Richard kniete neben seinem Bettzeug nieder und begann, Kleidungsstücke in sein Bündel zu stopfen. Der kalte Nieselregen, den er durch das kleine Fenster sehen konnte, machte nicht den Anschein, als würde er in Kürze aufhören, daher ließ er seinen Umhang draußen.
»Was glaubst du eigentlich, was du da tust?«, fragte Nicci.
Er sah in der Nähe ein Stück Seife liegen und hob es auf. »Wonach sieht es denn aus?«
Viel zu viel Zeit war bereits verloren, mehrere Tage schon, und das, obwohl er keine Zeit zu vergeuden hatte. Er stopfte das Stück Seife, einige Büschel getrocknete Kräuter und Gewürze sowie einen Beutel mit getrockneten Aprikosen ganz nach unten in das Bündel, ehe er mit hastigen Bewegungen sein Bettzeug zusammenrollte. Cara hatte es aufgegeben, ihn auszufragen oder Einwände vorzubringen, und ging stattdessen daran, ihre eigenen Sachen zusammenzupacken.
»Das habe ich nicht gemeint, wie du sehr wohl weißt.« Nicci kniete neben ihm nieder, nahm seinen Arm und zog ihn herum, sodass er gezwungen war, ihr ins Gesicht zu sehen. »Du kannst nicht einfach gehen, Richard, du musst dich ausruhen. Ich hab dir doch gesagt, du hast eine Menge Blut verloren. Du bist noch viel zu geschwächt, um irgendwelchen Hirngespinsten nachzujagen.«
Er verkniff sich eine unwirsche Erwiderung und zog mit einem Ruck den Lederriemen um sein Bettzeug zusammen. »Ich fühle mich prächtig.« Das war natürlich gelogen, aber er fühlte sich immerhin ganz passabel. Als er die zweite Schnur festzurrte, schnappte sie sich entschlossen eine Hand voll seines Hemdes. »Du begreifst noch gar nicht, wie geschwächt du in Wahrheit bist, Richard. Du bringst dein Leben in Gefahr. Du brauchst dringend Ruhe, damit dein Körper sich erholen kann. Du hattest nicht annähernd genug Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen.«
»Und wie viel Zeit hatte Kahlan?« In einer Mischung aus Wut und Verzweiflung packte er Niccis Oberarm und zog sie zu sich heran. »Sie ist irgendwo da draußen und steckt in Schwierigkeiten. Ihr weigert Euch, das einzusehen, Cara weigert sich, das einzusehen, aber ich nicht. Glaubt Ihr wirklich, ich könnte einfach hier herumliegen, wenn der Mensch, den ich mehr liebe als irgendetwas auf der Welt, in Gefahr ist? Wärt Ihr in Schwierigkeiten, Nicci, würdet Ihr dann wollen, dass ich Euch so leicht verloren gebe? Würdet Ihr nicht wollen, dass ich es wenigstens versuche? Ich weiß nicht, was passiert ist, aber irgendetwas ist passiert. Wenn ich Recht habe – und ich habe Recht –, dann vermag ich die Bedeutung dessen nicht einmal ansatzweise abzuschätzen, geschweige denn mir die Folgen auszumalen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nun, falls Ihr Recht habt, dann bilde ich mir nur irgendwelche Dinge ein, die ich geträumt habe. Aber wenn ich Recht habe – und es ist ziemlich nahe liegend, dass Ihr und Cara nicht derselben Geistesstörung zum Opfer gefallen sein könnt –, dann müsste das bedeuten, dass das, was auch immer derzeit geschieht, einen Grund hat, und der ist bestimmt nicht angenehm.«
Der Gedanke schien Nicci so zu verstören, dass sie kein Wort hervorbrachte. Richard ließ sie los und wandte sich herum, um die Lasche seines Bündels festzuzurren.
Schließlich fand Nicci ihre Stimme wieder. »Begreifst du nicht, was du tust, Richard? Du fängst an, abwegige Vorstellungen zu entwickeln, um das zu rechtfertigen, was du selbst gern glauben möchtest. Du hast es selbst gesagt – Cara und ich können nicht derselben Geistesstörung zum Opfer gefallen sein. Bleib hier und ruh dich aus. Wir können versuchen, das Wesen dieses Traumes zu ergründen, der in deinem Verstand so hartnäckig Wurzeln geschlagen hat, und ihn hoffentlich wieder richten. Vermutlich habe ich selbst ihn durch irgendetwas ausgelöst, als ich dich zu heilen versuchte. Wenn dem so ist, dann tut es mir Leid. Bitte, Richard, bleib erst einmal hier.«
Ihr einziges Interesse galt ausschließlich dem, was sie als das Problem betrachtete. Schon sein Großvater Zedd, der Mann, der ihn großzuziehen geholfen hatte, hatte damals oft gesagt: Denk nicht über das Problem, sondern über seine Lösung nach. Die Lösung, auf die er sich jetzt konzentrieren musste, war, wie Kahlan gefunden werden konnte. Er wünschte sich, auf Zedds Hilfe zurückgreifen zu können, um das Rätsel ihres derzeitigen Aufenthaltsortes zu lösen.
»Du bist noch immer ernsthaft in Gefahr«, beharrte Nicci, während sie den durch das löchrige Dach sickernden Regentropfen auswich. »Jede übermäßige Anstrengung könnte verhängnisvolle Folgen haben.«
»Dessen bin ich mir bewusst – wirklich.« Richard prüfte das Messer, das er im Gürtel trug, und schob es wieder in seine Scheide zurück. »Jedenfalls habe ich nicht die Absicht, Euren Rat in den Wind zu schlagen. Ich werde mich, so gut es irgend geht, schonen.«
»Richard, hör mir zu.« Nicci rieb sich die Schläfen mit den Fingerspitzen, als hätte sie Kopfschmerzen. »Es geht um mehr als das.«
Sie suchte nach den passenden Worten. »Du bist nicht unbesiegbar. Du magst vielleicht dieses Schwert tragen, aber immer kann es dich auch nicht schützen. Deine Vorfahren – und zwar jeder einzelne deiner Vorgänger im Amt des Lord Rahl – haben sich darüber hinaus stets mit Leibwächtern umgeben, und das, obwohl sie ihre Gabe meisterlich beherrschten. Du magst mit der Gabe geboren sein, aber selbst wenn du sie angemessen zu gebrauchen wüsstest, könnte dir diese Macht keinen sicheren Schutz gewähren – erst recht nicht jetzt. Der Bolzen hatte lediglich den Zweck, dir zu zeigen, wie verwundbar du tatsächlich bist. Du magst ein bedeutender Mann sein, Richard, aber du bist nur ein Mann. Wir alle sind auf dich angewiesen, Richard unbedingt.«
Der gequälte Ausdruck in Niccis blauen Augen bewog Richard, den Kopf abzuwenden. Natürlich war er sich seiner Verwundbarkeit sehr wohl bewusst. Das Leben war sein höchstes Gut, er betrachtete es nicht als Selbstverständlichkeit. Er beschwerte sich so gut wie nie, dass Cara nicht von seiner Seite wich. Sie und die übrigen Mord-Sith, aber auch alle anderen Leibwächter, die er geerbt hatte, hatten mehr als einmal ihre Nützlichkeit bewiesen, was aber nicht bedeutete, dass er hilflos war oder sich erlauben durfte, aus falsch verstandener Vorsicht das Notwendige zu unterlassen.
Mehr noch, allmählich dämmerte ihm, worauf Nicci eigentlich anspielte. Während seiner Zeit im Palast der Propheten hatte er die Erfahrung gemacht, dass ihn die Schwestern des Lichts für einen Mann hielten, der zutiefst in uralte Prophezeiungen verstrickt war – er war für sie ein Dreh- und Angelpunkt des historischen Geschehens.
Wenn ihre Seite über die dunklen Mächte triumphieren wollte, die gegen sie angetreten waren, dann war dies nach Ansicht der Schwestern nur möglich, wenn Richard sie zum Sieg führte. Ohne ihn, so die Prophezeiungen, würde alles verloren sein. Ihre Prälatin, Annalina, hatte einen Großteil ihres Lebens darauf verwendet, die Ereignisse dahingehend zu manipulieren, dass sein Überleben gesichert war und er heranwachsen und sie in diesen Krieg führen konnte. Wenn man sie reden hörte, dann ruhten die Hoffnungen für alles, was ihnen lieb und teuer war, auf seinen Schultern. Dankenswerterweise hatte zumindest Kahlan ihren Übereifer in diesem Punkt ein wenig gedämpft. Trotzdem wusste er, dass viele noch immer dieser Betrachtungsweise anhingen. Er wusste auch, dass seine Führerschaft in großen Teilen der Bevölkerung den Wunsch nach einem Leben in Freiheit geweckt hatte. Soweit es ihn persönlich betraf, hatten sich die Prophezeiungen jedoch als wenig hilfreich, ja oftmals als höchst problematisch erwiesen. Richard zwang sich zu einem Lächeln. »Nicci, jetzt klingt Ihr wie eine Schwester des Lichts.« Das schien sie nicht zu amüsieren. »Cara wird mir zur Seite stehen«, versuchte er, ihre Besorgnis auszuräumen. Die Worte waren kaum heraus, da wurde ihm bewusst, dass selbst Caras Gegenwart den Pfeil nicht hatte aufhalten können, der ihn niedergestreckt hatte. Und wenn er es sich recht überlegte, wo war sie während des Kampfes überhaupt gewesen? Er konnte sich nicht erinnern, sie an seiner Seite gesehen zu haben. Dabei scheute sie keinen Kampf; nicht einmal zehn Pferde würden sie davon abhalten können, ihn zu beschützen. Bestimmt war sie ganz in seiner Nähe gewesen, er erinnerte sich nur einfach nicht daran, sie gesehen zu haben. Er nahm seinen breiten ledernen Übergurt auf und schnallte ihn um. Dieser Gürtel, wie auch die anderen Teile seines Anzugs, der einst einem mächtigen Zauberer gehört hatte, stammte aus der Burg der Zauberer, wo Zedd derzeit Stellung bezogen hatte, um sie vor Kaiser Jagang und seinen aus der Alten Welt anrückenden Horden zu beschützen.
Nicci stieß einen ungeduldigen Seufzer aus – und gewährte damit Einblick in ihre strenge und unversöhnliche Seite, die Richard nur zu gut kannte, die sich aber diesmal, wie er sehr wohl wusste, aus ihrer aufrichtigen Sorge um sein Wohlergehen speiste.
»Richard, wir können uns dieses Durcheinander einfach nicht leisten. Es gibt wichtige Dinge, über die wir dringend sprechen müssen. Nur deswegen habe ich dich überhaupt aufgesucht. Hast du meinen Brief etwa nicht erhalten?«
Richard stutzte. Brief... Brief ... Dann endlich fiel es ihm wieder ein. »Doch, ich habe Euren Brief bekommen. Ich habe Euch sogar eine Antwort zukommen lassen – durch einen Soldaten, den Kahlan mit ihrer Kraft berührt hatte.«
Richard erhaschte Caras kurzen Seitenblick auf Nicci – einen überraschten Blick, der besagte, dass sie sich an nichts dergleichen erinnern könne.
Nicci taxierte ihn mit einem sonderbaren Blick. »Die Antwort, die du mir geschickt hast, ist nie bei mir angekommen.«
Leicht überrascht machte Richard eine Handbewegung Richtung Neue Welt. »Der Mann hatte vorrangig den Auftrag, nach Norden zu gehen und Kaiser Jagang zu eliminieren. Er war von der Kraft einer Konfessorin berührt worden und wäre eher gestorben, als ihren Befehl zu missachten. Aber vermutlich kann ihm ebenso gut schon vorher etwas zugestoßen sein. In der Alten Welt gibt es Gefahren genug.«
Der Ausdruck auf Niccis Gesicht gab ihm das Gefühl, ihr soeben einen weiteren Beweis dafür geliefert zu haben, dass er drauf und dran war, den Verstand zu verlieren. »Glaubst du allen Ernstes, selbst in deinen kühnsten Träumen, der Traumwandler wäre so leicht zu eliminieren?«
»Nein, natürlich nicht.« Er stopfte den Kochtopf, der sein Bündel ausbeulte, wieder zurück an seinen Platz. »Wir sind davon ausgegangen, dass der Soldat vermutlich bei dem Versuch getötet werden würde. Wir haben ihn auf Jagang angesetzt, weil er ein Schurke und Mörder war, der den Tod verdient hatte. Trotzdem, ich hatte die vage Hoffnung, er könnte vielleicht erfolgreich sein. Und wenn nicht, sollte das Wissen, dass jeder seiner Männer ein gedungener Mörder sein konnte, Jagang zumindest einige Stunden seines Schlafes rauben.«
Niccis viel zu regloser Miene war deutlich zu entnehmen, dass sie auch dies für nichts anderes als einen Teil seiner ausgeklügelten Selbsttäuschung über diese Frau aus seinen Träumen hielt. Dann fiel ihm ein, was außerdem noch passiert war. »Allerdings wurden wir, kurz nachdem Sabar Euren Brief überbracht hatte, angegriffen. Bei dem Gefecht ist er ums Leben gekommen.«
Ein heimlicher Seitenblick auf Cara trug ihr ein bestätigendes Nicken ein. »Bei den Gütigen Seelen«, machte Nicci ihrem Kummer über die Nachricht von dem jungen Sabar Luft – eine Gefühlsregung, die Richard teilte. Er erinnerte sich noch gut an Niccis eindringliche Warnung, dass Jagang dazu übergegangen sei, Waffen aus mit der Gabe gesegneten Menschen zu entwickeln, wie schon einmal, während des Großen Krieges vor dreitausend Jahren. Eine Entwicklung, die überaus Besorgnis erregend war und eigentlich als unmöglich galt, aber offenbar hatte Jagang dennoch einen Weg gefunden – indem er sich der Schwestern der Finsternis bediente, die er als Gefangene hielt.
Bei dem Überfall auf ihr Lager war der Brief ins Lagerfeuer gestoßen worden, sodass Richard ihn nicht hatte zu Ende lesen können, immerhin aber weit genug, um die Gefahr zu erkennen. Dann ging Richard zum Tisch hinüber, auf dem sein Schwert lag. Als er das Schwert an seiner polierten Scheide aufnahm, wunderte er sich kurz, warum er, als er den Wolf heulen hörte und aufgewacht war, geglaubt hatte, das Schwert liege neben ihm auf dem Boden, verfolgte den Gedanken aber nicht weiter. Er streifte den alten Waffengurt aus geprägtem Leder über den Kopf, rückte die Scheide an seiner rechten Hüfte zurecht und vergewisserte sich, dass sie gut befestigt war.
Unvermittelt schössen ihm bruchstückhafte Erinnerungen an das Gemetzel durch den Kopf. Alles war ganz plötzlich und völlig unerwartet über ihn hereingebrochen, aber nachdem er das Schwert in seinem Zorn blankgezogen hatte, war das Überraschungsmoment gar nicht mehr entscheidend gewesen, entscheidend war ihre erschreckende zahlenmäßige Unterlegenheit. Ihm war nur zu bewusst, wie Recht Nicci mit ihrer Bemerkung hatte, er sei nicht unbesiegbar.
Kurz nach seiner ersten Begegnung mit Kahlan hatte ihn Zedd kraft seines Amtes als Oberster Zauberer zum Sucher ernannt und ihm das Schwert übergeben. Damals hatte er die Waffe gehasst für das, was sie fälschlicherweise in seinen Augen repräsentierte. Jetzt war das Schwert über die Bande mit ihm und seinen Zielen verbunden, wurde es von seinen Absichten gelenkt, und von Anfang an war es sein Ziel, seine Absicht gewesen, all jene zu beschützen, die er liebte und denen er zugetan war. Um das zu erreichen, musste er, das hatte er zu guter Letzt erkannt, bei der Gestaltung einer Welt helfen, in der sie in Frieden und Sicherheit leben konnten. Durch dieses Ziel erhielt das Schwert für ihn erst seine Bedeutung.
Sein jetziges Ziel war es, Kahlan aufzuspüren, und wenn ihm das Schwert dabei nützlich sein konnte, würde er nicht zögern, es zu gebrauchen.
Er nahm sein Bündel auf und schwang es herum, sodass es an der gewohnten Stelle auf seinem Rücken zu liegen kam, während er den fast leeren Raum nach persönlichen Dingen absuchte, die er womöglich übersehen hatte. Auf dem Fußboden neben der Feuerstelle entdeckte er etwas Trockenfleisch sowie einige Reisekekse. Daneben lagen, zu einem Bündel geschnürt, weitere Lebensmittel. Auch die einfachen hölzernen Schalen von Richard und Cara standen dort, die eine gefüllt mit Fleischbrühe, die andere mit einem Rest Hafergrütze. »Cara«, sagte er, während er drei Wasserschläuche aufnahm und sich ihre Riemen um den Hals schlang, »denkt daran, alle transportfähigen Lebensmittel zusammenzusuchen und mitzunehmen. Und vergesst die Schalen nicht.«
Cara nickte. Als sie sah, dass er nicht die Absicht hatte, sie zurückzulassen, ging sie daran, alles methodisch zusammenzupacken.
Nicci bekam seinen Ärmel zu fassen. »Ich meine es ernst, Richard, wir müssen reden. Es ist wichtig.«
»Dann tut, worum ich Euch gebeten habe: Holt Eure Sachen und begleitet mich.« Er schnappte sich seinen Bogen mitsamt Köcher. »Solange Ihr mich nicht behindert, könnt Ihr reden, so viel Ihr wollt.«
Mit einem resignierten Nicken gab Nicci ihre Vorbehalte auf und eilte ins Hinterzimmer, um ihre persönlichen Sachen zu holen. Richard hatte gar nichts dagegen, sie mitzunehmen, im Gegenteil, ihre Hilfe kam ihm sehr zupass. Ihre Gabe konnte sich bei der Suche nach Kahlan als nützlich erweisen. Tatsächlich war genau dies seine Absicht gewesen, als er unmittelbar vor dem Überfall aufgewacht war und Kahlans Verschwinden bemerkt hatte – er wollte Nicci finden und sie um ihre Hilfe bitten.
Richard schlang sich seinen mit einer Kapuze versehenen Waldumhang um die Schultern und ging zur Tür. Cara, die zur Feuerstelle geeilt war, um die letzten Teile ihrer Ausrüstung zusammenzupacken, bedeutete ihm mit einem kurzen Nicken, dass sie jeden Moment nachkommen würde. Im Hinterzimmer konnte er Nicci erkennen, die sich beeilte, ihre Sachen zusammenzusuchen, ehe er einen zu großen Vorsprung hatte.
Die Macht der Gewohnheit ließ ihn sein Schwert kurz aus der Scheide heben, um sich zu vergewissern, dass es sich mühelos ziehen ließ, dann stieß er die einfache Brettertür auf. Als die draußen auf und ab gehenden Männer ihn aus der kleinen Kate treten sahen, kamen sie von allen Seiten herbeigeströmt. Diese Männer waren streng genommen gar keine Soldaten, sie waren Karrenlenker, Müller, Tischler, Steinmetze, Bauern und Händler, die sich ihr ganzes Leben unter der unterdrückerischen Herrschaft der Imperialen Ordnung abgemüht hatten, um unter großen Entbehrungen ihren kargen Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Familien durchzubringen.
Für die meisten dieser hart arbeitenden Menschen bedeutete das Leben in der Alten Welt ein Leben in ständiger Angst. Wer es wagte, die Stimme gegen die Methoden der Imperialen Ordnung zu erheben, wurde kurzerhand verhaftet, der aufrührerischen Agitation beschuldigt und hingerichtet. Ob berechtigt oder nicht, es wurden unablässig Anklagen erhoben, Verhaftungen vorgenommen. Diese Art der Schnell-»Justiz« hielt die Menschen in ständiger Angst und bei der Stange.
Durch fortwährende Indoktrination, insbesondere der Jugend, erreichte man, dass ein entscheidender Teil der Bevölkerung geradezu fanatisch von den Methoden der Imperialen Ordnung überzeugt war. Kinder bekamen von Geburt an eingetrichtert, dass selbstständiges Denken falsch und der inbrünstige Glaube an Selbstaufopferung im Namen des Allgemeinwohls die einzige Möglichkeit sei, nach dem Tode ein ruhmreiches Leben im Licht des Schöpfers zu verbringen und zu verhindern, dass man, hilflos der Ungnade des Hüters ausgeliefert, die Ewigkeit in den finsteren Gefilden der Unterwelt fristen musste.
Aus den Reihen dieser Pflichtgetreuen rekrutierte sich ein steter Strom von Freiwilligen für die Armee, die es gar nicht erwarten konnten, sich in den edlen Kampf zur Niederwerfung aller Ungläubigen zu stürzen, die Gottlosen ihrer gerechten Strafe zuzuführen und alle unrechtmäßig erworbenen Gewinne zu konfiszieren. Durch das Billigen von Plünderungen, der ungezügelten Herrschaft grausamster Brutalität und der weit verbreiteten Vergewaltigungen aller Unbekehrten wurde eine besonders bösartige und ansteckende Form fanatischen Glaubenseifers erzeugt, der eine Armee von Wilden hervorgebracht hatte. Solcherart war das Wesen der Soldaten der Imperialen Ordnung, die in die Neue Welt eingefallen waren und die nun in Richards und Kahlans Heimat nahezu ungehindert wüteten. Die Männer, die jetzt vor ihm standen, hatten jedoch die hohlen Ideen und korrupten Versprechungen der Imperialen Ordnung durchschaut und als das erkannt, was sie waren: Tyrannei. Sie hatten beschlossen, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen, und das machte sie zu Kriegern im Kampf für die Freiheit. Ein überraschter, immer mehr anschwellender Lärm aus lauten Begrüßungsrufen und Freudenschreien zerriss die morgendliche Stille. Alles redete gleichzeitig, als sich die Männer dicht um ihn scharten, nachfragten, ob er wieder genesen sei, und sich nach seinem Wohlbefinden erkundigten. Ihre aufrichtige Sorge rührte ihn. Trotz seines Gefühls dringend gebotener Eile zwang sich Richard, zu lächeln und die Männer, die er aus der Stadt Altur’Rang kannte, mit beidhändigem Händedruck zu begrüßen. Dies entsprach schon eher der Art von Wiedersehen, die sie sich erhofft hatten.
Richard hatte nicht nur mit vielen von ihnen Seite an Seite gearbeitet und sich mit anderen angefreundet, er war sich auch bewusst, dass er – der Lord Rahl aus der Neuen Welt, der Lord Rahl aus einem Land, wo die Menschen ein Leben in Freiheit führten – für sie ein Symbol der Freiheit war. Er hatte ihnen den Beweis geliefert, dass sie die gleichen Möglichkeiten hatten, und ihnen eine Vision davon gegeben, wie ihr Leben dereinst aussehen könnte.
In diesem Augenblick jedoch interessierte ihn nur eins: Er wollte, ja, er musste Kahlan wieder finden. Ohne sie erschien ihm alles andere, sogar das Leben selbst, nicht mehr sonderlich bedeutsam. Nicht weit entfernt stand, an einen Pfosten gelehnt, ein stämmiger Bursche, der nicht lächelte, sondern eine bedrohliche Miene aufgesetzt hatte, die in seiner Stirn bereits bleibende Falten hinterlassen hatte. Die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete er die anderen, wie sie Richard stürmisch begrüßten. Richard bahnte sich einen Weg durch die Menge, immer wieder Hände schüttelnd, und hielt auf den finster dreinblickenden Schmied zu. »Victor!«
Dessen finsterer Blick wich einem eher hilflosen Grinsen. Er fasste sich mit Richard bei den Armen. »Nicci und Cara haben mir nur zweimal erlaubt, nach Euch zu sehen. Wenn sie mich heute Morgen nicht zu Euch gelassen hätten, hätte ich ihnen ganz sicher ein paar Eisenstangen um den Hals geknotet.«
»Warst du das – gleich am ersten Morgen? Der auf dem Weg hinaus an mir vorbeigegangen ist und mich dabei an der Schulter berührt hat?«
Victor nickte grinsend. »Ja, das war ich. Ich hab geholfen, Euch hierher zu tragen.« Er legte Richard seine kräftige Pranke auf die Schulter und rüttelte ihn probeweise. »Ihr scheint ja wieder halbwegs beieinander zu sein, wenn auch ein wenig blass. Ich hab etwas Lardo dabei – das wird Euch Kraft geben.«
»Es geht mir ausgezeichnet, später vielleicht. Danke, dass du geholfen hast, mich herzutragen. Hör zu, Victor, hast du Kahlan irgendwo gesehen?«
Die tiefen Furchen in Victors Gesicht kehrten zurück. »Kahlan?«
»Meine Frau.«
Victor starrte ihn an, ohne auch nur im mindesten zu reagieren. Sein Haar war so kurz geschoren, dass sein Schädel wie rasiert wirkte. Der Regen bildete Perlen auf seiner Kopfhaut. Verwundert hob er eine Augenbraue. »Ihr habt Euch während Eurer Abwesenheit eine Frau genommen, Richard?«
Richard warf einen verzweifelten Blick über seine Schulter zu den anderen Männern, die zu ihm herübersahen. »Hat irgendeiner von euch Kahlan gesehen?«
Viele blickten ihm mit ausdruckslosen Mienen entgegen, andere wechselten verwirrte Blicke mit ihrem Nebenmann. Über den grauen Morgen hatte sich Stille gesenkt. Offenkundig wussten sie nicht, von wem er überhaupt redete, dabei kannten viele dieser Männer Kahlan und hätten sich an sie erinnern müssen. Jetzt hingegen schüttelten sie nur die Köpfe und zuckten mit einem Ausdruck des Bedauerns die Schultern. Richards Stimmung sank. Das Problem war gravierender, als er gedacht hatte, war er doch der Meinung gewesen, es handle sich lediglich um irgendeine Art Störung in Niccis und Caras Erinnerungsvermögen. Er wandte sich wieder herum zu dem fragend dreinblickenden Schmied. »Victor, ich stecke in Schwierigkeiten und habe keine Zeit für Erklärungen. Ich weiß nicht einmal, wie ich es erklären sollte. Ich brauche deine Hilfe.«
»Was kann ich tun?«
»Bring mich zu der Stelle, wo wir gekämpft haben.«
Victor nickte. »Nichts einfacher als das.«
Damit machte er kehrt und stapfte los in Richtung des dunklen Waldes.