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Die schwere, paneelierte Tür öffnete sich einen Spalt weit, und Rikka steckte ihren Kopf in den stillen Raum hinein. »Es kommt jemand zur Burg herauf.«

»Wisst Ihr denn auch, wer?«, fragte Nicci, während sie sich aus einem gepolsterten Bibliotheksstuhl erhob. Rikka schüttelte den Kopf. »Zedd meinte eben nur, die Schilde hätten ihm angezeigt, dass jemand die Straße heraufkommt, und da dachte ich, Ihr solltet Bescheid wissen. Eins sag ich Euch, ich kriege noch eine Gänsehaut von all der Magie, die an diesem Ort umherschwirrt.«

»Ich werde Richard holen gehen.«

Rikka nickte, dann verschwand sie wieder durch die Tür. Nicci stellte das Buch, in dem sie gelesen hatte – einen zähen Bericht über die Vorgänge in der Burg der Zauberer während des Großen Krieges –, wieder zurück an seinen Platz in den endlosen Reihen der Mahagoniregale, welche die ruhige Bibliothek füllten. Sie fand es ziemlich seltsam, über all die Menschen zu lesen, die die Burg der Zauberer einst, vor tausenden von Jahren, bevölkert hatten. Die Geschichte als solche erschien ihr völlig unzusammenhängend, es sei denn, sie machte sich ab und an bewusst, dass diese Leute von jenem Ort sprachen, an dem sie sich in diesem Moment befand. Eigentlich interessierte sie sich gar nicht sonderlich für das Buch, in dem sie gelesen hatte. Sie fand es langweilig, aber das war ihr egal, zumal es ihr ohnehin nur als Zeitvertreib diente. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, sich auf etwas zu konzentrieren, das sie ganz in Anspruch nahm oder von ihr größere geistige Anstrengungen verlangte, dafür war sie mit ihren Gedanken viel zu sehr woanders. Aus dem Neumond – zu dem Zeitpunkt, als sie das Grab der Mutter Konfessor geöffnet hatten – war mittlerweile ein Vollmond geworden, der sich bereits wieder seinem letzten Viertel näherte, und noch immer hatte sich so gut wie nichts verändert. Wenige Tage nach der Exhumierung der Leiche hatte Zedd Richard versichert, dass er ihn noch immer liebe und es ihm Leid tue, so grob zu ihm gewesen zu sein, wo er sich vielleicht besser erst hätte informieren sollen, ehe er sich zu seinen Bemerkungen hinreißen ließ. Er hatte versprochen, es werde sich gewiss ein Weg finden, Richards Schwert zurückzubekommen, und alles werde sich fügen. Das mochte aufrichtig gemeint gewesen sein, es mochte sogar zutreffen, trotzdem war der Schmerz dieses ganz persönlichen Versagens für Richard nur schwer ungeschehen zu machen. Nicht nur, dass er seinen Großvater enttäuscht und verärgert hatte, er hatte auch nicht den Beweis liefern können, dass sein Fantasiegebilde tatsächlich der Wahrheit entsprach, und das, obwohl er alles auf eine Karte gesetzt hatte. Er war sich seiner Sache so sicher gewesen und hatte am Ende doch nur den Beweis geliefert, dass er sich irrte. Zedds Entschuldigung hatte er nur mit einem Nicken quittiert. Nicci bezweifelte, dass es für ihn eine große Rolle spielte, ob sich Zedd im Nachhinein etwas nachgiebiger zeigte. Er war am Ende seiner Vorstellungen, seiner Hoffnungen und Bestrebungen angelangt, und alles war umsonst gewesen. Nach jener Nacht hatte ihn aller Lebensmut verlassen.

Gleich in der ersten Nacht hatte Zedd Cara und Nicci stundenlang ausgefragt. Für Nicci war es ein Schock gewesen, von Cara zu erfahren, Shota habe behauptet, die Bestie habe sich in eine Blutbestie verwandelt, weil sie, Nicci, ihr versehentlich eine Kostprobe von Richards Ahnenblut überlassen habe. Mit Entsetzen hatte sie vernommen, dass sich die Gefahr für Richard durch ihr Verschulden angeblich sogar noch verschärft hatte. Nicht zuletzt das hatte Nicci das Gefühl ziemlicher Hoffnungslosigkeit – und Hilflosigkeit – gegeben. Die Imperiale Ordnung wütete ungehindert durch die Neue Welt, die Bestie machte Jagd auf Richard, und er war, gelinde gesagt, bestenfalls ein Schatten seiner selbst. Die langen Tage seit der Öffnung des Grabes, als er auf die bittere Wahrheit gestoßen war, hatte Richard meist abgeschieden für sich verbracht – die einzige Ausnahme war Cara, die sich, nachdem sie Zedds ermüdende Fragen über alles, was sie über das Geschehen bei Shota wusste, beantwortet hatte, schlicht weigerte, von Richards Seite zu weichen, aus welchem Grund auch immer. Und da Richard nicht in der Stimmung war, mit irgendjemandem zu sprechen, war sie zu seinem stummen Schatten geworden. Es war seltsam, die beiden selbst in solchen Zeiten völlig ungezwungen miteinander umgehen zu sehen. Nicci hatte nicht den Eindruck, dass die beiden überhaupt miteinander sprechen mussten, um sich – mit einem Blick, einem kaum merklichen Achselzucken oder bisweilen auch ohne jeden Austausch – jederzeit zu verstehen. Angesichts seines Elends fühlte sich Nicci wie eine unwillkommene Außenseiterin, also ließ sie ihn in Ruhe. Sie hielt sich, so gut es ging, in seiner Nähe, um im Falle eines Angriffs der Bestie zur Stelle zu sein, blieb ihm ansonsten aber aus den Augen und überließ ihn seiner Einsamkeit. Die ersten vier, fünf Tage nach seiner Ankunft auf der Burg hatte Richard im Palast der Konfessoren verbracht und war dort durch die prächtigen Gemächer und das schier endlos verzweigte Gewirr von Fluren geschlendert. Während er ziellos durch den leeren Palast streifte, hielt sich Nicci unsichtbar in einem Gästezimmer des Palasts auf. Danach hatte er das Gebäude verlassen, war ein halbes Dutzend Tage durch die Stadt Aydindril gewandert und dabei durch die Straßen und Gassen geschlendert, als wollte er das bunte Treiben wieder aufleben lassen, das sie einst erfüllte. Während dieser oft den ganzen Tag währenden Spaziergänge durch die Stadt war es für Nicci erheblich schwieriger, in seiner Nähe zu bleiben. Im Anschluss daran war er noch mehrere Tage durch die Wälder in den Bergen rings um Aydindril gestreift und mitunter nicht einmal nachts zurückgekehrt. Richard war in den Wäldern zu Hause, daher hatte sie beschlossen, ihm nicht zu folgen, wusste sie doch, wie schwer es ihr gefallen wäre, ihre Anwesenheit vor Richard geheim zu halten. Einzig die magischen Bande zu ihm waren ihr ein kleiner Trost, die ihr einen ungefähren Eindruck davon vermittelten, in welcher Richtung und Entfernung er sich befand. Aber sobald er nachts einmal nicht zurückkam, lief sie, unfähig, ein Auge zuzumachen, unruhig auf und ab. Zu guter Letzt hatte ihn Zedd gebeten, doch bitte in der Burg zu bleiben, da andernfalls er selbst und Nicci die Bestie im Falle eines Angriffs kaum würden zurückhalten können. Richard hatte sich seinem Wunsch kommentar- und widerspruchslos gefügt und war während der letzten Tage, statt ziellos durch den Palast, die Stadt oder die Wälder zu streifen, über die äußeren Befestigungsanlagen geschlendert, den Blick starr in die Ferne gerichtet.

In ihrer Verzweiflung hatte Nicci ihm unbedingt irgendwie helfen wollen, doch Zedd hatte darauf beharrt, dass man nichts tun könne, als abzuwarten, ob er mit der Zeit nicht wieder zur Besinnung kommen und einsehen würde, dass er sich seine Beziehung zu Kahlan während seiner Bewusstlosigkeit nur zusammenfantasiert hatte. Nicci war jedoch nicht der Ansicht, dass die Zeit irgendetwas heilen würde. Sie war lange genug mit Richard zusammen gewesen, um zu erkennen, dass weit mehr dahintersteckte. Sie war der festen Überzeugung, dass er dringend Hilfe brauchte, doch worin die bestehen könnte, wusste auch sie nicht. Soeben eilte sie durch das endlose Labyrinth aus Fluren, durch die unbewohnten, gleichwohl prächtigen Gemächer, beschleunigte ihre Schritte sogar noch, denn aus irgendeinem Grund hatte sie plötzlich das dringende Bedürfnis, bei ihm zu sein.

Richard stand am äußersten Rand des Festungswalls, je einen Arm auf die Mauerzacken zu beiden Seiten gestützt, und starrte durch die Zinnen nach draußen. Es war, als stünde man am Rand der Welt. Getrieben von den Wolken, die sie verursachten, schoben sich graue Schattenflächen gemächlich über die tief unten liegenden Hügel und Felder.

Jedes Zeitgefühl schien ihm abhanden gekommen; jetzt, da Kahlan tot und begraben war, war nichts mehr wirklich von Bedeutung; er hatte Mühe, sich vorzustellen, warum es das jemals gewesen sein sollte. Er meinte nicht einmal mehr, sicher zu wissen, dass sie je wirklich existiert hatte. Wie auch immer, es war vorbei.

Unweit von ihm stand Cara, die sich stets in seiner Nähe aufhielt. Es hatte etwas Tröstliches, zu wissen, dass er sich in jeder Hinsicht auf sie verlassen konnte, andererseits war es mitunter auch ermüdend, sie stets um sich zu haben, nie auch nur einen Augenblick für sich allein zu haben. Er fragte sich, ob sie wohl glaubte, nahe genug zu stehen, um ihn zu packen, falls er sprang – und wusste, dass dem nicht so war.

Trübsinnig betrachtete er die winzigen, sich dicht aneinander schmiegenden Dächer der Stadt Aydindril tief unter ihm. Auf eine Weise fühlte er sich mit der Stadt verwandt, die genauso verödet war wie er. Aus beiden war jegliches Leben gewichen.

Seit dem Offnen des Grabes – noch immer brachte er es nicht über sich, nicht einmal in Gedanken, geschweige denn laut, es Kahlans Grab zu nennen – hatte er das Gefühl, dass es nichts mehr gab, wofür es sich zu leben lohnte. Wäre es möglich, allein durch Willenskraft zu sterben, er wäre längst tot, doch jetzt, da er ihn herbeisehnte, zeigte sich der Tod auf einmal von seiner scheuen Seite. Die Tage schleppten sich endlos dahin. Der Anblick der Grabstätte hatte ihm einen solchen Schock versetzt, dass sein Verstand auf der Stelle zu stocken schien; es war, als wäre ihm jegliche Denkfähigkeit abhanden gekommen. Was er einst für wahr gehalten hatte, galt nicht mehr; nichts, was er wusste, ergab noch einen Sinn. Seine Welt war auf den Kopf gestellt worden. Wie sollte er noch funktionieren, wenn er nicht mehr auseinander zu halten vermochte, was wirklich war und was nicht?

Er wusste nicht mehr weiter. Zum allerersten Mal in seinem Leben hatte ihn eine Situation so sehr verwirrt, dass er sich geschlagen gab. Früher hatte er sich stets im sicheren Gefühl geglaubt, ihm stünden eine Reihe von Möglichkeiten offen – damit war es nun vorbei. Er hatte alles versucht, was ihm eingefallen war, nichts hatte den gewünschten Erfolg gezeitigt. Er war am Ende der Fahnenstange angelangt, danach kam nichts mehr. Und die ganze Zeit sah er in Gedanken ihren Körper im Sarg liegen. Er sah, hörte und fühlte – nur denken konnte er nicht; er war außerstande, die Dinge auf sinnvolle Weise zu einem Ganzen zu fügen. Sein Zustand glich einer wandelnden, lebenden Imitation des Todes – einer schlechten, wie er fand. Welchen Sinn hatte das Leben, wenn man sich so fühlte? Er sehnte sich danach, die dunkle, ewige Umarmung des Nichts würde endlich nach ihm greifen. Er war so weit jenseits aller Schmerzen, aller Traurigkeit und allen Kummers, dass da nichts mehr war außer einer leeren, blinden und diffusen Qual, die ihn nie, nicht eine Sekunde, lange genug aus ihrem Griff entließ, um auch nur einmal durchzuatmen. In seiner Verzweiflung wünschte er sich, der Wahrheit entfliehen, ihr das Recht absprechen zu können, real zu sein, aber es gelang ihm nicht, und daran drohte er zu ersticken. Wie er so dastand und über den jähen, tausende Fuß tiefen Abgrund stierte, zerzauste ihm der den Hang heraufwehende Wind das Haar.

Welchen Nutzen hatte er noch für andere? Er hatte Zedd im Stich gelassen; er hatte Shota das Schwert der Wahrheit ohne jeden Gegenwert überlassen, und Nicci war der Meinung, er habe den Verstand verloren und sei seinen Wahnvorstellungen erlegen. Nicht einmal Cara glaubte ihm noch, jedenfalls nicht wirklich. Nur er selbst glaubte sich noch, und mit der Öffnung ihres Grabes hatte er sich eigenhändig widerlegt. Vermutlich war er tatsächlich verrückt, vermutlich hatte Nicci Recht, und alle anderen auch. Es konnte nur so sein, dass er sich das alles einbildete. Ihre Augen, ihre Blicke, mit denen sie ihn anstarrten, verrieten deutlich, dass er offensichtlich den Verstand verloren hatte.

Richard ließ seinen Blick den jähen, aus den dunklen Steinen der mächtigen Außenmauer der Burg gebildeten Abhang hinabwandern, der unter ihm tausende von Fuß bis zu den Felsen und dem Wald abfiel. Der böige Wind, der an der Außenwand emporwehte, zerrte an ihm. Es war ein Schwindel erregender Anblick, ein Schwindel erregender Abgrund.

Welchen Nutzen hatte er noch für andere, vor allem für sich selbst? Heimlich warf er einen Seitenblick auf Cara. Sie stand nah, aber nicht annähernd nah genug. Wieder blickte er in den schier bodenlosen, von der hohen Außenmauer an der Burgflanke in die Tiefe führenden Abgrund hinab, auf die felsige, mit Bäumen übersäte Landschaft, die sich unten ausbreitete. Bis dort unten war es ein langer, ein sehr langer Weg.

Er erinnerte sich, gehört zu haben, dass man kurz vor dem Tod sein ganzes Leben noch einmal an sich vorüberziehen sah.

Wenn dies tatsächlich zutraf, würde auch er jeden der kostbaren Augenblicke, die ihm mit Kahlan vergönnt gewesen waren, noch einmal durchleben.

Oder die ihm, wie er glaubte, vergönnt gewesen waren.

Es war ein sehr weiter Weg bis dort unten.

Und eine lange Zeit, all diese wunderbaren, romantischen, zärtlichen Momente noch einmal zu durchleben, jeden der kostbaren Momente aufleben zu lassen, die er mit ihr zusammen hatte verbringen dürfen.

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