29

»Was könnte es Eurer Meinung nach denn bedeuten?«, fragte Berdine. Verna sah kurz herüber und betrachtete die blauen Augen der Mord-Sith. »Dazu hat Ann nichts gesagt.«

Bis auf das leise Zischen der Öllaternen war es totenstill in der Bibliothek. Wegen der zahllosen Zwischengänge und des dunklen Holzes der Balken und Regale vermochten die Lampen und Kerzen das riesige Sanktuarium nur unzureichend zu beleuchten. Hätte Verna sämtliche Reflektorlampen an den Wänden und den Stirnseiten der Regale entzündet, wäre es im Lesesaal beträchtlich heller gewesen, aber das hielt sie für ihre Zwecke nicht für erforderlich.

Verna hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Geister all der Meister Rahl, die an diesem Ort umgingen, geweckt werden könnten, wenn sie zu viele Lampen entzündeten, zu viele alte Folianten aus den Regalen zögen und die Ruhe dieses heiligen Ortes mehr als unbedingt nötig störten. Mächtige Balken unterteilten die dunkle Holzvertäfelung der tief eingelassenen Deckennischen, und an den seitlich stehenden Säulen, welche die massiven Streben stützten, deren Oberfläche mit fremdartigen und doch wunderschönen Symbolen in kräftigen Farben geschmückt war, rankten sich vergoldete Schnitzereien von Reben und Blattwerk empor. Der Fußboden war mit edlen Teppichen ausgelegt, die mit kunstvollen, in gedämpften Farben gehaltenen Mustern durchwoben waren. Und überall, hinter den verglasten Türen der Schränke an den Außenwänden entlang sowie in frei stehenden Regalen, die sich in schier endlosen, wohl geordneten Reihen durch die gesamte Bibliothek erstreckten, sah man Bücher – abertausende von ihnen. Ihre ledernen, meist in dunklen Farben gehaltenen Einbände mit zumindest einem Hauch von Blattgold oder –silber auf dem Rücken, verliehen dem Raum eine Atmosphäre bunter Vielfalt. Selten hatte Verna eine Bibliothek von solcher Pracht gesehen. Gewiss, auch die Gewölbekeller unter dem Palast der Propheten, wo sie viel Zeit mit ihren Studien verbracht hatte, hatten Abertausende von Büchern enthalten, aber diese waren eher dem Nützlichkeitsprinzip untergeordnet gewesen und dienten mehr als Bücherlager und praktischer Lesesaal, dieser Palast dagegen ließ eine Ehrfurcht vor den alten Schriften und dem in ihnen enthaltenen Wissen erkennen.

Wissen bedeutete Macht, und diese Macht stand von alters her dem jeweiligen Lord Rahl zur unmittelbaren Verfügung – aber ob er dieses Wissen klug zu nutzen wusste, stand auf einem ganz anderen Blatt. Denn oft bestand die Schwierigkeit angesichts dieser unermesslichen Informationsmengen gerade darin, einen bestimmten Eintrag zu finden oder auch nur zu wissen, ob er in der gewaltigen Schriftensammlung überhaupt verzeichnet war.

Natürlich hatte es in früheren, längst vergangenen Zeiten Schreiber gegeben, die neben ihrer eigentlichen Arbeit, dem Anfertigen von Abschriften wichtiger Werke, die Bibliotheken beaufsichtigten und für bestimmte Abteilungen verantwortlich waren, sodass der jeweilige Meister Rahl nur ein paar passende Fragen zu stellen brauchte, welche die Suche auf die für das gefragte Interessengebiet zuständige Person einengten, um einen in die richtige Richtung weisenden Hinweis zu erhalten. Derzeit aber war die in den zahllosen Bänden enthaltene Information erheblich unzugänglicher, denn es herrschte ein Mangel an solchen Spezialisten, die die Bibliotheken beaufsichtigten. In gewisser Hinsicht stand die schiere Menge an Information ihrer sinnvollen Nutzung im Wege, sodass sie nahezu unbrauchbar geworden war, ganz ähnlich einem Soldaten, der derart viele Waffen mit sich führt, dass er sich kaum noch bewegen kann.

Allein die in dieser einen Bibliothek aufbewahrten Schriften repräsentierten eine fast unvorstellbare Menge an Werken unzähliger Gelehrter und einer Vielzahl von Propheten. Schon ein kurzer Streifzug durch die Regalreihen hatte Werke über Geschichte, Geographie, Politik, Naturwissenschaften und Prophezeiungen ans Licht gebracht, die Verna noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Man hätte ein Leben lang durch diese Säle irren können, und doch hatte Berdine behauptet, der Palast des Volkes verfüge über eine Reihe solcher Bibliotheken, von solchen, die einer Vielzahl von Personen offen standen, bis hin zu einigen wenigen, die von niemandem außer dem jeweiligen Lord Rahl und, vermutete Verna, seinen engsten Vertrauten betreten werden durften. Diese gehörte zu letzterer Kategorie.

Berdine hatte ihr erzählt, Darken Rahl hätte sie, weil des Hoch-D’Haran mächtig, bisweilen in seine privatesten Bibliotheken mitgenommen, um ihre Meinung bezüglich Übersetzungen unverständlicher Passagen alter Texte einzuholen. Infolgedessen befand sich Berdine in der einzigartigen Situation, zumindest einen gewissen Einblick in den Reichtum an potenziell riskantem Wissen zu besitzen, das hier bewahrt wurde. Nun waren nicht alle Prophezeiungen gleichermaßen unerquicklich, vieles entpuppte sich als eher unbedeutend und recht harmlos. Die meisten Menschen machten sich gar nicht klar, dass ein Großteil der prophetischen Textpassagen sich auf etwas bezog, das letztendlich nicht viel mehr war als Tratsch. Es gab Schriften, die im Großen und Ganzen völlig harmlos waren, andere dagegen waren für jeden außer dem geübten Leser von der ersten bis zur letzten Zeile überaus gefährlich. Diese spezielle Bibliothek enthielt einige der gefährlichsten Verna bekannten Bücher der Prophezeiungen, Bücher, die im Palast der Propheten als so unzuverlässig galten, dass man sie nicht im Hauptgewölbe, sondern in kleineren, mit starken magischen Schilden abgeschirmten Kellern aufbewahrte, zu denen – außer einer Hand voll im Palast lebender Personen – niemand Zutritt hatte. Diese Bücher waren vermutlich auch der Grund, warum diese spezielle Bibliothek dem Meister Rahl allein als ganz privates Refugium diente. Verna bezweifelte stark, dass man ihr den Zutritt gewährt hätte, wäre sie nicht in Begleitung einer Mord-Sith gewesen. An einem so behaglichen Ort hätte sie glücklich und zufrieden lange Stunden mit dem Studium zahlloser, nie gesehener Bücher verbringen können, aber leider fehlte ihr genau das – ausreichend Zeit. Gedankenversunken fragte sie sich, ob Richard diese Schätze, die ihm jetzt, als Lord Rahl, gehörten, überhaupt je zu Gesicht bekommen hatte.

Berdine tippte mit dem Finger auf eine leere Seite in dem Buch Theorie der Abweichungen von Glendhill. »Lasst Euch gesagt sein, Prälatin, ich habe dieses Buch mit Lord Rahl zusammen in der Burg der Zauberer in Aydindril eingehend studiert.«

»Das sagtet Ihr bereits.«

Verna fand es, vorsichtig ausgedrückt, erstaunlich, dass Richard dieses Werk überhaupt kannte. Noch interessanter fand sie allerdings, dass er sich in Anbetracht seiner Abneigung gegen Prophezeiungen und des Umstandes, dass es in diesem Buch der Prophezeiungen größtenteils um seine Person ging, eingehend damit befasst haben sollte.

Die merkwürdigen kleinen Details, Richard betreffend, auf die sie von Zeit zu Zeit stieß, schienen kein Ende nehmen zu wollen. Zum Teil beruhte seine ablehnende Haltung gegen Prophezeiungen auf seiner Aversion gegen jede Art von Rätsel, die er zutiefst verabscheute. Sie wusste allerdings auch, dass seine Abneigung gegen Prophezeiungen zu großen Teilen auf seinen Glauben an die Freiheit des Willens zurückging, auf seinen Glauben, dass er selbst und nicht die Hand des Schicksals sein Leben zu dem machte, was es war. So vielschichtig die Prophezeiungen auch sein mochten und sosehr ihre zahlreichen Bedeutungsebenen das Verständnis der meisten überforderten, im Kern kreisten sie um Dinge, die ihrem Wesen nach vorherbestimmt waren. Trotzdem war es Richard mehr als einmal gelungen, eine Prophezeiung zu erfüllen und sie dabei im selben Atemzug zu widerlegen.

Mit einer gewissen Bitterkeit argwöhnte Verna, dass die Prophezeiungen nur deswegen Richards Geburt vorhergesagt hatten, damit er auf die Welt kommen und den Beweis für die Ungültigkeit der Idee der Prophezeiungen liefern könne.

Es war nie einfach gewesen, Richards Verhalten vorherzusagen, nicht einmal mithilfe der Prophezeiungen oder vielleicht gerade ihretwegen. Anfangs hatte seine merkwürdige Handlungsweise sie oft verwirrt, sodass sie nie vorhersagen konnte, wie er auf eine Situation reagieren oder was er als Nächstes tun würde. Mit der Zeit jedoch hatte sie begriffen, dass das, was sie für eine chaotische Sprunghaftigkeit zwischen scheinbar beziehungslosen Dingen gehalten hatte, im Grunde seine außerordentliche Beständigkeit ausmachte. Die meisten Menschen waren gar nicht fähig, mit derart unerschütterlicher Entschlossenheit an ihren Zielen festzuhalten, sie neigten vielmehr dazu, sich von einer Vielzahl anderer Dinge, die ihre Aufmerksamkeit beanspruchten, ablenken zu lassen. Richard dagegen wusste diese untergeordneten Ereignisse nach ihrer Wichtigkeit einzuordnen, sie bei Bedarf vorübergehend ungeklärt zu lassen oder kurzerhand zu erledigen, ohne sein Ziel auch nur für einen Moment aus den Augen zu verlieren – was mitunter den unzutreffenden Eindruck erweckte, er springe ohne erkennbaren Grund von einer Sache zur nächsten, während er nach eigenem Empfinden in Wahrheit mit tänzerischer Leichtigkeit über die Trittsteine im Strom des Geschehens rings um ihn her sprang, um unbeirrbar ans jenseitige Ufer zu gelangen.

Es gab Zeiten, da schien er ihr der wunderbarste Mann zu sein, dem sie je begegnet war, dann wieder empfand sie ihn als nur schwer erträgliches Ärgernis. Längst hatte sie aus dem Blick verloren, wie oft sie ihn schon am liebsten erwürgt hätte. Er war nicht nur der Mann, der geboren war, um sie in die entscheidende letzte Schlacht zu führen, er war auch aus eigenem Entschluss zu ihrem Anführer geworden, dem Lord Rahl, zum Dreh- und Angelpunkt all dessen, wofür sie als Schwester des Lichts stets gekämpft hatte. Vielleicht schätzte sie ihn – darüber hinaus, was er ihnen allen sonst bedeutete – vor allem als Freund. Ihr lag sehr viel daran, dass er ebenso glücklich war wie sie einst mit Warren. Während jener kurzen Zeit, die ihr nach ihrer Hochzeit mit Warren und vor dessen Ermordung vergönnt gewesen war, hatte sie sich lebendiger gefühlt als je zuvor. Seitdem jedoch fühlte sie sich wie eine lebende Tote – sie lebte, ohne wirklich am Leben teilzunehmen. Eines Tages, vielleicht nach der siegreichen Beendigung ihres Kampfes gegen die Imperiale Ordnung, würde Richard hoffentlich einen Menschen finden, für den er so etwas wie Liebe empfinden konnte. Bei seiner Liebe für das Leben brauchte er jemanden, mit dem er dieses Gefühl teilen konnte.

Sie lächelte versonnen. Gleich vom ersten Tag an, als sie ihm begegnet war und den Halsring umgelegt hatte, um ihn zum Palast der Propheten zu bringen, wo er im Gebrauch seiner Gabe unterwiesen werden sollte, schien ihr Leben von dem Strudel erfasst worden zu sein, der Richard – wenngleich auch nicht immer, so doch die meiste Zeit – umgab. Noch deutlich erinnerte sie sich an jenen verschneiten Tag, damals im Dorf der Schlammmenschen, als sie ihn fortgebracht hatte. Es war ein tieftrauriger Moment gewesen, denn es geschah gegen seinen Willen, gleichzeitig aber war es nach zwanzig Jahren mühevollen Suchens auch eine ungeheure Erleichterung.

Sicher, er hatte sich alles andere als freiwillig in diese doch nur seinem Wohl dienende Gefangenschaft ergeben, tatsächlich hatten zwei Schwestern in Vernas Begleitung bei dem Versuch, ihm den verhassten Halsring umzulegen, ihr Leben lassen müssen.

Verna wurde nachdenklich ... den Halsring umlegen.

Eigenartig. Sie versuchte, sich genau in Erinnerung zu rufen, wie sie es geschafft hatte, ihn dazu zu bringen, den Halsring anzulegen, wie es den Erfordernissen entsprach. Halsringe waren ihm verhasst vor allem, nachdem er einst selbst Gefangener einer Mord-Sith gewesen war –, und doch hatte er ihn aus freien Stücken angelegt. Aus einem unerfindlichen Grund schien sie sich jedoch nicht mehr erinnern zu können, womit sie ihn dazu bewogen hatte ...

»Das ist wirklich seltsam, Verna ...« Berdines brauner Lederanzug knarzte, als sie sich ein wenig vorbeugte und wie gebannt auf das Ende des Textes in dem alten Folianten starrte, der aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch lag. Zaghaft schlug sie probeweise eine Seite um, ehe sie wieder zurückblätterte. Sie blickte auf. »Ich weiß, dass dieses Buch früher einen handgeschriebenen Text enthielt, aber jetzt ist dieser Text verschwunden.«

Verna betrachtete das tanzende Kerzenlicht in Berdines Augen, stellte die Erinnerungen an diese längst vergangene Zeit zurück und richtete ihr ganzes Augenmerk wieder auf die anstehenden wichtigen Dinge. »Aber es war doch nicht exakt dieses Exemplar, oder?« Als Berdine darauf fragend das Gesicht verzog, wurde Verna deutlicher. »Es ist möglicherweise derselbe Titel gewesen, aber nicht exakt dieses Buch. Ihr wart damals in der Burg der Zauberer, also war es doch vermutlich eine andere Abschrift, oder?«

»Na ja, sicher, wahrscheinlich habt Ihr Recht, es war wohl nicht genau dasselbe Buch ...« Berdine richtete sich auf und kratzte sich in ihrem braunen, welligen Haar. »Aber wenn es derselbe Titel war, wieso glaubt Ihr dann, dass die Abschrift in der Burg der Zauberer den vollständigen Text enthielt, während hier Teile fehlen?«

»Ich habe nicht gesagt, dass die Abschrift dort immer noch vollständig ist, ich habe lediglich klargestellt, dass es die Abschrift in der Burg der Zauberer war, und nicht dieses Buch hier, was Ihr mit Richard studiert habt. Dass Ihr Euch erinnert, darin gelesen zu haben, ohne irgendwelche leeren Seiten zu bemerken, beweist gar nichts. Viel wichtiger ist, dass dieses Buch insofern identisch sein könnte, als es genau denselben Text enthält, nur dass der Schreiber, der dieses Duplikat anfertigte, möglicherweise einfach einige Seiten im Text freigelassen hat. Dafür kann es eine Reihe von Gründen geben.«

Berdine schien nicht überzeugt. »Und was für Gründe sollten das sein?«

Verna zuckte mit den Achseln. »Manchmal lässt man in Büchern mit unvollständigen Prophezeiungen, so wie diesem hier, einige Seiten frei, um künftigen Propheten Platz für die Vollendung der Prophezeiungen zu lassen.«

Berdine stemmte ihre Fäuste in die Hüften. »Na schön, dann beantwortet mir eine Frage. Wenn ich dieses Buch durchsehe, erinnere ich mich an die Dinge, die ich lese. Mag sein, dass ich das meiste nicht verstehe, aber im Großen und Ganzen erinnere ich mich an den Text. Wie kommt es dann, dass ich mich nicht an ein einziges Detail aus den Stellen erinnere, die in dem Buch fehlen?«

»Die Erklärung ist einfach. Ihr erinnert Euch nicht an den Inhalt der freigelassenen Stellen, weil sie nichts anderes sind als eben das –freigelassene Stellen, hinterlassen von ebenjener Person, die, ich sagte es bereits, die Abschrift angefertigt hat.«

»Nein, das meinte ich nicht. Was ich meinte, war, ich erinnere mich ungefähr daran, wie Prophezeiungen ausgesehen haben, an ihre Länge. Ihr achtet als mit der Gabe Gesegnete beim Lesen vermutlich eher auf den Inhalt. Bei mir ist das anders. Da ich die Prophezeiungen nie wirklich verstanden habe, erinnere ich mich stattdessen eher an ihre äußere Form. Ich weiß noch genau, wie lang sie waren. Diese hier sind nicht mehr vollständig. Ich habe sie damals nicht verstanden und erinnere mich genau, wie lang sie mir vorkamen, auch daran, wie schwierig es mir fiel, aus so weitschweifigen Prophezeiungen klug zu werden.«

»Ein schwer verständlicher Text erscheint einem immer länger, als er tatsächlich ist.«

»Nein.« Ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. »Das ist es nicht.« Sie schlug die letzte Prophezeiung auf und tippte mit dem Finger auf die Seite. »Diese hier umfasst nur eine einzige Seite, danach folgen eine Reihe von Leerseiten. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich an die anderen genauso gut erinnere, aber aus irgendeinem Grund habe ich die letzte aufmerksamer gelesen, und ich sage Euch, ich weiß genau, dass sie deutlich länger war. Ich kann weder beschwören, wie lang die anderen waren, noch wie lang genau diese hier sein müsste, aber eins weiß ich sicher, diese letzte hier umfasste mehr als nur eine Seite, und sie war ganz sicher nicht unvollständig, so wie unser Exemplar hier. Sosehr ich mich bemühe, ich kann mich einfach nicht erinnern, wie lang sie war oder was darin stand, aber eins weiß ich: Sie war länger als nur eine Seite.«

Das war die Bestätigung, auf die Verna gehofft hatte.

»Auch wenn ich aus dem meisten nicht recht klug werde«, fuhr Berdine fort, »an diesen Abschnitt hier, gleich zu Anfang, wo von einer gegabelten Quelle und dieser verwirrenden Geschichte mit der Rückkehr zu einer seherischen Wurzel die Rede ist, und gleich darauf von der ›Teilung des Schwarms durch den Vorkämpfer für die Ziele des Schöpfers‹ – zumindest dieser Teil klingt so, als ginge es um die Imperiale Ordnung –, kann ich mich erinnern. Aber was danach kommt, diese Leerstelle nach ›das verlorene Vertrauen in den Anführers ist mir entfallen.

Ich bilde mir das nicht ein, Verna, bestimmt nicht. Ich weiß nicht, was mich so sicher macht, dass der Rest fehlt, trotzdem ist es so. Und genau das beunruhigt mich ja so – wieso ist der Teil, der in dem Buch fehlt, in meiner Erinnerung gelöscht?«

Verna beugte sich vor und hob eine Braue. »Das, meine Liebe, ist genau die Frage, die ich so Besorgnis erregend finde.«

Berdine schien verblüfft. »Soll das heißen, Ihr wisst, wovon ich spreche? Ihr glaubt mir?«

Verna nickte. »Ich fürchte ja. Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu irgendwelchen Vermutungen zu verleiten, Ihr solltet mir nur meinen Verdacht bestätigen.«

»Dann ist Ann also deswegen so besorgt? Ist es das, was wir für sie überprüfen sollen?«

»So ist es.« Verna schob das chaotische Durcheinander aus Büchern auf dem robusten Tisch hin und her, bis sie schließlich das Gesuchte fand. »Werft einen Blick in dieses Buch, es ist der Text, der mir vielleicht am meisten Sorgen macht. Gesammelte Ursprünge ist insofern eine überaus ungewöhnliche Prophezeiung, als sie ausschließlich in Geschichtenform verfasst worden ist. Es ist das Buch, mit dem ich mich eingehend befasst habe, ehe ich den Palast der Propheten verließ, um mich auf die Suche nach Richard zu machen. Ich kenne die Geschichte praktisch auswendig.« Verna blätterte durch die Seiten. »Jetzt ist es vollkommen leer, und ich kann mich an kein einziges Detail erinnern, außer, dass es irgendetwas mit Richard zu tun hatte – aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, was genau.«

Berdine musterte Vernas Augen, wie nur eine Mord-Sith die Augen eines andern mustern konnte. »Es geht also um irgendein Problem, ein Problem, das Lord Rahl gefährlich werden könnte.«

Verna atmete tief durch, so tief, dass einige der in der Nähe stehenden Kerzen sachte flackerten. »Es wäre gelogen, wenn ich etwas anderes behaupten wollte, Berdine. Der fehlende Text befasst sich zwar nicht ausschließlich mit Richard, bezieht sich aber insgesamt auf eine Zeit nach seiner Geburt. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was die Art des Problems betrifft, aber ich gebe zu, es stimmt mich überaus besorgt.«

Berdines Verhalten durchlief eine Veränderung. Normalerweise war sie die gutmütigste Mord-Sith, die Verna kannte, sie begegnete der Welt rings um sie her mit einer schlichten, fast kindlichen Heiterkeit und war mitunter von herzerfrischender Wissbegier. All den Nöten und Betrübnissen zum Trotz, die anderen längst ein Jammern entlockt hätten, trug sie für gewöhnlich ein ungekünsteltes Lächeln zur Schau. Aber sobald sie den Eindruck hatte, dass Richard von irgendwoher eine Gefahr drohte, wechselte sie schlagartig zu geschäftsmäßiger Nüchternheit. Und jetzt war sie auf einmal so misstrauisch und kalt bedrohlich wie jede andere Mord-Sith auch.

»Was könnte der Grund dafür sein?«, wollte sie wissen. »Sagt mir: Was hat das zu bedeuten?«

Verna klappte das aus lauter leeren Seiten bestehende Buch wieder zu. »Ich weiß es nicht, Berdine, wirklich nicht. Ann und Nathan sind ebenso bestürzt wie wir – und Nathan ist Prophet.«

»Was mag wohl mit der Passage über Menschen, die ihr Vertrauen in ihren Anführer verlieren, gemeint sein?«

Für eine nicht mit der Gabe Gesegnete hatte sie recht zielsicher den entscheidenden Satz der überaus mysteriösen Prophezeiung herausgepickt.

»Nun«, sagte Verna, bei der Formulierung ihrer Antwort um eine gewisse Vorsicht bemüht, »das könnte eine Reihe von Dingen bedeuten. Schwer zu sagen.«

»Schwer vielleicht für mich, aber doch sicherlich nicht für Euch.«

Verna räusperte sich. »Wisst Ihr, ich bin keine Expertin in Prophezeiungen, aber ich denke, es geht um Richard.«

»Das weiß ich auch. Aber wieso ist in der Prophezeiung die Rede davon, die Menschen würden das Vertrauen in ihn verlieren?«

»Prophezeiungen sind selten so direkt, wie sie vielleicht scheinen.« Sie wünschte, die Frau würde endlich aufhören, sie anzustarren. »Was sie zu sagen scheinen, hat gewöhnlich nichts mit dem tatsächlichen Geschehnis zu tun, mit dem die Prophezeiung sich im Kern befasst.«

»Prälatin, meiner Ansicht nach scheint diese Prophezeiung darauf hinzudeuten, dass es eine Frage des gesunden Menschenverstandes sein könnte, die zu dem ›Vertrauensverlust‹ in den Anführer führt. Da dieser Anführer als Gegenspieler jenes Schwarms bezeichnet wird, der sich damit brüstet, den Zielen des Schöpfers zu dienen damit dürfte die Imperiale Ordnung gemeint sein –, folgt daraus, dass von Lord Rahl die Rede sein muss, was wiederum bedeutet, dass Lord Rahl jener Anführer ist, in den die Menschen das Vertrauen verlieren. Das Ganze folgt gleich nach der Passage über die Teilung des Schwarms, welche die Imperiale Ordnung soeben vollzogen hat. Demnach steht die Gefahr unmittelbar bevor.«

»Ja, für mich klingt das auch eindeutig wie eine Drohung.«

»Und Ihr glaubt, es handelt sich um ein Problem, das Lord Rahl betrifft.«

Verna warf ihr einen verstohlenen Blick zu. »Die simple Tatsache, dass ein so großer Teil der Prophezeiungen sich auf ihn bezieht, macht es unmöglich, diese Schlussfolgerung auszuschließen. Richard wurde in diese Schwierigkeiten hineingeboren, er befindet sich in ihrem Zentrum.«

Das schien Berdine überhaupt nicht zu gefallen. »Deswegen braucht er ja uns.«

»Das habe ich nie bestritten.«

Berdine entspannte sich etwas, wenn auch nur einen Hauch, ehe sie ihren Zopf abermals über die Schulter warf. »Nein, habt Ihr nicht.«

»Ann ist bereits auf der Suche nach ihm. Hoffen wir, dass es ihr gelingt, ihn zu finden, und zwar bald, denn es ist unbedingt erforderlich, dass er uns in der bevorstehenden Schlacht anführt.«

Während Verna sprach, zog Berdine gelangweilt ein Buch aus einer der Vitrinen und begann darin zu blättern. »Lord Rahl sollte die Magie gegen die Magie, nicht aber der Stahl gegen den Stahl sein.«

»So lautet ein d’Haranisches Sprichwort. In den Prophezeiungen aber heißt es, dass er uns in der entscheidenden Schlacht anführen muss.«

»Mag sein«, murmelte Berdine, ohne aufzusehen, während sie langsam in den Seiten blätterte. »Jetzt, da Jagangs Truppen die Berge Richtung Süden umgehen, können wir nur darauf hoffen, dass Ann ihn rechtzeitig aufspürt und ihn zu uns schafft.«

Doch Berdine starrte nur verwirrt in das Buch. »Was ist das eigentlich, das bei den Gebeinen vergraben liegen soll?«

»Was?«

Die Stirn noch immer in Falten gelegt, versuchte Berdine, sich über eine rätselhafte Textpassage klar zu werden. »Dieses Buch ist mir früher schon aufgefallen, denn auf dem Einband steht fuer gris-sa ost drauka. Das ist Hoch-D’Haran und bedeutet...«

»Der Bringer des Todes.«

Berdine sah kurz auf. »Richtig. Woher wisst Ihr das?«

»Es existierte eine weit verbreitete Prophezeiung, die unter den Schwestern im Palast der Propheten lange Zeit sehr umstritten war, tatsächlich wurde sie jahrhundertelang heiß disputiert. Als ich Richard in den Palast der Propheten brachte, erklärte er gleich am ersten Tag, er sei der Bringer des Todes, womit er sich als die in der Prophezeiung genannte Person zu erkennen gab. Ich kann Euch versichern, das hat unter den Schwestern für ziemliche Aufregung gesorgt. Eines Tages dann zeigte ihm Warren diese Prophezeiung unten in den Gewölbekellern, worauf Richard das Rätsel löste, das für ihn allerdings gar keins war. Er verstand es, weil er Teile der Prophezeiung bereits selbst erlebt hatte.«

»In diesem Buch gibt es eine ganze Reihe leerer Seiten.«

»Zweifellos. Es klingt so, als handelte es von Richard. Vermutlich gibt es hier jede Menge Schriften, die sich mit seiner Person befassen.«

Berdine war bereits wieder in den Text vertieft. »Diese hier ist auf Hoch-D’Haran, eine Sprache, die ich beherrsche, aber das sagte ich ja schon. Ich müsste mich etwas eingehender damit befassen, um es genauer zu übersetzen, außerdem wäre es sicher hilfreich, wenn der Text nicht so lückenhaft wäre, trotzdem, an dieser Stelle ist ganz offenkundig von Lord Rahl die Rede. Der Text lautet etwa: ›... was er sucht, liegt bei den Gebeinen begraben‹, oder vielleicht auch begrabene Gebeine sind es, was er sucht‹ – etwas in der Art.«

Sie sah erneut zu Verna auf. »Habt Ihr eine Vermutung, wovon die Rede sein könnte? Was mag wohl damit gemeint sein?«

»Begrabene Gebeine sind es, was er sucht?« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich gibt es hier unten zahllose Bücher, die interessante, verwirrende oder beängstigende Dinge über Richard zu berichten wissen, aber wie ich bereits sagte, wegen der fehlenden Passagen in den Abschriften ist der vorhandene Text so gut wie unbrauchbar.«

»Ja, mag sein«, erwiderte Berdine enttäuscht. »Und was hat es mit diesen centralen Stätten‹ auf sich?«

»Zentrale Stätten?«

»Ja. Im Text ist von Orten die Rede, die als ›zentrale Stätten‹ bezeichnet werden.« Den Blick ins Nichts gerichtet, versuchte sie sich über etwas klar zu werden. »Zentrale Stätten ... dieser Begriff tauchte auch bei Kolo auf.«

»Kolo?«

Berdine nickte. »Das ist ein vor langer Zeit – während des Großen Krieges – geschriebenes Tagebuch. Lord Rahl hat es in der Burg der Zauberer entdeckt, im selben Raum, in dem sich auch die Sliph befand. Der Mann, der es führte, wird darin Koloblicin genannt, ein Name, der auf Hoch-D’Haran ›kluger Beraten bedeutet. Lord Rahl und ich haben ihn dann der Einfachheit halber zu ›Kolo‹ abgekürzt.«

»Und was wusste dieser Kolo über diesen Ort, diese zentralen Stätten, zu berichten? Was hat es damit auf sich?«

Berdine blätterte in den Seiten des Buches, das sie in der Hand hielt. »Daran erinnere ich mich nicht. Jedenfalls habe ich es damals nicht richtig verstanden und deshalb auch nicht viel Mühe darauf verwendet. Ich müsste mich noch einmal eingehend damit beschäftigen, um meine Erinnerung aufzufrischen.« Sie kniff die Augen zusammen und schien sich wieder zu entsinnen. »Ich meine mich zu erinnern, dass an diesen zentrale Stätten genannten Orten irgendetwas vergraben lag, aber was genau, weiß ich nicht mehr.«

Sie blickte angestrengt in das schmale Bändchen, als wäre sie in dieser Körperhaltung erstarrt. »Ich hatte gehofft, hier drin einen Hinweis zu finden.«

Mit einem tiefen Seufzer ließ Verna ihren Blick durch die Bibliothek schweifen. »Berdine, ich würde liebend gern noch bleiben und mir die Zeit nehmen, all diese Bücher methodisch zu erforschen, denn ich wusste wirklich gern, was diese Bibliothek und all die anderen hier im Palast enthalten, aber im Moment gibt es dringendere Aufgaben. Wir müssen unbedingt zurück zur Armee und zu meinen Ordensschwestern.«

Verna sah sich ein letztes Mal um. »Aber bevor ich gehe, möchte ich hier im Palast des Volkes noch etwas überprüfen. Vielleicht könntet Ihr mir dabei behilflich sein.«

Widerstrebend klappte Berdine das Buch zu und schob es zurück in die Vitrine, ehe sie die Tür behutsam schloss.

»Also gut, Prälatin. Was wollt Ihr Euch ansehen?«

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