Richard wirkte plötzlich angespannt und neigte sich ein kleines Stück Richtung Schmied. »Du hast Wölfe heulen hören?«
»Nein«, erwiderte Victor und legte nachdenklich die Stirn in Falten, »es war nur einer.«
Alle drei warteten schweigend, als Richard den Blick in die Ferne richtete, so als versuchte er, die Stücke eines großen Kaleidoskops in Gedanken zusammenzufügen. Nicci warf einen Blick über die Schulter zu den Männern unter dem Ahornbaum. Einige warteten gähnend, andere hatten es sich auf einem umgestürzten Baumstamm bequem gemacht. Ein paar sprachen leise tuschelnd miteinander, und wieder andere standen mit verschränkten Armen an einen Stamm gelehnt und vertrieben sich die Wartezeit damit, den umliegenden Wald im Auge zu behalten.
»Es ist gar nicht heute Morgen passiert«, sagte Richard leise bei sich. »Als ich heute Morgen aufgewacht bin und noch im Halbschlaf lag, habe ich mich in Wahrheit an etwas erinnert, das an dem Morgen passiert ist, als Kahlan verschwand.«
»An dem Morgen des Überfalls«, verbesserte ihn Nicci milde.
Richard, in Gedanken, schien ihre Berichtigung überhört zu haben. »Aus irgendeinem Grund muss ich mich daran erinnert haben, was an besagtem Morgen passiert ist, kurz nachdem ich aufgewacht war.« Unvermittelt wandte er sich herum und fasste ihren Arm. »Da hat ein Hahn gekräht, als ich zu der Bauernkate getragen wurde.«
Überrascht von seinem abrupten Themenwechsel, zumal sie nicht wusste, worauf er hinauswollte, zuckte Nicci mit den Schultern. »Schon möglich, nehme ich an. Ich erinnere mich nicht. Wieso?«
»Es ging kein Wind. Ich erinnere mich, dass ich den Hahn krähen hörte, hochschaute und über mir regungslose Äste sah. Es ging überhaupt kein Wind. Ich erinnere mich noch genau, wie totenstill es war.«
»Ihr habt Recht, Lord Rahl«, warf Cara ein. »Als ich in Victors Lager stürzte, hab ich den Rauch des Lagerfeuers senkrecht in den Himmel steigen sehen, denn es regte sich nicht das geringste Lüftchen. Ich denke, deswegen konnten wir trotz der großen Entfernung auch das Klirren von Stahl und die Schlachtrufe hören – weil nicht einmal der Hauch einer Brise verhinderte, dass die Geräusche zu uns herübergeweht wurden.«
»Vielleicht hilft Euch das weiter«, warf der Schmied ein. »Als wir Euch zu der Hütte brachten, liefen dort tatsächlich ein paar Hühner herum. Und Ihr habt Recht, ein Hahn war auch dabei, und der hat tatsächlich gekräht. Tatsache ist, wir waren bemüht, nicht entdeckt zu werden, damit Nicci genug Zeit bliebe, Euch zu heilen, und da ich Angst hatte, der Hahn könnte ungewollte Aufmerksamkeit erregen, hab ich den Männern Befehl gegeben, ihm kurzerhand die Kehle durchzuschneiden.«
Nachdem er sich Victors Schilderung angehört hatte, versank Richard, einen Finger gegen seine Unterlippe tippend, abermals in Gedanken. Offenbar war er dabei, noch ein weiteres Teil des Mosaiks in seine Betrachtung einzubeziehen. Einen Augenblick lang glaubte Nicci, er hätte sie vollständig vergessen. Sie neigte sich ein wenig näher zu ihm. »Und?«
Schließlich löste er sich blinzelnd aus seinen Gedanken und sah sie an. »Es muss sich folgendermaßen abgespielt haben: Als ich heute Morgen aufwachte, habe ich mich in Wahrheit an jenen Morgen erinnert – und dafür gibt es einen ganz bestimmten Grund. So etwas kommt vor – dass man sich an etwas erinnert, weil irgendein Detail nicht passen will. Irgendetwas muss die Erinnerung ausgelöst haben.«
»Und was sollte das gewesen sein?«, wollte Nicci wissen.
»Der Wind. An jenem Morgen ging kein Wind, und doch erinnere ich mich, als ich an jenem Morgen im trüben Licht der falschen Dämmerung aufwachte, die Zweige der Bäume sich wiegen gesehen zu haben, so als ginge eine Brise.«
Es war nicht nur sein plötzliches Interesse für den Wind, das Nicci verwirrte, sie war ernsthaft besorgt um seinen Geisteszustand. »Richard, du hattest fest geschlafen und warst eben erst aufgewacht. Es war dunkel. Wahrscheinlich hast du nur gemeint, dass die Zweige sich bewegen.«
»Vielleicht.« Das war alles, was er dazu sagte.
»Vielleicht waren es ja die anrückenden Soldaten«, schlug Cara vor. »Nein.« Er tat Caras Vorschlag mit einer gereizten Handbewegung ab. »Das war später, nachdem ich Kahlans Verschwinden bereits bemerkt hatte.«
Da weder Victor noch Cara diesen Punkt bestreiten zu wollen schienen, beschloss Nicci, ebenfalls den Mund zu halten. Richard schien das Rätsel aus seinen Gedanken zu verbannen und wandte sich mit todernster Miene an die drei.
»Schaut, ich muss euch etwas zeigen. Aber eins muss euch klar sein, auch wenn ihr womöglich nur wenig erkennen könnt, ich weiß, wovon ich rede. Ich erwarte nicht, dass ihr meinen Worten glaubt, aber trotzdem sollte euch klar sein, dass ich in diesen Dingen über lebenslange Erfahrung verfüge und es mir zur Gewohnheit geworden ist, mich dieser Fähigkeiten zu bedienen. Ich traue jedem von euch auf seinem speziellen Wissensgebiet. Dies ist meines. Also versucht bitte, euch dem, was ich euch jetzt zeigen werde, nicht zu verschließen.«
Nicci, Cara und Victor wechselten einen Blick.
Schließlich nickte Victor Richard zu, zum Zeichen, dass er seine Vorbehalte zurückstellte, und wandte sich herum zu seinen Männern. »Haltet jetzt alle mal die Augen offen.« Mit dem Finger vollführte er eine kreisende Bewegung. »Gut möglich, dass Soldaten in der Nähe sind, also lasst uns möglichst wenig Lärm machen und die Augen offen halten. Ferran, du wirst noch einmal gründlich die Gegend absuchen.«
Die Männer nickten. Sichtlich froh, etwas anderes tun zu können, als durchnässt und frierend herumzusitzen, erhoben sich einige von ihnen. Vier von ihnen verschwanden zwischen den Bäumen, um Posten aufzustellen. Einem der anderen überreichte Ferran sein Bündel und sein Bettzeug zur Aufbewahrung, dann spannte er einen Pfeil ein und verschwand lautlos im Dickicht.
Seit dem Überfall hatte Victor ständig Posten und Späher Wache stehen lassen, während Ferran mit einigen anderen das umliegende Waldgebiet erkundete. Solange Nicci noch damit beschäftigt war, Richard das Leben zu retten, hatte keiner von ihnen das Risiko eines unerwarteten Zusammenstoßes mit feindlichen Truppen eingehen wollen. Nachdem sie Richard nach besten Kräften versorgt hatte, hatte sie eine hässliche, klaffende Beinwunde geheilt und anschließend bei einem halben Dutzend Männern noch einige andere, weniger schwere Verletzungen behandelt.
Seit dem Morgen des Kampfes und Richards Verwundung hatte Nicci kaum Schlaf bekommen und war deshalb sehr erschöpft.
Nachdem er kurz zugesehen hatte, wie sich die Männer an die ihnen zugewiesenen Arbeiten machten, versetzte Victor Richard einen Klaps auf die Schulter. »Also schön, dann lasst mal sehen.«
Richard führte Cara, Victor und Nicci an der Lichtung mit den gefallenen Soldaten vorbei und anschließend tiefer in den Wald hinein. Dabei wählte er eine Strecke zwischen den Bäumen, wo das Gelände etwas offener war. Auf der Kuppe einer leichten Anhöhe blieb er stehen und ging in die Hocke. Wenn man Richard so sah, ein Knie gebeugt, den Umhang über seinen Rücken drapiert, das Schwert in der glänzenden Scheide an seiner Hüfte, die Kapuze zurückgeschlagen, sodass man die verschwitzten Haarsträhnen auf seinem muskulösen Nacken sehen konnte, Bogen und Köcher über seine linke Schulter geschnallt, bot er einen königlichen Anblick – den eines Kriegerkönigs –, und doch glich er nicht minder dem Waldführer aus einem fernen Land, der er einst war. Mit einem Gefühl fast intimer Vertrautheit strichen seine Finger über Föhrennadeln und Zweige, über die Krumen aus Laub, Rinde und Lehm. Allein schon diese Berührung vermittelte Nicci eine Ahnung von seiner umfassenden Kenntnis dieser scheinbar so einfachen Dinge, die hier wie ausgebreitet vor ihnen lagen, ihm aber offenbarte sich darin eine andere Welt. Richard besann sich darauf, was er vorhatte, und bedeutete ihnen mit einer Geste, sich unmittelbar neben ihn zu hocken.
»Hier«, sagte er und zeigte. »Seht ihr?« Behutsam zeichnete er mit dem Finger eine kaum wahrnehmbare Vertiefung im dichten Wirrwarr der Waldstreu nach. »Das ist Caras Fußabdruck.«
»Überrascht mich überhaupt nicht«, sagte Cara. »Schließlich sind wir auf unserem Weg von der Straße zu der Stelle dort hinten, wo wir unser Lager aufgeschlagen haben, hier entlanggekommen.«
»Richtig.« Er beugte sich ein Stück vor und fuhr zeigend fort. »Seht ihr, hier und dann dort drüben? Das sind weitere Fußspuren von Euch, Cara. Könnt Ihr sehen, wie sie in einer geraden Linie herführen und Euren Weg markieren?«
Sie zuckte skeptisch mit den Schultern. »Sicher.«
Er bewegte sich ein Stück hinüber nach rechts, die anderen folgten ihm. Wieder zeichnete er behutsam eine Vertiefung nach, damit sie sie erkennen konnten. Solange er die Umrisse nicht dicht über dem Boden mit dem Finger nachzeichnete, vermochte Nicci auf dem Waldboden überhaupt nichts zu erkennen, doch dann schien der Fußabdruck, wie durch Magie, vor ihren Augen Gestalt anzunehjnen. Ein Fingerzeig von ihm genügte, und schon erkannte Nicci, was es war. »Das ist mein Fußabdruck«, sagte er und fixierte ihn so fest mit dem Blick, als fürchtete er, er könnte sich in Luft auflösen, sobald er die Augen abwandte. »Der Regen bewirkt, dass sie vergleichsweise schnell undeutlich werden – an manchen Stellen mehr, an anderen weniger –, aber noch hat er sie nicht ganz verwischt.« Behutsam pflückte er mit Daumen und Zeigefinger ein regennasses braunes Eichenblatt aus der Mitte des Abdrucks. »Seht, hier drunter kann man erkennen, wie der Druck meines Körpergewichts die kleinen Zweige unter meinem Fußballen zerdrückt hat. Seht ihr? Solche Details vermag nicht einmal Regen unkenntlich zu machen.«
Er sah zu ihnen hoch, um sich zu vergewissern, dass alle Acht gaben, dann deutete er in den nebligen Dunst. »Wie ihr seht, führen meine Fußspuren in diese Richtung, auf uns zu, wie Caras auch.« Er streckte sich und zeichnete zum besseren Verständnis rasch noch zwei weitere kaum erkennbare Abdrücke in der wirren Streu des Waldbodens nach. »Seht ihr? Man kann sie noch immer erkennen.«
»Aber worauf wollt Ihr hinaus?«, fragte Victor.
Richard warf erneut einen Blick über seine Schulter, ehe er auf den Bereich zwischen den beiden Fährten deutete. »Seht ihr, wie weit Caras und meine Spuren auseinander liegen? Auf dem Weg hierher bin ich links gegangen, und Cara rechts von mir. Seht ihr, wie weit die Spuren auseinander liegen?«
»Ja, aber was besagt das?«, fragte Nicci und zog sich die Kapuze ihres Umhangs ins Gesicht, um sich gegen den eiskalten Nieselregen zu schützen, ehe sie ihre Hände unter den Umhang nahm und sie in den Achselhöhlen verbarg, um sie zu wärmen.
»Sie liegen so weit auseinander«, fuhr Richard fort, »weil auf dem Weg hierher Kahlan in der Mitte ging, zwischen uns.«
Nicci starrte abermals auf den Waldboden. Sie war keine Expertin und daher nicht sonderlich überrascht, dass sie keine weiteren Spuren erkennen konnte. Nur glaubte sie, dass auch Richard diesmal keine sah. »Und, kannst du uns nun Kahlans Spuren zeigen?«
Richard bedachte sie mit einem derart durchdringenden Blick, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb. »Genau das ist der Punkt.« Er hob einen Finger, mit der gleichen bewussten Sorgfalt, mit der er auch seine Klinge führte. »Ihre Fußspuren sind verschwunden – nicht etwa vom Regen verwischt, sondern verschwunden ... so als wären sie nie da gewesen.«
Victor stieß einen sehr leisen, sehr besorgt klingenden Seufzer aus. Falls Cara schockiert war, so wusste sie dies ausgezeichnet für sich zu behalten. Nicci wusste, dass er mit seinen Ausführungen noch längst nicht am Ende angelangt war, daher formulierte sie ihre Frage erst einmal vorsichtig. »Du willst uns also zeigen, dass von dieser Frau keine Fußspuren existieren?«
»So ist es. Ich habe mich genau umgesehen und an verschiedenen Stellen sowohl meine Fußspuren als auch die Caras gefunden, aber dort, wo Kahlans Spuren sein müssten, ist nichts zu sehen.«
Niemand mochte das beklommene Schweigen brechen, bis Nicci dies schließlich auf sich nahm. »Richard, der Grund dafür muss dir doch klar sein. Begreifst du nicht? Es ist nur dieser Traum, den du hattest. Es sind keine Spuren zu sehen, weil diese Frau nicht existiert.«
Wie er jetzt vor ihr kniete, den Blick zu ihr erhoben, hatte sie das Gefühl, ihm durch seine grauen Augen bis auf den Grund seiner entblößten Seele blicken zu können. In diesem Moment hätte sie fast alles dafür gegeben, ihm einfach nur Trost spenden zu können. Aber das durfte sie nicht, sie musste sich zwingen fortzufahren. »Du bist, nach deinen eigenen Worten, ein erfahrener Spurenleser, und doch ist es dir nicht möglich, von dieser Frau hinterlassene Fußspuren zu finden. Damit sollte die Angelegenheit eigentlich geklärt sein, das sollte dich endlich davon überzeugen, dass sie schlicht nicht existiert – niemals existiert hat.« Sie zog eine Hand unter ihrem Umhang hervor, aus ihrem wärmenden Versteck, und legte sie ihm auf die Schulter, bemüht, ihre Worte abzumildern. »Du musst dir das aus dem Kopf schlagen, Richard.«
Er wich ihrem Blick aus und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Ganz so einfach, wie du es zeichnest, stellt sich das Bild nicht dar«, erwiderte er ruhig. »Ich möchte euch alle bitten, genau hinzusehen – einfach nur hinzusehen – und zu versuchen, die Bedeutung dessen zu begreifen, was ich euch zeige. Betrachtet den großen Abstand zwischen Caras und meinen Fußspuren. Seht ihr denn nicht, dass noch eine dritte Person zwischen uns gelaufen sein muss? Ich glaube, dass Kahlans Spuren mit Magie ausgelöscht wurden.«
»Magie?«, fragte Cara übellaunig und plötzlich auf der Hut.
»Ja. Ich glaube, wer immer Kahlan entführt hat, hat ihre Spuren mittels Magie ausgelöscht.«
Nicci war sprachlos und machte keinerlei Anstalten, dies zu verbergen. Victors Blick wanderte zwischen Nicci und Richard hin und her. »Ist so etwas überhaupt möglich?«
»Durchaus«, beharrte Richard. »Als ich Kahlan das erste Mal begegnete, machte Darken Rahl Jagd auf uns, er war uns bereits dicht auf den Fersen. Zedd, Kahlan und ich mussten überstürzt fliehen. Hätte Darken Rahl uns gefasst, wären wir erledigt gewesen. Zedd ist zwar ein Zauberer, trotzdem bei weitem nicht so mächtig, wie Darken Rahl es damals war, also streute er etwas magischen Staub hinter uns auf den Pfad, um unsere Spuren zu verbergen. Dasselbe muss auch hier geschehen sein. Wer immer Kahlan entführt hat, hat ihre Spuren mithilfe von Magie unsichtbar gemacht.«
Victor und Cara sahen Bestätigung heischend zu Nicci. Victor war als Schmied ebenso wenig mit Magie vertraut wie die Mord-Sith, die Magie zutiefst verabscheute und es bewusst vermied, sich mit den Einzelheiten ihrer Funktionsweise vertraut zu machen.
Nicci zögerte. Gewiss, sie war eine Hexenmeisterin, aber das bedeutete nicht, dass sie alles wusste, was es über Magie zu wissen gab. Trotzdem ...
»Ich nehme an, theoretisch ist es wohl möglich, Magie auf diese Weise zu benutzen, allerdings habe ich noch nie gehört, dass jemand es versucht hätte.« Sie zwang sich, Richards erwartungsvollen Blick zu erwidern. »Ich denke, es gibt eine viel einfachere Erklärung für das Fehlen dieser Spuren, und ich denke, das weißt du, Richard.«
Richard vermochte seine Enttäuschung nicht zu verhehlen. »Wenn man es für sich betrachtet und mit dem Wesen von Spuren und was sie offenbaren, nicht vertraut ist, dann fällt es zugegebenermaßen schwer zu verstehen, was ich meine. Aber das ist noch nicht alles. Ich möchte euch noch etwas zeigen, das euch möglicherweise hilft, das Bild in seiner Gesamtheit zu erkennen. Kommt mit.«
»Lord Rahl.« Cara stopfte eine nasse Strähne ihres Haars zurück unter die Kapuze ihres dunklen Umhangs und vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. »Sollten wir uns jetzt nicht endlich wichtigeren Dingen widmen?«
»Es gibt etwas Wichtiges, das ich euch dreien zeigen muss. Oder soll das etwa heißen, dass Ihr hier warten wollt, während ich es Victor und Nicci zeige?«
Sie sah aus ihren blauen Augen zu ihm hoch. »Natürlich nicht.«
»Ausgezeichnet. Gehen wir.«
Ohne ein weiteres Wort des Protests folgten sie ihm mit forschen Schritten, als er in nördlicher Richtung losmarschierte, tiefer in den Wald hinein. Auf Zehenspitzen von Fels zu Fels springend, durchquerten sie eine breite, von dunklen Rinnsalen trüben Wassers durchzogene Senke. Einmal wäre Nicci beinahe abgerutscht und gestürzt, doch Richard bekam ihre Hand zu fassen und half ihr hinüber. Wenigstens fühlte sich seine große Hand nur warm und nicht fiebrig an. Sie wünschte, er würde das Tempo etwas drosseln und seine noch immer angeschlagene Gesundheit nicht überstrapazieren.
Der sachte Anstieg auf der anderen Seite gab sich erst nach und nach zu erkennen, als sie durch Nieselregen und niedrig hängende Wolkenfetzen immer höher gelangten. Links von ihnen erhob sich der dunkle Schatten einer steilen Felswand. Nicci konnte das Rauschen eines Sturzbachs hören, dessen Wasser die Wand herabstürzten. Als sie tiefer in die grauen Nebelschwaden und die dichte grüne Vegetation vordrangen, schwangen sich riesige Vögel von ihren hohen Sitzen auf; mit weit gespreizten Schwingen glitten die wachsamen Geschöpfe lautlos außer Sicht. Grelle Schreie unsichtbarer Tiere hallten durch den düsteren Wald. Wegen der Unmenge einander überlappender Fichten- und Tannenzweige und des Gewirrs aus Ästen abgestorbener und mit zarten Moosen behangener Eichen, ganz zu schweigen von dem trüben Nieselregen, den Schlingpflanzen und dem dichten Unterholz aus jungen Bäumen, die sich zum unwirklichen Licht emporzuranken versuchten, war es nicht eben leicht, weit zu sehen. Lediglich näher über dem Waldboden, wohin nur selten ein Sonnenstrahl fiel, war der Bewuchs spärlicher.
Tiefer im regengetränkten Wald ragten dunkle Baumstämme aus dem Unterholz und dichten Laub hervor, Wachposten gleich, die die vier Personen auf ihrem Weg vorbei an der wie zum Appell angetretenen Armee beobachteten. Schließlich führte Richard sie in ein Gelände, wo das Vorankommen leichter war, denn es war offener und der Boden mit einer weichen, ausgedehnten Schicht aus Föhrennadeln bedeckt. Nicci vermutete, dass hier selbst an sonnigen Tagen nur zarte Streifen des Sonnenlichts bis auf den Waldboden vordrangen. Zu beiden Seiten erblickte sie da und dort nahezu undurchdringliches Unterholz und dicht miteinander verwobene Reihen junger Koniferen. Die freie Fläche unter den hoch aufragenden Föhren bildete einen natürlichen, wenn auch unmarkierten Pfad. Zu guter Letzt blieb Richard stehen und breitete die Arme zu den Seiten aus, um zu verhindern, dass sie an ihm vorbeigingen. Vor ihnen breitete sich die gleiche Landschaft aus wie zuvor: spärliches Grün, das aus der dichten Schicht brauner Nadeln hervorwucherte. Sie leisteten seiner Aufforderung Folge und gingen neben ihm in die Hocke.
Richard deutete über seine rechte Schulter. »Dort hinten liegt die Stelle, wo Cara, Kahlan und ich an dem Abend, als wir unser Lager aufschlugen, den Wald betraten – ganz in der Nähe der Stelle, wo es zum Kampf kam. An mehreren Punkten rings um das Lager kann man noch Spuren meiner zweiten Wache sowie von Caras dritter Wache erkennen. Kahlan hatte in jener Nacht die erste Wache übernommen, aber davon existieren keine Spuren.«
Sein Blick, mit dem er einen nach dem anderen ansah, war eine stumme Bitte, ihn erst ausreden zu lassen, ehe sie zu widersprechen begannen.
»Dort drüben«, fuhr er fort und zeigte, »war die Stelle, wo die Soldaten durch den Wald heraufgestiegen kamen. Aus dieser Richtung dort drüben, Victor, bist du mit deinen Männern gekommen, um dich in die Schlacht zu stürzen. Fast an derselben Stelle befinden sich deine Spuren vom Transport meiner Wenigkeit zu der Bauernkate. Dort hinten, ich habe es euch bereits gezeigt, sind die Spuren von den anderen Soldaten zu sehen, die erst später eintrafen und ihre Kameraden tot vorfanden. Zu keinem Zeitpunkt war, weder von uns noch von den Soldaten, jemand hier oben. Hier, an der Stelle, an der wir uns jetzt befinden, sind keinerlei Spuren zu sehen. Überzeugt euch selbst, ihr werdet nur meine frischen Spuren von heute Morgen finden, als ich mich hier umgesehen habe. Davon abgesehen gibt es keine Fußspuren von irgendjemandem, der diese Stelle passiert hätte – tatsächlich deutet nichts darauf hin, dass überhaupt schon einmal jemand hier gewesen ist. Es hat zumindest den Anschein, als hätte noch nie jemand seinen Fuß auf dieses Fleckchen Wald gesetzt.«
Gelangweilt rieb Victor mit dem Daumen über den Stahlschaft der Keule, die an seinem Gürtel hing. »Aber offenbar teilt Ihr diese Ansicht nicht?«
»So ist es. Obwohl nirgendwo Spuren zu sehen sind, hat jemand diese Stelle passiert. Und dieser Jemand hat Spuren hinterlassen.« Richard beugte sich vor und berührte mit dem Finger einen glatten Stein von der ungefähren Größe eines halben Brotlaibs. »Er ist nämlich, als er hier vorüberhastete, über diesen Stein gestolpert.«
Die Geschichte schien Victor in ihren Bann gezogen zu haben. »Woran könnt Ihr das erkennen?«
»Sieh dir die Markierungen auf dem Stein genau an.« Als Victor sich daraufhin vorbeugte, zeigte Richard es ihm. »Siehst du, hier, wo die Oberseite des Steins Wind und Wetter ausgesetzt war, weist sie die blassen, bräunlich-gelben Flecken von Flechten und Ähnlichem auf. Hier dagegen kann man – ganz ähnlich einem Bootsrumpf unterhalb der Wasserlinie – die dunkelbraune, feuchte Erde erkennen, die anzeigt, bis wohin die Unterseite des Steins in der Erde gelegen hat. Nur liegt er jetzt eben nicht mehr so da, er hat sich ein wenig aus der Vertiefung gelöst und wurde halb auf die Seite gedreht. Siehst du, ein Teil der dunklen Unterseite liegt jetzt frei. Hätte er sich bereits vor längerer Zeit aus dem Boden gelöst, wäre die dunkle Verfärbung weggetrocknet, und die Flechten hätten auch hier bereits zu wachsen begonnen. Aber offenbar war dafür noch nicht genug Zeit. Folglich ist der Stein erst vor kurzem bewegt worden.«
Richard bewegte seinen Finger hin und her. »Betrachte den Waldboden hier, auf dieser Seite des Steins. Man kann die Vertiefung erkennen, wo der Stein ursprünglich lag, aber jetzt ist der Stein ein wenig nach hinten gestoßen worden, wodurch ein Zwischenraum zwischen dem Stein und dem Rand der Vertiefung entstanden ist. Da der Stein erst kürzlich bewegt wurde, kann man auf der hinteren, uns ab gewandten Seite noch einen Erdrand sowie einen Laubrest und kleine Zweige erkennen, die nach oben gedrückt worden sind. Die freigelegte Mulde auf dieser Seite sowie der Rand gegenüber belegen, dass, wer immer über diesen Stein gestolpert ist, sich von unserem Lager in nördlicher Richtung entfernt hat.«
»Aber wo sind dann seine Spuren?«, fragte Victor. »Seine Fußabdrücke?«
Richard fuhr sich mit den Fingern durch sein nasses Haar. »Die Spuren sind mithilfe von Magie ausgelöscht worden. Ich habe alles abgesucht, es existieren keine Fußspuren. Betrachtet den Stein. Obwohl er bewegt und teilweise aus seiner Vertiefung im Waldboden getreten wurde, weist er keinerlei Schürfspuren auf. Ein Stiefel, der ihn hart genug streift, um ihn in dieser Weise zu bewegen, hätte Kratzer hinterlassen müssen, doch die gibt es ebenso wenig wie weitere Fußspuren.«
Nicci schlug ihre Kapuze zurück. »Du verdrehst alles, was du findest, so lange, bis es zu dem passt, was du gerne glauben möchtest, Richard. Aber beides gleichzeitig geht nicht. Wenn seine Fährte mit Magie ausgelöscht wurde, wie kommt es dann, dass du sie dennoch anhand dieses Steins aufspüren kannst?«
»Vermutlich, weil die verwendete Magie nur die Fußspuren auslöscht. Wer immer diese Magie angewendet hat, kann sich unmöglich gut mit Fährten oder Fährtenlesen auskennen. Meiner Meinung nach ist der Betreffende mit der Welt draußen, in der freien Natur, nicht sonderlich vertraut. Als diese Leute ihre Fußspuren mithilfe von Magie verwischten, haben sie vermutlich gar keinen Gedanken darauf verwendet, verschobene Steine wieder in ihre ursprüngliche Lage zu bringen.«
»Richard, bestimmt...«
»Seht Euch doch um«, forderte er sie mit einer ausladenden Armbewegung auf. »Seht doch, wie absolut perfekt der Waldboden aussieht.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«, fragte Victor.
»Er ist zu perfekt. Zweige, Blätter, Rinde, das alles ist viel zu gleichmäßig verteilt. Die Natur ist viel unberechenbarer.«
Nicci, Victor und Cara starrten auf den Boden. Nicci konnte nichts weiter als einen ganz normal aussehenden Waldboden erkennen; da und dort sprossen kleine Pflänzchen – Föhrensämlinge, in die Höhe schießendes Unkraut oder ein Eichenspross mit gerade mal drei großen Blättern – aus der sich aus Zweigen, Moos, Rinde und totem, über dem Bett aus Föhrennadeln verteiltem Laub zusammensetzenden Waldstreu. Ihre Kenntnisse über Spuren, Spurenlesen und den Wald insgesamt waren nicht sonderlich ausgeprägt – wenn er wollte, dass sie seiner Spur folgen konnte, markierte er die Bäume stets mit Kerben –, aber nichts deutete darauf hin, dass jemand diese Stelle passiert hatte, noch wirkte der Waldboden übermäßig perfekt, wie Richard behauptete. »Seht Euch die Vertiefung an, sie ist noch immer deutlich ausgeprägt«, fuhr Richard fort. »Anhand des Erosionsgrads der Ränder lässt sich ermitteln, dass es erst vor wenigen Tagen passiert ist. Die Zeit lässt diese Ränder erodieren vor allem bei Regen – und bewirkt, dass die Vertiefung sich füllt. Wäre ein Reh oder Elch gegen diesen Stein getreten, hätten sie Spuren hinterlassen, die genauso frisch wären. Und nicht nur das, ein Huf hätte, ebenso wie ein Stiefel, Kratzspuren hinterlassen. Lasst Euch gesagt sein, vor drei Tagen ist jemand über diesen Stein gestolpert.«
Nicci gestikulierte. »Aber dieser abgestorbene Ast dort drüben hätte doch auf ihn gefallen sein und ihn aus seiner Lage gebracht haben können.«
»In diesem Fall hätte der Aufprall in der auf dem Stein wachsenden Flechte eine Kerbe hinterlassen, und der Ast wiese irgendwelche Spuren auf, dass er gegen etwas Hartes geprallt ist. Aber das ist nicht der Fall – ich habe bereits nachgesehen.«
Cara warf die Hände in die Luft. »Vielleicht ist ein Eichhörnchen von einem Baum herab gesprungen und auf dem Stein gelandet.«
»Es wäre nicht annähernd schwer genug gewesen, um den Stein zu bewegen«, widersprach Richard. Ermattet holte Nicci Luft. »Du behauptest also, die Tatsache, dass es von dieser Frau, Kahlan, keine Spuren gibt, beweist ihre Existenz.«
»Nein, das behaupte ich keineswegs, jedenfalls nicht so, wie Ihr es formuliert. Aber wenn man alles zusammen betrachtet und man erkennt, wie die Dinge zusammenhängen, dann bestätigt diese Tatsache genau das.«
Nicci spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Das ist lächerlich. Alles, was du uns gezeigt hast, Richard, beweist lediglich, dass diese Frau, die du dir einbildest, nichts weiter ist als eben das –ein Produkt deiner Einbildung. Sie existiert nicht, und sie hat auch keine Spuren hinterlassen – weil du sie nur geträumt hast. An der ganzen Geschichte ist überhaupt nichts rätselhaft, und sie hat auch nichts mit Magie zu tun, es ist einfach nur ein Traum!«
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Richard plötzlich mit leise warnender Stimme, ohne auf Niccis Worte einzugehen.
Sofort schnellte Caras Strafer in ihre Faust. Victors Züge strafften sich, während seine Hand zu der an seinem Gürtel hängenden Keule ging.
In der Ferne jenseits des tröpfelnden Waldes vernahm Nicci das unvermittelte heftige Warngeschrei von Raben. Die Schreie, die darauf antworteten, erinnerten sie an nichts so sehr wie an das Gebrüll eines blutigen Gemetzels.