dem Lord Rahl ihre Hilfe womöglich nicht nur verweigern, sondern ihm dies obendrein verschweigen könnte. Hexen hatten ihren ganz eigenen Stil und ihre eigenen Ziele. Wenn sie Richard als zu hartnäckig oder anmaßend empfand, konnte sie durchaus auf die Idee verfallen, sich seiner zu entledigen, indem sie ihn auf eine sinnlose Suche um die ganze Welt schickte –sei es, um sich einen Spaß zu erlauben, oder weil sie ihn zu einem qualvollen Tod auf einem endlosen Marsch durch irgendeine ferne Wüste verdammen wollte, Dinge, die eine Hexe womöglich nur deswegen tat, weil sie halt in ihrer Macht standen. In seiner bedingungslosen Entschlossenheit, diese Fantasiefrau zu finden, würde Richard vermutlich gar nicht auf die Idee kommen, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, sondern sofort einfach in die Richtung losmarschieren, die Shota ihm vorgab.
Nicci war wütend auf sich selbst, weil sie ihn hatte ziehen lassen, um eine so gefährliche Frau aufzusuchen. Nur, was hätte sie tun sollen? Sie konnte es ihm schließlich nicht verbieten. Sie sah den Mann, den sie losgeschickt hatte, den Backsteinbau zu untersuchen, sich immer wieder ausweichend einen Weg zwischen den Wagen und Pferden hindurchbahnen und mit schnellen Schritten die Straße überqueren. Dabei fiel ihr auf, dass es trotz der ungeheuren Menschenmassen, die die Straßen der Stadt bevölkerten, spürbar weniger geschäftig zuging als an einem normalen Tag. Überall waren Leute damit beschäftigt, Vorkehrungen zu treffen, nicht wenige hatten sich bereits an vermeintlich sicheren Orten verbarrikadiert. Nicci hatte den Überfall der Truppen der Imperialen Ordnung auf eine Stadt schon am eigenen Leibe erlebt, deshalb wusste sie, dass es so etwas wie einen sicheren Ort gar nicht gab.
Mit einem Seitensprung brachte sich der Mann vor einem vorüberholpernden Karren in Sicherheit, dann war er endlich wieder bei Nicci angelangt. Er blieb stehen und wartete schweigend, offenbar hatte er Angst, etwas zu sagen, ehe sie ihn aufgefordert hatte zu berichten. Es war nicht zu übersehen, dass er Angst vor ihr hatte; alle fürchteten sich vor ihr, denn sie war nicht nur eine Hexenmeisterin, sie war oft eine überaus schlecht gelaunte Hexenmeisterin, und jeder wusste das.
»Nun?«, erkundigte sie sich ruhig bei dem Mann, der schweigend vor ihr stand und wieder zu Atem zu kommen versuchte.
»Es wird funktionieren. In dem Haus werden Strickwaren und Stoffe hergestellt. Die drei Stockwerke sind innen so gut wie gar nicht unterteilt, sodass die Bogenschützen sich schnell und mühelos von Fenster zu Fenster bewegen können, um die beste Schussposition zu finden.«
Ein kurzes Nicken, dann warf sie, ihre Augen mit vorgehaltener Hand gegen die tief stehende Sonne schützend, einen Blick die breite Hauptstraße entlang zurück nach Westen, um die Lage der Straßen und ihre Kreuzungswinkel zu begutachten. Zu guter Letzt entschied sie, dass die Kreuzung, auf der sie standen, unmittelbar gegenüber dem Ziegelgebäude, die günstigste Stelle war. Die beiden Hauptdurchgangsstraßen waren so breit, dass die Wahl der feindlichen Kavallerie im Ostteil der Stadt vermutlich auf sie fallen würde. Sie wusste, wie die Imperiale Ordnung ihre Angriffe durchführte, breite Straßen waren beliebt, weil sie sich dort auf breiter Front präsentieren und einen überaus harten Angriffsschlag führen konnten, der die gegnerischen Reihen auseinander riss. Nicci war sich einigermaßen sicher, dass sie im Falle eines Angriffs aus östlicher Richtung, von dem sie ausging, ihre Kavallerie auf diesem Weg anrücken lassen würde. »Gut«, antwortete sie. »Seht zu, dass Ihr die Bogenschützen herschafft, und dazu einen großen Vorrat an Pfeilen. Und beeilt Euch ich glaube kaum, dass uns noch viel Zeit bleibt.«
Während er loslief, um sich darum zu kümmern, erblickte sie in einiger Entfernung Ishaq, der in einem von zweien seiner stämmigen Zugpferde gezogenen Wagen die Straße heraufgeholpert kam. Er schien es sehr eilig zu haben. Sie hatte eine ziemlich klare Vorstellung, warum er zu ihr wollte, versuchte aber, nicht daran zu denken, sondern wandte sich stattdessen zu einem der anderen Männer in ihrer Begleitung herum. »Ich möchte, dass dort drüben, unmittelbar hinter dem Backsteinbau, wo die Bogenschützen Posten beziehen, Spieße ausgelegt werden. An der Stelle flankieren die Gebäude die Straße zu beiden Seiten auf der gesamten Länge.« Mit einer Handbewegung wies sie auf die Straße, welche die Hauptdurchgangsstraße unmittelbar vor dem Backsteinbau kreuzte. »Ebenso in beiden Richtungen in der Seitenstraße, sodass nachfolgende Angreifer, sollten sie diese als Fluchtwege benutzen wollen, das gleiche Schicksal zu erwarten haben.«
Sobald der Gegner über die Hauptstraße nach Altur’Rang einfiel, würden die Spieße unvermittelt hochgezogen und die Feinde pfählen, anschließend sollten die Bogenschützen all jene ausschalten, die in dem Engpass zwischen der Barriere aus Spießen und den von hinten nachdrängenden Angreifern eingekesselt waren. Mit einem Nicken lief der Mann los, um ihre Befehle auszuführen. Die Männer an den Spießen waren bereits von ihr instruiert worden. Victor hatte veranlasst, dass seine Schmiedewerkstatt sowie eine Reihe anderer fieberhaft an der Herstellung dieser einfachen, aber tödlichen Fallen arbeiteten. Im Grunde handelte es sich um nichts weiter als angespitzte Eisenstangen aus Lagerbeständen, die, etwa nach Art eines Lattenzauns, miteinander verbunden waren, wobei die Ketten zwischen der obersten Querverbindung und dem oberen Ende der Spieße allerdings unterschiedliche Längen aufwiesen. Zurzeit wurden überall in der Stadt Teilstücke dieser miteinander verbundenen Spieße in den Straßen ausgelegt. Flach am Boden liegend, stellten sie keine Behinderung für den Straßenverkehr dar, im Falle eines Kavallerieangriffs aber wurden die angespitzten Enden des gesamten Teilstücks aufgerichtet und darunter eine Eisenstütze in Stellung gebracht. Die unterschiedlichen Kettenlängen zwischen den Spießen und den Querverbindungen hatten zur Folge, dass die Spieße in ungleichen Winkeln von der Querverbindung herabhingen, was sie zu einer weitaus tückischeren Waffe machte als eine einfache Reihe von Spießen auf gleicher Höhe. Bei entsprechender Verwendung würde die feindliche Kavallerie ihre Pferde ohne jede Vorwarnung genau in die scharfen Eisenspitzen hineinlenken. Selbst wenn sie versuchen sollten, über sie hinwegzusetzen, würden die Tiere aller Wahrscheinlichkeit nach aufgeschlitzt. Die Vorrichtungen waren primitiv, aber überaus wirkungsvoll.
Diese aus Eisenstücken gefertigten Fallen lagen über die ganze Stadt verteilt, meist an den Straßenkreuzungen. Sobald die Teilstücke erst einmal aufgerichtet waren, ließen sie sich nicht ohne weiteres wieder senken. In ihrer Panik würden die Pferde von den Spießen durchbohrt, zumindest aber würden sie sich nicht mehr aus dem durch das Hindernis entstandenen Gedränge befreien können. Sobald die Kavallerie in die Spieße hineinritt, würden die Reiter entweder aus dem Sattel geschleudert und dabei vermutlich schwer verletzt oder getötet, oder aber sie mussten absteigen, um das Hindernis aus dem Weg zu räumen. In beiden Fällen boten sie den Bogenschützen ein erheblich leichteres Ziel als beim Vorübergaloppieren. Die Männer an den Spießkonstruktionen hatten Anweisung erhalten, sich erst einen Überblick über die Lage zu verschaffen und die Spieße nicht einfach hochzuziehen, unmittelbar bevor die Kavallerie in sie hineingaloppierte. Mitunter konnte es durchaus klüger sein, abzuwarten, bis ein Teil der Angreifer vorüber wäre. War die Kavallerie sehr zahlreich, erlaubte dieses Manöver den Verteidigern, einen Keil in die gegnerische Streitmacht zu treiben, um den Angriffssturm nicht nur in heilloses Chaos zu stürzen, sondern ihn zu zerschlagen und damit die Befehlswege zu unterbrechen, sodass ihnen der Vorteil der Geschlossenheit abhanden kam und man sich leichter mit den einzelnen, abgesprengten Truppenteilen befassen konnte. Ein entschiedenes Vorgehen gegen die Kavallerie mit dem Ziel ihrer völligen Vernichtung war der entscheidende Schachzug bei der Abwehr der Invasion.
Andererseits wusste Nicci, dass all diese wohl durchdachten Pläne in der ersten Panik beim Anblick einer Furcht erregenden Wand aus heranstürmenden feindlichen Soldaten, die schreiend nach Blut verlangten, nur zu leicht in Vergessenheit geraten konnten. Ganz sicher würden beim Anblick dieser grässlichen Soldaten mit ihren erhobenen Waffen nicht wenige der Männer die Flucht ergreifen, ehe sie Gelegenheit haben würden, die Spieße hochzuziehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Nicci diesen Albtraum aus eigener Anschauung erlebte, daher auch die große Zahl an Spießkonstruktionen.
Nahezu jeder in der Stadt war fest entschlossen, diese zu verteidigen, wobei manche dabei gewiss effektiver vorgehen würden als andere. Sogar Frauen, die mit ihren Kindern zu Hause blieben, hatten die unterschiedlichsten Dinge vorbereitet, von Steinen bis hin zu siedendem Ol, die sie auf jeden Soldaten zu schleudern beabsichtigten, der sie anzugreifen wagte. Man hatte kaum Zeit gehabt, großartige Waffen herzustellen, aber zumindest standen überall Männer mit Stapeln einfacher Speere bereit. Eine angespitzte Stange mochte nicht besonders kunstvoll sein, aber wenn man damit ein Kavalleriepferd zu Fall brachte oder einen Mann aufspießte, hatte sie allemal ihren Zweck erfüllt. Dabei war es völlig unerheblich, ob es sich um Kavalleristen oder Fußsoldaten handelte, es galt, sie alle zu besiegen, weswegen tausende von Stadtbewohnern mit Bogen ausgerüstet worden waren. Mit einem Bogen konnte sogar ein alter Mann einen kräftigen, muskulösen, ungeschlachten jungen Burschen töten, und ein Pfeil vermochte wahrscheinlich auch einen Zauberer niederzustrecken. Da es völlig unsinnig wäre, die männlichen Einwohner in einer herkömmlichen Schlacht gegen erfahrene Soldaten antreten zu lassen, galt es, diese stattdessen aller Möglichkeiten zu berauben, deren sie sich gewöhnlich in der Schlacht bedienten.
Nicci hatte es sich zum Ziel gemacht, die Stadt in eine einzige riesige Falle zu verwandeln. Jetzt musste man die Imperiale Ordnung nur noch hineinlocken.
Und dabei würde ihr Ishaqs Wagen zugute kommen, der in diesem Moment auf sie zugerattert kam. Leute sprangen aus dem Weg, bis Ishaq schließlich an den Zügeln riss und die kräftigen Pferde anhalten ließ. Eine träge Staubwolke stieg auf.
Er zog die Handbremse an und sprang mit einer Behändigkeit vom Wagen, die sie ihm gar nicht zugetraut hätte. Mit einer Hand hielt er seinen Hut beim Laufen fest, in der anderen hatte er einen Gegenstand. »Nicci! Nicci!«
Sie wandte sich zu ihrer Eskorte herum. »Am besten, Ihr kümmert Euch alle jetzt um die Dinge, die wir abgesprochen haben. Ich denke, uns bleiben nur noch etwa knapp zwei Stunden.«
Eine Mischung aus Überraschtheit und Besorgnis ging über ihre Gesichter. »Glaubt Ihr nicht, sie werden bis zum Morgen warten?«, fragte jemand. »Nein. Meiner Meinung nach werden sie noch heute Abend angreifen.« Warum sie dies glaubte, behielt sie für sich.
Ein knappes Nicken, dann entfernten sich die Männer und machten sich an die ihnen zugewiesenen Arbeiten. Ishaq kam keuchend vor ihr zum Stehen, sein Gesicht war fast so rot wie sein Hut. »Eine Nachricht, Nicci.« Er fuchtelte mit dem Blatt vor ihrem Gesicht herum. »Eine Nachricht für den Bürgermeister.«
In Niccis Körper krampfte sich etwas zusammen.
»Vor kurzem ist eine Gruppe von Männern in die Stadt geritten gekommen«, erklärte er. »Sie hatten eine weiße Fahne dabei, genau wie Ihr es vorausgesehen habt, und überbrachten eine Nachricht ›für den Bürgermeistern Wie habt Ihr das nur wissen können?«
Sie überging seine Frage. »Hast du sie schon gelesen?«
Er errötete. »Ja, und Victor auch. Er ist sehr wütend, und es ist gar nicht gut, einen Schmied wütend zu machen.«
»Hast du ein Pferd besorgt, wie ich dich gebeten habe?«
»Ja, ja, das Pferd habe ich.« Er reichte ihr das Blatt Papier. »Aber ich denke, Ihr solltet das hier lesen.«
Nicci faltete das Blatt auseinander und las es leise für sich.
Bürgermeister,
soeben erhalte ich die Nachricht, dass die Bewohner Altur’Rangs unter Eurer Führung ihrer sündigen Lebensweise abschwören und sich wieder der weisen, barmherzigen und souveränen Herrschaft der Imperialen Ordnung unterwerfen wollen.
Sollte es der Wahrheit entsprechen, dass Ihr den Bewohnern von Altur’Rang die völlige Zerstörung ihrer Stadt ersparen wollt, wie wir es allen Rebellen und Heiden bestimmt haben, werdet Ihr, als Beweis Eurer guten Absichten und bereitwilligen Unterwerfung unter die Jurisdiktion der Imperialen Ordnung, Eurer ebenso hübschen wie loyalen Gemahlin die Hände fesseln und sie mir als Zeichen Eurer Ergebenheit aushändigen. Versäumt Ihr es jedoch, sie den Anweisungen entsprechend auszuliefern, wird die gesamte Einwohnerschaft der Stadt dem Tod anheim fallen.
Im Auftrag des barmherzigen Schöpfers Bruder Kronos Befehlshaber der Wiedervereinigungsstreitkräfte seiner Exzellenz
Nicci zerknüllte die Nachricht. »Gehen wir.«
Ishaq stülpte seinen Hut wieder auf und hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, als sie mit energischen Schritten auf den Wagen zuhielt. »Ihr wollt doch nicht allen Ernstes auf die Forderungen dieses Barbaren eingehen, oder?«
Nicci stellte einen Fuß auf die eiserne Stufe und stieg auf den hölzernen Wagenbock. »Fahren wir, Ishaq.«
Leise vor sich hin brummelnd kletterte er neben ihr auf den Wagen, löste die Bremse und ließ die Zügel schnalzen, dann rief er den Umstehenden zu, sie sollten den Weg freimachen, und lenkte den Wagen schwungvoll herum. Schmutz und Straßenstaub wirbelten von den Rädern hoch, als er den Wagen mitten auf der Straße wendete. Dann ließ er seine Peitsche über den Flanken der Pferde knallen und trieb sie mit einem lauten Ruf an, sich ins Zeug zu legen. Die Pferde stemmten sich mit ihrem ganzen Gewicht in die Kummethölzer, der Wagen geriet kurz ins Schlittern und stabilisierte sich schließlich. Nicci musste sich mit einer Hand am Seitengeländer festhalten, als der Wagen mit einem kräftigen Ruck anfuhr, ihre andere Hand, mit der zerknüllten Nachricht in der Faust, lag im Schoß ihres roten Kleides. Während sie durch die Straßen Altur’Rangs holperten, vorbei an Häusern und Geschäftsfassaden, anderen Wagen, Pferden und Fußgängern, starrte sie blicklos geradeaus. Das Licht der tief stehenden Sonne blitzte zwischen den Baumreihen zu ihrer Linken auf, während sie in nördlicher Richtung über die breite Hauptstraße rasten. An den Ständen für Gemüse, Käse, Brot und Fleischwaren – unter manchmal eintönigen, dann wieder gestreiften Markisen –drängten sich die Menschen, um vor dem bevorstehenden Ansturm alles an Lebensmitteln aufzukaufen, dessen sie habhaft werden konnten.
Mit Erreichen der ältesten Stadtbezirke wurde die Straße enger und das Gedränge aus Wagen, Pferden und Menschen immer undurchdringlicher. Ohne das Tempo groß zu drosseln, lenkte Ishaq seine beiden stämmigen Zugpferde von der Hauptstraße herunter und nahm eine Abkürzung durch die kleinen Hintergassen zwischen gedrängt stehenden Häuserzeilen, wo in einem einzigen Zimmer ganze Familien hausten. Überall in den Hinterhöfen flatterten frisch gewaschene Wäschestücke über ihren Köpfen, aufgehängt an einem Gewirr aus Leinen, die nicht selten sogar zwischen einander gegenüberliegenden Wohnungen im zweiten Stock gespannt waren.
Nahezu jede Parzelle an der Rückseite der überbelegten Gebäude –und war sie auch noch so klein – wurde zum Anbau von Gemüse oder zur Hühnerzucht benutzt, und wann immer die Vögel beim Anblick des an ihrem Hinterhof vorbeiratternden Wagens in Panik gerieten, wurden sie von hektischem Flügelschlagen und stiebenden Federn begrüßt.
Mit Geschick lenkte Ishaq sein Gespann in beängstigendem Tempo an aus Schuppen, Zäunen, Mauern und vereinzelt auftauchenden Bäumen bestehenden Hindernissen vorbei, stets einen Warnruf auf den Lippen, wenn er eine geschäftige Straße kreuzte, sodass die Passanten erschrocken zur Seite sprangen, um ihn passieren zu lassen.
Schließlich bog der Wagen in eine Straße ein, die Nicci sehr vertraut vorkam, und folgte einer niedrigen Mauer, die sich in sanftem Bogen entlang der Zufahrt bis vor die Tore des Lagerhauses von Ishaqs Transportunternehmen zog. Der Wagen holperte auf den von Wagenspuren zerfurchten Innenhof des Gebäudes und kam im Schatten einiger weit über die Mauer reichender Eichen schräg zum Stehen. Als sie einen Teil des Flügeltores aufgehen sah, kletterte Nicci vom Bock. Offenbar angelockt vom Lärm, trat Victor aus dem Gebäude, das Gesicht so zornesrot, als sei er entschlossen, den nächstbesten Menschen zu erdrosseln, der ihm in die Finger kam.
Er kam sofort zur Sache. »Habt Ihr die Nachricht gelesen?«
»Ja, habe ich. Wo ist das Pferd, um das ich gebeten habe?«
Er wies mit dem Daumen über seine Schulter auf das offene Tor. »Und, was sollen wir jetzt tun? Der Angriff wird vermutlich in der Morgendämmerung erfolgen. Wir können unmöglich zulassen, dass diese Soldaten Euch in ihr Armeelager mitnehmen, ebenso wenig können wir sie einfach wieder ziehen und melden lassen, dass wir keinesfalls die Absicht haben, Kronos’ Forderungen zu erfüllen. Was also sollen wir ihnen sagen?«
Nicci wies mit dem Kopf auf das Gebäude. »Ishaq, würdest du bitte das Pferd holen gehen?«
Er machte ein verdrießliches Gesicht. »Ihr solltet Richard heiraten. Ihr zwei würdet das perfekte Paar abgeben. Ihr seid beide völlig verrückt.«
Sie konnte ihn nur verdutzt anstarren, schließlich aber fand sie ihre Stimme wieder. »Ishaq, bitte, wir haben nicht viel Zeit. Wir wollen nicht, dass diese Kerle mit leeren Händen zurückkehren.«
»Sehr wohl, Euer Hoheit«, lästerte er, »erlaubt, dass ich Euch Euer königliches Ross holen gehe.«
»Ich habe Ishaq noch nie sich so aufführen sehen«, sagte sie dann, an Victor gewandt, während sie zusah, wie er etwas steifbeinig unter leisem Fluchen auf das Tor zusteuerte. »Er hält Euch halt für verrückt. Ich übrigens auch.« Victor stemmte seine Fäuste in die Hüften. »Ist irgendetwas schief gelaufen mit dieser List im Stallgebäude mit dem Spion, oder hattet Ihr es etwa von Anfang an so geplant?«
Nicci, nicht bei Laune, mit ihm darüber zu diskutieren, revanchierte sich mit einem nicht minder stechenden Blick. »Mein Plan«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »ist es, dies so schnell wie möglich hinter mich zu bringen und zu verhindern, dass die Bevölkerung Altur’Rangs abgeschlachtet wird.«
»Aber was hat das damit zu tun, dass Ihr Euch Bruder Kronos als Zeichen der Unterwerfung ausliefern wollt?«
»Wenn wir zulassen, dass sie im Morgengrauen angreifen, haben sie den Vorteil auf ihrer Seite. Wir müssen sie dazu bewegen, noch heute Abend anzugreifen.«
»Heute!« Victors Blick ging nach Westen, zur tief stehenden Sonne. »Aber es wird bald dunkel.«
»Eben.« Sie beugte sich in den hinteren Teil des Wagens, um ein Stück Tau hervorzuholen. Den Blick starr auf das ferne Stadtzentrum gerichtet, dachte er darüber nach. »Na ja, wenn man alles bedenkt, wäre es wohl klüger, ihnen nicht bei Tag und zu ihren Bedingungen entgegenzutreten. Wenn wir sie also irgendwie dazu bewegen können, noch heute anzugreifen, dürfte ihnen bald das Tageslicht ausgehen, was wiederum für uns von Vorteil wäre.«
»Ich werde sie zu euch bringen«, sagte sie. »Seht ihr nur zu, dass ihr bereit seid.«
Die Falten auf Victors Stirn furchten sich noch tiefer ein. »Ich hab wirklich keine Ahnung, wie Ihr es schaffen wollt, sie dazu zu bringen, noch heute anzugreifen, aber wenn es so weit ist, werden wir bereit sein.«
In diesem Moment kam Ishaq aus dem Lagerhaus wieder zum Vorschein, neben sich einen weißen, mit schwarzen Flecken gesprenkelten Hengst. Mähne, Schwanz und die Beine unterhalb der Fesselgelenke waren schwarz. Das Tier wirkte nicht nur elegant, sondern sein Verhalten ließ eine gewisse Zähigkeit erkennen, so als verfüge es über eine unerschöpfliche Ausdauer. Gleichwohl entsprach es nicht ganz ihren Erwartungen. »Er scheint mir nicht eben groß zu sein«, sagte sie, an Ishaq gewandt. Der rieb dem Tier liebevoll über das weiße Gesicht. »Von groß war nicht die Rede. Ihr habt gesagt, Ihr wollt ein Pferd, das sich weder leicht erschüttern lässt noch schnell scheut und das einen furchtlosen Charakter hat.«
Nicci besah sich das Tier erneut. »Ich war wohl einfach davon ausgegangen, ein solches Pferd müsse groß sein.«
»Die Frau ist verrückt«, raunte Ishaq Victor zu.
»Verrückt und schon in Kürze nicht mehr am Leben«, gab der zurück. Nicci reichte ihm den Strick. »Es wird leichter gehen, wenn ihr auf der Mauer steht, sobald ich aufgestiegen bin.«
Sie streichelte das Pferd unter dem Kinn und anschließend an den seidenweichen Ohren. Das Tier quittierte dies mit einem leisen Wiehern und rieb seine Schnauze an ihr. Nicci hielt seinen Kopf fest und flößte ihm einen feinen Strahl ihres Han ein, gleichsam zur Beruhigung und um sich mit ihm bekannt zu machen. Anschließend strich sie prüfend mit der Hand über seine Schulter und seitlich am Bauch entlang. Kommentarlos erklomm Victor die Mauer und wartete ab, bis sie sich hochgezogen hatte und im Sattel saß. Nicci ordnete die diversen Schichten ihres Kleides, ehe sie es bis zur Hüfte aufknöpfte, dann zog sie ihre Arme nacheinander aus den Ärmeln, presste die Vorderseite des Kleides gegen ihre Brust und hielt sie dort mit den Ellbogen fest, während sie Victor, die Handgelenke aneinander gelegt, ihre Hände hinhielt. Victors Gesicht wurde so rot wie das Kleid. »Was in aller Welt tut Ihr da?«
»Diese Männer sind erfahrene Soldaten der Imperialen Ordnung. Ich habe lange in ihrem Feldlager gelebt und war dort weit und breit bekannt – manchen als Sklavenkönigin, anderen unter dem Namen Herrin des Todes. Gut möglich, dass gewisse Leute dort bereits damals in Jagangs Armee gedient haben, sie könnten mich also wieder erkennen, erst recht, wenn ich ein schwarzes Kleid trage. Deshalb habe ich für alle Fälle ein rotes angezogen. Außerdem muss ich diesen Männern einen Blickfang liefern, damit sie abgelenkt sind und mich hoffentlich nicht erkennen. Ein solches Kleid dürfte das gewöhnlich berechnende Urteilsvermögen von Soldaten ihres Schlages empfindlich stören. Außerdem wird es Kronos Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ihn zu der Überzeugung bringen, dass ihn der ›Bürgermeister‹ durch sein Zugeständnis um jeden Preis milde stimmen will. Nichts vermag verlässlicher die Blutgier dieser Sorte Männer zu wecken als offenkundige Schwäche.«
»Es wird Euch in eine heikle Lage bringen, ehe Ihr überhaupt bis zu Kronos vorgedrungen seid.«
»Ich bin eine Hexenmeisterin. Ich weiß mich zu schützen.«
»Wenn ich das richtig sehe, ist Richard ein Zauberer, der ein mit uralter Magie versehenes Schwert trägt, und selbst er ist in Schwierigkeiten geraten, als er an einen zahlenmäßig weit überlegenen Gegner geriet. Er wurde überwältigt und um ein Haar getötet.«
Nicci hielt ihm abermals die Hände hin, die Handgelenke aneinander gelegt. »Binde sie zusammen.«
Er musterte sie einen Moment mit durchdringendem Blick, dann gab er schließlich nach und ging, ein unwilliges Brummen auf den Lippen, daran, ihr die Handgelenke zu fesseln. Ishaq hielt unterdessen die Zügel unmittelbar unterhalb der Trense fest.
»Ist es ein schnelles Pferd?«, erkundigte sie sich, während sie Victor zusah, wie er ihre Handgelenke mit dem Strick umwickelte.
»Sa’din ist mehr als schnell«, bestätigte ihr Ishaq.
»Sa’din? Bedeutet das nicht ›Wind‹ in der alten Sprache?«
Ishaq nickte. »Ihr sprecht die alte Sprache?«
»Ein wenig«, sagte sie. »Sa’din wird heute schnell wie der Wind sein müssen. Und jetzt hört mir zu, alle beide. Ich habe keinesfalls die Absicht, mich umbringen zu lassen.«
»Wer will das schon«, brummte Victor.
»Ihr versteht nicht. Dies ist die günstigste Gelegenheit, ganz nahe an Kronos heranzukommen. Hat der Angriff erst einmal begonnen, wäre es nicht nur schwierig, ihn überhaupt zu finden, sondern es wäre, selbst wenn uns das gelänge, nahezu unmöglich, nahe genug an ihn heranzukommen. Er würde die unschuldigen Menschen hier auf eine Weise mit Tod und Verderben überziehen, wie ihr es euch nicht einmal vorstellen könnt, und Furcht, Panik und Schrecken verbreiten. Das macht seinen ungeheuren Wert für diese Truppen aus. Während der Schlacht werden ihre Soldaten ein Auge auf jeden haben, der ihren Zauberer auszuschalten versucht. Deshalb muss ich es jetzt tun. Ich bin fest entschlossen, das Ganze noch heute Abend zu beenden.«
Victor und Ishaq wechselten einen Blick.
»Ich will, dass alle bereit sind«, fuhr sie fort. »Ich gehe davon aus, dass bei meiner Rückkehr eine Menge sehr aufgebrachter Menschen hinter mir sein werden.«
Victor zurrte den Knoten fest und schaute hoch. »Wie viele aufgebrachte Menschen etwa?«
»Wenn es nach mir geht, wird mir ihre gesamte Streitmacht dicht auf den Fersen sein.«
Ishaq strich sachte über Sa’dins Gesicht. »Und worüber werden sie so aufgebracht sein, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin nicht nur fest entschlossen, ihren Zauberer zu töten, sondern ich möchte dem Hornissennest auch einen ordentlichen, deftigen Schlag versetzen.«
Victor seufzte nervös. »Wenn sie angreifen, werden wir auf sie vorbereitet sein, nur weiß ich nicht, ob Ihr wieder entkommen könnt, wenn Ihr einmal bis mitten unter sie gelangt seid.«
Nicci wusste es ebenso wenig. Die Zeiten, da sie ihre Vorhaben ausführte, ohne sich darum zu scheren, ob sie dabei draufging oder nicht, waren ihr noch bestens in Erinnerung. Doch jetzt war ihr das keineswegs egal. »Wenn ich nicht zurückkehre, werdet ihr euch einfach, so gut es irgend geht, verteidigen müssen. Ich kann nur hoffen, dass ich Kronos mit in den Tod nehmen kann, wenn sie mich töten. Wie auch immer, wir halten eine Reihe von Überraschungen für sie bereit.«
»Weiß Richard eigentlich von Eurem Plan?«, fragte Ishaq und sah aus zusammengekniffenen Augen zu ihr hoch. »Ich nehme es an. Er war aber anständig genug, meine Ängste nicht noch zu vergrößern, indem er mir etwas auszureden versuchte, was ich in jedem Fall tun muss. Dies ist kein Spiel, wir alle kämpfen ums nackte Überleben. Wenn wir scheitern, werden unschuldige, anständige Menschen abgeschlachtet – in einer Zahl, die jede Vorstellung übersteigt. Ich habe solche Angriffe schon auf der anderen Seite miterlebt, ich weiß, was uns erwartet. Ich versuche, es zu verhindern, aber wenn ihr mich nicht dabei unterstützen wollt, dann kommt mir wenigstens nicht auch noch in die Quere.«
Nicci sah die beiden nacheinander an. Gekränkt verzichteten sie auf eine Erwiderung. Victor nahm seine Arbeit wieder auf und beeilte sich, mit dem Fesseln ihrer Handgelenke fertig zu werden, dann zog er ein Messer aus seinem Stiefelschaft und kappte die überstehenden Enden des Stricks. »Wer soll Euch zu den wartenden Soldaten bringen?«, fragte Ishaq. »Ich denke, am besten du selbst, Ishaq. Während Victor alle in Alarmbereitschaft versetzt und sich um die Vorbereitungen kümmert, wirst du einen Vertreter des Bürgermeisters mimen.«
Er kratzte sich an der Wange, für einen Moment verunsichert. »Na schön«, gab er sich schließlich geschlagen. »Gut.« Sie nahm die Zügel auf, aber ehe sie noch etwas hinzufügen konnte, räusperte sich Victor geräuschvoll. »Da wäre noch etwas, über das ich mit Euch schon seit geraumer Zeit reden wollte. Aber da wir beide so beschäftigt waren ...«
Ganz gegen seine Art wich er ihrem Blick aus.
»Was gibt es denn?«, fragte sie.
»Na ja, normalerweise würde ich ja meinen Mund halten, aber ich denke, Ihr solltet es wissen.«
»Was wissen?«
»Die Leute beginnen allmählich, an Richard zu zweifeln.«
Nicci runzelte die Stirn. »Sie zweifeln an ihm? Was soll das heißen?«
»Es ist durchgesickert, warum er die Stadt verlassen hat. Die Leute befürchten, er könnte sie und ihre Sache zugunsten dieser Hirngespinste aufgegeben haben. Es werden immer mehr Zweifel laut, ob man einem solchen Mann noch folgen sollte. Es wird bereits gemunkelt, dass er ... dass er, Ihr wisst schon, geistesgestört ist oder so. Was soll ich ihnen sagen?«
Nicci holte tief Luft und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Genau das hatte sie befürchtet, es war einer der Gründe, weshalb sie es für so wichtig gehalten hatte, dass er nicht fortging – und schon gar nicht unmittelbar vor dem Angriff.
Sie beugte sich zu Victor hinüber und sagte: »Erinnere sie daran, dass Lord Rahl ein Zauberer ist, und Zauberer sind imstande, gewisse Dinge – verborgene, noch ferne Gefahren etwa – zu erkennen, die sie nicht sehen können. Zauberer laufen nicht herum und erklärten den Leuten ihre Handlungsweise. Zudem hat ein Lord Rahl zahlreiche Verpflichtungen, nicht nur für diese eine Stadt. Wenn die Menschen hier in Freiheit leben und über ihr Leben selbst bestimmen wollen, dann müssen sie sich aus freien Stücken dafür entscheiden und darauf vertrauen, dass Richard, als Lord Rahl und Zauberer, das tut, was unserer Sache am förderlichsten ist.«
»Und – glaubt Ihr etwa daran?«, fragte der Schmied.
»Nein. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. Ich kann die Ideale, die er mir aufgezeigt hat, befolgen und mich gleichzeitig darum bemühen, ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Diese zwei Dinge sind durchaus nicht unvereinbar. Das Volk dagegen muss seinem Anführer blind vertrauen. Wenn es ihn aber für einen Wahnsinnigen hält, könnte es passieren, dass sie sich auf ihre Ängste berufen und alles hinschmeißen – ein Risiko, das wir ausgerechnet jetzt nicht eingehen können. Ob Richard wirklich verrückt ist oder nicht, ändert nichts an der Richtigkeit unseres Anliegens. Wahrheit bleibt Wahrheit – ob mit Richard oder ohne ihn. Diese Truppen, die auf dem Weg hierher sind, um uns alle zu ermorden, sind real. Obsiegen sie, werden die Überlebenden wieder von der Imperialen Ordnung als Sklaven unterjocht. Ob Richard nun lebendig ist oder tot, bei klarem Verstand oder wahnsinnig, ändert daran nicht das Geringste.«
Victor nickte, die Arme trotzig verschränkt.
Nicci zog ihr Bein zurück und bohrte ihre Ferse in Sa’dins Flanke, um seinen Körper näher an die Mauer heranzulenken, dann drehte sie dem neben ihr auf der Mauer stehenden Schmied die Rückseite ihrer Schultern zu. »Zieh mir das Kleid herunter bis zur Hüfte, und beeil dich bitte – in Kürze wird die Sonne untergehen.«
Kopfschüttelnd wandte sich Ishaq ab.
Victor zögerte einen Moment, dann stieß er einen resignierten Seufzer aus und tat, worum sie ihn gebeten hatte. »In Ordnung, Ishaq, du kannst jetzt loslassen. Geh voraus.« Sie warf einen Blick über die Schulter auf Victor. »Ich werde euch die Feinde bringen, sie werden der untergehenden Sonne hinterher jagen.«
»Und was soll ich den Männern nun sagen?«, wollte Victor wissen. »Sag ihnen, sie sollen düstere Gedanken voller Hass und Gewalt fassen.«
Und zum allerersten Mal verzog sich Victors finsteres Gesicht zu einem grimmigen Lächeln.