Richard löste die Lederriemen unter seinem Bündel, rollte sein Bettzeug auseinander und breitete es auf dem schmalen Streifen aus, den die beiden anderen für ihn freigelassen hatten. »Nicci, Ihr habt vorhin von einem Blutrausch gesprochen, drüben an der Stelle, wo die Männer getötet wurden.«
Er lehnte sich gegen die Felswand unter dem Überhang. »Was habt Ihr damit eigentlich gemeint?«
Auf ihrem Bettzeug stemmte sich Nicci rechts neben ihm in eine sitzende Haltung. »Es ist doch ziemlich offensichtlich, dass das, was wir dort gesehen haben, kein simpler Akt des Tötens war.«
Vermutlich hatte sie damit nicht ganz Unrecht. Noch nie war er Zeuge eines dermaßen von Raserei geprägten Gemetzels geworden. Er war sich allerdings einigermaßen sicher, dass Nicci erheblich mehr darüber wusste. Cara kauerte sich links neben ihn. »Ich hab’s Euch ja gesagt«, sagte sie zu Nicci. »Ich glaube, er weiß es nicht.«
Richard bedachte erst die Mord-Sith, dann die Hexenmeisterin mit einem misstrauischen Seitenblick. »Was weiß ich nicht?«
Nicci fuhr sich mit den Fingern durch das nasse Haar und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Sie schien ein wenig verwirrt. »Hast du nicht gesagt, du hättest den Brief erhalten, den ich dir geschickt habe?«
»Hab ich.« Das lag schon eine Weile zurück. Er versuchte, sich durch den Dunst aus Mattigkeit und Sorge zu erinnern, was in Niccis Brief gestanden hatte – irgendetwas darüber, dass Jagang im Begriff sei, Menschen in Waffen zu verwandeln. »Euer Brief war mir bei der Untersuchung der damaligen Vorfälle eine wertvolle Hilfe. Ich wusste Eure Warnung vor Jagangs finstereren Machenschaften durchaus zu würdigen. Nicholas der Schleifer war in der Tat ein äußerst übler Zeitgenosse.«
»Nicholas.« Nicci spie den Namen förmlich aus. »Der ist nichts weiter als ein Floh im Pelz des Wolfes.«
Wenn Nicholas der Floh war, dann hoffte Richard, niemals dem Wolf über den Weg zu laufen. Nicholas der Schleifer war ein Zauberer gewesen, den die Schwestern der Finsternis dahin gehend verwandelt hatten, dass er den Menschen in allen Eigenschaften weit überlegen war. Diese Zauberei am Menschen galt nicht nur als längst vergessene Kunst, sondern als schlechterdings unmöglich, nicht zuletzt, weil ein solch ruchloses Tun die Anwendung nicht nur additiver, sondern auch subtraktiver Magie erforderte. Einige wenige Auserwählte hatten diese zwar beherrschen gelernt, gleichwohl war bis zu Richards Geburt seit tausenden von Jahren niemand mehr mit der echten Gabe subtraktiver Magie geboren worden. Aber dann gab es noch jene, denen es, obwohl selbst nicht mit dieser Seite der Gabe geboren, gelungen war, sich den Gebrauch subtraktiver Magie anzueignen, und zu dieser Gruppe von Personen gehörte Darken Rahl. Es hieß, er habe die Seelen unschuldiger Kinder im Tausch gegen zweifelhafte Privilegien an den Hüter der Unterwelt verschachert – unter anderem für die Kenntnisse bei der Anwendung subtraktiver Magie. Richard vermutete, dass sich womöglich auch die ersten Schwestern der Finsternis mithilfe schauriger Versprechungen an den Hüter das für die Nutzung subtraktiver Magie erforderliche Wissen hatten verschaffen wollen, nur um es anschließend stillschweigend an die Schar ihrer heimlichen Anhänger weiterzugeben. Nach dem Fall des Palasts der Propheten hatte Jagang eine Vielzahl von Schwestern sowohl des Lichts als auch der Finsternis gefangen genommen, deren Zahl jedoch mittlerweile wieder im Schwinden begriffen war. Soweit Richard dies hatte in Erfahrung bringen können, befähigte das Talent des Traumwandlers ihn dazu, bis in die tiefsten Schichten des menschlichen Verstandes vorzudringen und auf diese Weise die absolute Kontrolle über den Betreffenden zu erlangen. Kein noch so intimer Gedanke, keine noch so intime Handlung blieb ihm verborgen.
Einem alten Zauber, einst von einem Vorfahren Richards geschaffen, um sein Volk vor den Traumwandlern seiner Zeit zu schützen, war es zu verdanken, dass jeder davor sicher war, der dem jeweiligen Lord Rahl die Treue schwor. Diese Bande waren Richard zusammen mit seiner Gabe vererbt worden, sodass sie seine treuen Untergebenen nun, da wiederum ein Traumwandler in die Welt hineingeboren war, davor bewahrte, dass sich Jagang heimlich in ihre Gedanken schlich und sie zu seinen willenlosen Sklaven machte. Obschon sämtliche Einwohner D’Haras die förmliche Andacht an ihren Lord Rahl sprachen, konnte der von diesen Banden gewährte Schutz tatsächlich nur durch die innere Überzeugung der ihm über die Bande verbundene Person aufgerufen werden – mit anderen Worten, die Schwestern in Jagangs Gewalt hätten Richard nur aufrichtig ihre Treue schwören müssen –, doch leider hatten die meisten eine so entsetzliche Angst vor Jagang, dass sie diese Chance, ihre Freiheit zu erlangen, mehr als einmal ausgeschlagen hatten. Nicht wenige gingen sogar so weit, diese Ketten geistiger Sklaverei als schützenden Panzer zu betrachten. Einst hatte auch Nicci der Glaubensgemeinschaft der Imperialen Ordnung als Sklavin gedient – zunächst bei den Schwestern des Lichts, anschließend bei den Schwestern der Finsternis und schließlich Jagang selbst. Das war vorbei; stattdessen hatte sie sich Richards Liebe zum Leben zu Eigen gemacht. Dank ihrer festen Treue zu ihm und allem, an das er glaubte, hatte sie sich aus der Gewalt des Traumwandlers befreit, vor allem aber hatte sie sich dadurch von dem Joch der Sklaverei befreit, das sie zeit ihres Lebens mit sich herumgetragen hatte. Ihr Leben gehörte jetzt wieder ihr allein.
»Ganz habe ich den Brief nicht gelesen«, gestand Richard. »Ehe ich ihn zu Ende lesen konnte, wurden wir von Soldaten überfallen, die Nicholas geschickt hatte, um uns gefangen zu nehmen. Aber das habe ich Euch doch schon erzählt – das war, als Sabar ums Leben kam. Der Brief ist während des Kampfes den Flammen zum Opfer gefallen.«
Nicci ließ sich kraftlos nach hinten sinken. »Bei den Gütigen Seelen«, murmelte sie. »Und ich dachte, du wüsstest es.«
Richard war hundemüde und mit seiner Geduld am Ende. »Ich wüsste was?«
Nicci ließ ihre Arme sinken. Im trüben Licht sah sie zu ihm hoch und stieß einen erschöpften Seufzer aus. »Jagang hatte eine Möglichkeit gefunden, wie die Schwestern der Finsternis, die er gefangen hielt, ihre Talente dazu benutzen konnten, Menschen in Waffen zu verwandeln, ganz so wie damals, während des Großen Krieges. Er ist in vieler Hinsicht ein brillanter Kopf, dem stets sehr daran gelegen ist, hinzuzulernen. Er sammelt die Bücher, die ihm bei den Plünderungen in die Hände fallen, ich habe einige davon selbst gesehen. Neben einer Vielzahl verschiedenster Folianten besitzt er uralte Handbücher über Magie, ungefähr aus der Zeit des Großen Krieges. Das Problem ist, dass er, obwohl er einerseits ein Traumwandler und auf manchen Gebieten durchaus brillant sein mag, nicht die Gabe besitzt, weshalb seine diesbezüglichen Kenntnisse – sein Wissen, was genau Han bedeutet und wie diese lebendige Kraft funktioniert – bestenfalls lückenhaft sind. Wer selbst keine Magie besitzt, dem fällt es nicht eben leicht, diese Dinge zu begreifen. Du besitzt die Gabe, aber nicht einmal du verstehst sie wirklich, noch weißt du viel über ihre Funktionsweise. Weil aber Jagang mit Magie nicht umzugehen weiß, pfuscht er planlos herum und verlangt Dinge, nur weil er, der große Kaiser, der seine Visionen um jeden Preis verwirklicht sehen möchte, sie sich zusammenfantasiert hat.«
Richard rieb sich mit den Fingern über die Stirn, um den Schmutz zu entfernen. »Ihr solltet ihn in diesem Punkt nicht unterschätzen. Möglicherweise weiß er sehr viel genauer, was er tut, als Euch bewusst ist. Mag sein, dass ich auf dem Gebiet der Magie nicht sonderlich beschlagen bin, aber eins habe ich gelernt: Magie lässt sich durchaus als eine Art Kunst betrachten. Durch den künstlerischen Ausdruck – ein besseres Wort fällt mir im Augenblick nicht ein – ist es möglich, eine Magie zu erschaffen, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat.«
Nicci starrte ihn an, einen Ausdruck ungläubigen Staunens auf dem Gesicht. »Ich weiß wirklich nicht, wo du so etwas aufgeschnappt haben könntest, Richard, aber so funktioniert es einfach nicht.«
»Ja, ja, ich weiß. Kahlan war auch immer der Meinung, dass ich mich damit auf sehr dünnes Eis begebe. Sie ist unter lauter Zauberern aufgewachsen, sie kennt sich bestens mit Magie aus und hat in der Vergangenheit immer hartnäckig darauf beharrt, dass ich mich irre. Aber dem ist nicht so, ich habe es nämlich selbst schon getan –ich habe mich durch eine neue und originelle Anwendungsweise von Magie aus ansonsten ausweglosen Situationen selbst befreien können.«
Nicci musterte ihn mit dem für sie typischen Blick, der einen zu zerlegen schien, und plötzlich wurde ihm auch klar, warum. Es lag mitnichten nur an seinen Äußerungen über Magie, er hatte wieder angefangen, von Kahlan zu sprechen, der Frau, die gar nicht existierte, der Frau, die er sich zusammenfantasiert hatte. Auch Caras Miene verriet ihre stumme Besorgnis.
»Wie auch immer«, kehrte Richard zum springenden Punkt zurück. »Dass Jagang nicht die Gabe besitzt, bedeutet noch lange nicht, dass er sich nicht irgendetwas – Albträume, wie zum Beispiel diesen Nicholas – zusammenfantasieren kann. Gerade dieser originelle Einsatz der Fantasie ist es, durch den die mörderischsten Dinge erschaffen werden, gegen die alle herkömmlichen Mittel womöglich nutzlos sind. Meiner Meinung nach könnte dies sogar die Methode gewesen sein, mit deren Hilfe die Zauberer in früherer Zeit überhaupt erst Menschen in Waffen verwandelt haben.«
Nicci war innerlich so aufgewühlt, dass sie kaum noch an sich halten konnte. »So funktioniert Magie ganz einfach nicht, Richard. Man kann sich nicht einfach irgendwas zusammenfantasieren, was man gern hätte, sich irgendwas wünschen. Wie alle anderen Dinge auch funktioniert Magie gemäß den Gesetzen ihrer Natur. Eine Laune macht aus einem Baum noch keine Bretter, man muss ihn schon in der gewünschten Form zurechtschneiden. Und wenn man ein Haus will, genügt es nicht, sich zu wünschen, die Ziegelsteine und Bretter mögen sich zu einem Bauwerk zusammenfügen, man muss schon seine Hände benutzen, um das Gebäude zu errichten.«
Richard beugte sich zu der Hexenmeisterin hinüber. »Richtig, aber es ist die menschliche Fantasie, die diese konkreten Handlungen nicht nur ermöglicht, sondern auch ihren Erfolg garantiert. Die meisten Baumeister denken in bereits bestehenden Begriffen, sie wiederholen, was auch früher schon gemacht wurde, eben weil man es nicht anders kannte. Meist sind sie zu bequem, um nachzudenken, und machen sich deshalb kein Bild von etwas Größerem. Sie beschränken sich auf das Althergebrachte und führen als Entschuldigung an, es müsse eben so gemacht werden, weil es schon immer so gemacht wurde. Mit Magie verhält es sich meist ebenso – die mit der Gabe Gesegneten wiederholen, was sie von früher kennen, weil sie aus keinem anderen Grund als dem, dass es immer schon so gemacht wurde – glauben, so müsse es gemacht werden. Doch ehe ein prachtvoller Palast errichtet werden kann, muss jemand, der kühn genug ist, eine Vision des Möglichen zu wagen, zuvor ein geistiges Bild von ihm entworfen haben. Ein Palast entsteht nicht einfach spontan zur allgemeinen Überraschung, obwohl die Arbeiter ursprünglich nur ein einfaches Haus errichten wollten. Allein der bewusste Akt geistiger Schöpfung ist imstande, Dinge Wirklichkeit werden zu lassen. Damit nun dieser Akt kreativer Fantasie zur Verwirklichung eines Palasts führen kann, darf er unter keinen Umständen die Gesetze über die Natur der dabei verwendeten Dinge verletzen. Im Gegenteil, wer sich mit dem Ziel, einen Palast entstehen zu lassen, ein geistiges Bild von diesem Werk macht, muss über präzise Kenntnis aller Dinge verfügen, die er bei dem Bau zu verwenden gedenkt, denn sonst wird der Palast in sich zusammenstürzen. Seine Kenntnisse vom Wesen der verwendeten Materialien müssen sehr viel ausgeprägter sein als bei jemandem, der sie nur für den Bau eines einfachen Hauses verwendet. Es geht also nicht darum, sich etwas zu wünschen, das die Gesetze der Natur sprengt, sondern es geht um originelles, auf den Gesetzen der Natur basierendes Denken.«
Nicci hatte sich von seinen Ausführungen offenbar nicht nur mitreißen lassen, sondern schien mit aufrichtigem Interesse über seine Worte nachzudenken. »Soll das etwa heißen, deiner Meinung nach könnte eine Kunstform auch etwas so Bedeutsames wie die Funktionsweise von Magie gestalten?«
Über Richards Lippen ging ein Lächeln. »Nicci, damals, bevor ich die Statue in Altur’Rang schuf, wart Ihr nicht einmal fähig, die Wichtigkeit des Lebens zu begreifen. Erst als Ihr diesen Gedanken in greifbarer Form vor Euch saht, konntet Ihr endlich all das, was Ihr zeit Eures Lebens gelernt hattet, zu einem Ganzen fügen und seine Bedeutung erfassen. Ein Kunstwerk hatte Euch in der Seele berührt – genau das meine ich, wenn ich sage, eine wichtige Funktion großer Werke besteht stets in der Inspiration der Menschen. Ihr habt gehandelt und Euch befreit, weil sie Euch die Schönheit des Lebens, die Erhabenheit des Menschen vor Augen geführt hat –etwas, das Ihr zuvor nicht für möglich gehalten hättet. Und weil die Bevölkerung von Altur’Rang in der Statue ebenfalls die Möglichkeit dessen, was sein sollte, zu erkennen vermochte, hat sie sich von ihr inspirieren lassen, sich gegen die Tyrannei zu erheben, die ihr Leben zu zerstören drohte. Mit dem Kopieren bereits vorhandener Statuen, mit der Einhaltung allgemein akzeptierter Normen, wie sie in der Alten Welt für Statuen galten, die den Menschen als schwach und unfähig darstellten, wäre das nicht möglich gewesen – wohl aber durch eine Idee der Schönheit, eine Vision der Erhabenheit, wie sie in meiner Arbeit Gestalt angenommen hatte. Und dabei habe ich mitnichten gegen das Charakteristische des von mir verwendeten Marmors verstoßen, im Gegenteil: Vielmehr habe ich seine Eigenarten zu nutzen gewusst, um etwas anderes zu erreichen als das, was üblicherweise daraus geschaffen wurde. Um mein Ziel zu verwirklichen, befasste ich mich mit den Eigenschaften des Steins, lernte, ihn zu bearbeiten und versuchte zu verstehen, was sich darüber hinaus mit ihm machen ließe. Ich ließ mir von Victor die besten Werkzeuge anfertigen, die mich in die Lage versetzten, die Arbeiten so auszuführen, wie mir dies für meine Zwecke erforderlich schien. So gelang es mir schließlich, das, was ich schaffen wollte – und was vor mir noch nie jemand versucht hatte –, Wirklichkeit werden zu lassen. Meiner Meinung nach kann Magie ebenso funktionieren, ja, ich bin überzeugt, dass solche originellen Ideen bei der Schaffung von Waffen aus Menschen eine Rolle gespielt haben müssen. Schließlich waren diese Waffen vor allem wegen ihrer Originalität so wirkungsvoll – weil niemand sie bis dahin erdacht oder gar gesehen hatte. Irgendjemand hatte es also offenbar verstanden, Magie in einem schöpferischen Sinne anzuwenden. Und genau das ist es, was Jagang meiner Meinung nach derzeit wiederum mit der Magie macht. Er hat sich mit einigen Errungenschaften aus der Zeit des Großen Krieges befasst – mit den damals geschaffenen Waffen – und daraus seine Schlüsse gezogen. Das Bemerkenswerteste bei dieser Art des schöpferischen Tuns ist weniger die Arbeit selbst als vielmehr die Idee und Vision, die letztendlich erst den Erfolg der Bemühungen garantieren – ganz so, wie man Tischler und Maurer, die zuvor nur einfache Wohnhäuser und Scheunen gebaut haben, für die Errichtung eines Palasts heranziehen kann. Bei der Entstehung von Palästen ist nicht so sehr deren körperliche Leistung bemerkenswert, sondern der Akt der schöpferischen Erkenntnis, der ihr eine Richtung gibt.«
Nicci, voll konzentriert, nickte kaum merklich, während sie seine Worte abwog. »Ich kann durchaus erkennen, dass dein Gedanke nicht die krude Idee ist, für die ich ihn zunächst hielt. Bislang bin ich dieser Art zu denken noch nicht begegnet und werde darüber nachdenken müssen, welche Möglichkeiten sich damit auftun. Womöglich bist du der Erste, der den Mechanismus hinter Jagangs heimtückischem Plan – oder, was das betrifft, hinter den Schöpfungen der Zauberer aus alter Zeit wirklich verstanden hat. Das würde auch vieles erklären, was mich schon seit Jahren quält.«
In Niccis Worten schwang der Respekt vor einer Idee mit, die sie trotz ihrer Neuartigkeit vollkommen nachvollziehen konnte. Niemand, mit dem Richard jemals über Magie gesprochen hatte, hatte auf seine Ideen mit solch kenntnisreichem Feingefühl reagiert. Ihm war, als hätte zum allerersten Mal jemand wirklich begriffen, wie er die Dinge sah.
»Naja«, sagte er, »schließlich musste ich mit Jagangs Schöpfungen fertig werden. Ich sagte es bereits, dieser Nicholas hat jede Menge Ärger gemacht.«
Nicci betrachtete sein Gesicht einen Moment lang im trüben Licht. »Richard, nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte«, sagte sie schließlich mit sanfter Stimme, »war Nicholas nicht Jagangs eigentliches Ziel. Nicholas war nur eine Fingerübung.«
»Fingerübung!« Richard ließ seinen Kopf nach hinten gegen die Felswand sacken. »Also, ich weiß nicht, Nicci, da bin ich mir nicht so sicher. Nicholas der Schleifer war eine ungeheuerliche Schöpfung und ein übler Bursche. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie viel Ärger er uns gemacht hat.«
Nicci zuckte mit den Schultern. »Du hast ihn besiegt.«
Richard blinzelte sie entgeistert an. »Aus Eurem Mund klingt es so, als wäre er nichts weiter als eine kleine Unebenheit auf unserem Weg gewesen. So war es ganz und gar nicht. Lasst Euch gesagt sein, er war eine überaus beängstigende Kreatur, die uns beinahe zum Verhängnis geworden wäre.«
Bedächtig schüttelte Nicci den Kopf. »Und du lass dir gesagt sein, so ungeheuerlich dieser Nicholas auch gewesen sein mag, er war nicht das, worauf Jagang es eigentlich abgesehen hatte. Du selbst hast mir geraten, den Traumwandler nicht zu unterschätzen – mach jetzt nicht den gleichen Fehler. Er war nie der Meinung, dass dieser Nicholas dir voll und ganz gewachsen sein würde. Was du über den Einsatz von Fantasie beim Erschaffen neuer Dinge gesagt hast, klingt eigentlich ganz vernünftig, speziell in diesem Fall. Möglicherweise erklärt es sogar ein paar Dinge. Aber das wenige, das ich in Erfahrung bringen konnte, sagt mir, dass Nicholas von Anfang an nur dazu diente, die Talente jener Schwester zu fördern, die Jagang mit der Aufgabe betraut hatte, neue Waffen zu entwickeln. Nicholas war nicht Jagangs Ziel, sondern einfach nur eine Fingerübung auf dem Weg dorthin. Und dieses Ziel hat angesichts der schwindenden Zahl seiner Schwestern eine neue Dringlichkeit gewonnen, obwohl er für die Aufgabe der Herstellung neuer Waffen offenkundig immer noch genug von ihnen hat.«
Als ihm die Bedeutung dessen, was Nicci ihm da erklärte, in seiner ganzen Tragweite bewusste wurde, fühlte Richard eine kribbelnde Gänsehaut seinen Schwertarm hinaufkriechen. »Wollt Ihr damit etwa andeuten, die Erschaffung dieses Nicholas war für Jagang etwa so, als hätte er seine Tischler zu Übungszwecken ein normales Wohnhaus bauen lassen, ehe er sie mit der Errichtung von etwas weit Komplizierterem, etwa einem Palast, betraute?«
Ein Lächeln auf den Lippen, schaute Nicci zu ihm hoch. »Ja, das trifft es auf den Punkt.«
»Aber er hatte Nicholas doch von Truppen begleiten lassen, um ein Land zu regieren und um uns gefangen zu nehmen.«
»Eine reine Frage der Bequemlichkeit. Jagang hatte Nicholas das Verlangen eingeimpft, Jagd auf dich zu machen, was aber nur Teil seiner Experimente im Hinblick auf seine höheren Ziele war. Im Grunde hielt er den Schleifer gar nicht für fähig, seinen metaphysischen, übermenschlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Mag sein, dass Jagang dich dafür hasst, ein Hemmnis auf dem Weg zu seiner Eroberung der Neuen Welt zu sein, gut möglich auch, dass er dich für einen seiner nichtswürdigen Gegner hält, in dir nur einen sittenlosen Heiden sieht, der nichts anderes als den Tod verdient hat, dennoch ist er klug genug, dir gewisse Fähigkeiten zuzubilligen. Im Grunde verhält es sich so wie mit dem Fall des gefangenen Soldaten, den du geschickt hast, um Jagang zu töten. Du nahmst nicht wirklich an, dass ein einzelner Soldat tatsächlich imstande wäre, eine so schwierige Aufgabe wie die Ermordung eines gut bewachten Kaisers zu bewältigen, andererseits hatte der Mann ansonsten keinen Wert für dich, und da du überzeugt warst, es bestünde zumindest die Chance, dass er irgendwas erreicht, konntest du ihn ebenso gut auf diese Mission schicken, während du an weitaus besseren Ideen arbeitetest, von denen du dir erhebliche größere Erfolgschancen versprachst. Und wenn der Soldat dabei getötet würde, wäre dir das auch recht, denn dieses Schicksal erwartete ihn ohnehin. Genau so verhielt es sich in Nicholas’ Fall. Er war eine mithilfe von Magie erschaffene Kreatur, eine Fingerübung auf dem Weg zu einem absolut überlegenen Wesen. In Jagangs Schlachtplan spielte er keine übermäßig wertvolle Rolle, also hat er ihn benutzt, statt ihn zu töten. Im Falle eines Erfolges hätte Jagang einen entscheidenden Vorteil errungen, und wenn du ihn getötet hättest, hättest du ihm nur einen Gefallen getan.«
Richard fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er fühlte sich überwältigt angesichts dieser weit reichenden Verflechtungen. Nicci hatte er vorgeworfen, sie sperre sich dagegen, den größeren Zusammenhang zu erkennen, und nun hatte er sich desselben Versäumnisses schuldig gemacht. »Also gut«, sagte er, »was könnte Jagang Eurer Meinung nach erschaffen, das noch übler ist als Nicholas der Schleifer?«
Der Lärm der Zikaden schien in diesem Moment von bedrückender Aufdringlichkeit, so als wären sie der Feind, der ihn von allen Seiten bedrängte.
»Ich glaube, dass er einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht und ein solches Meisterwerk bereits erschaffen hat«, antwortete Nicci mit ruhiger Entschlossenheit. Sie zog sich ihre Decke um die Schultern und raffte sie am Hals zusammen. »Ich denke, das war es, womit die Männer es dort hinten im Wald zu tun bekommen haben.«
In der nahezu völligen Dunkelheit betrachtete Richard ihren Gesichtsausdruck. »Was wisst Ihr darüber?«
»Nicht eben viel«, gestand sie. »Nur ein paar hastig geflüsterte Worte einer meiner ehemaligen Mitschwestern kurz vor Antritt einer Reise.«
»Einer Reise?«
»In das Totenreich.«
Der Klang ihrer Stimme und die Art, wie sie den Blick dabei ins Unbestimmte richtete, bewogen Richard, sich nicht näher nach dem Grund für die Reisepläne dieser Frau zu erkundigen. »Und was hat sie Euch nun erzählt?«
Nicci stieß einen erschöpften Seufzer aus. »Dass Jagang schon seit geraumer Zeit Wesen fabriziert – aus dem Leben von Gefangenen, aber auch von Freiwilligen. Einige dieser jungen Zauberer glauben tatsächlich, sie opfern sich für einen höheren Zweck.« Nicci schüttelte den Kopf über diesen beklagenswerten Irrglauben. »Diese Schwester war es auch, die mir erzählte, Nicholas sei nichts weiter als ein Sprungbrett zu den eigentlichen und erhabenen Zielen Seiner Exzellenz.« Nicci sah abermals auf, um sich zu vergewissern, dass ihr Richard aufmerksam zuhörte. »Sie erzählte, Jagang stünde unmittelbar vor der Erschaffung eines Geschöpfes, ähnlich dem, das er in den alten Schriften gefunden hatte, nur weitaus tödlicher und –unbesiegbar.«
Die feinen Härchen in Richards Nacken stellten sich auf. »Ein Geschöpf? Was für eine Art von Geschöpf?«
»Eine Bestie, eine unbesiegbare, brutale Bestie.«
Beim unheilvollen Klang des Wortes musste Richard schlucken. »Und was tut diese ... diese Kreatur? Habt Ihr das in Erfahrung bringen können? Was ist ihre Natur?«
Aus irgendeinem Grund brachte er es in diesem Moment einfach nicht über sich, das von ihr gebrauchte Wort laut auszusprechen, so als könnte seine Nennung sie aus dem Dunkel der sie umgebenden Nacht herbeirufen. Nicci wandte ihre bekümmerten Augen ab. »Als die Schwester in die Arme des Todes hinüberglitt, lächelte sie wie der Hüter höchstselbst, der soeben reiche Seelenbeute gemacht hat, und sagte: ›Sobald er seine Kraft benutzt, wird die Bestie Richard Rahl endgültig erkennen. Dann wird sie ihn finden und ihn töten. Und damit wird sein Leben endlich beendet sein, so wie meines jetzt«
Richard musste sich zwingen zu blinzeln. »Hat sie außerdem noch etwas gesagt?«
Nicci schüttelte den Kopf. »Sie rang in diesem Moment bereits mit dem Tod. Dann wurde es plötzlich völlig schwarz im Raum, als der Hüter ihre Seele zu sich nahm, als Bezahlung für diverse Handel, auf die sie sich einst eingelassen hatte. Und seitdem lässt mich eine Frage nicht mehr los: Wie hat dieses Geschöpf uns überhaupt gefunden? Trotzdem, ich glaube, die Situation ist nicht ganz so aussichtslos, wie es vielleicht den Anschein hat. Schließlich hast du deine Gabe nicht benutzt, demnach dürfte Jagangs Bestie noch keine Gelegenheit gehabt haben, dich aufzuspüren.«
Richard senkte den Blick auf seine Stiefel. »Als die Soldaten angriffen«, sagte er bedrückt, während er mit dem Finger über den Rand der Ledersohle strich, »habe ich meine Gabe benutzt, um die Pfeile abzulenken. Wenn auch im Fall des letzten nicht sonderlich erfolgreich.«
Cara widersprach. »Lord Rahl, ich denke, das trifft nicht zu. Ich glaube, Ihr habt die Pfeile mit Eurem Schwert abgewehrt.«
»Ihr wart in dem Augenblick doch gar nicht dabei, also könnt Ihr auch nicht mitbekommen haben, was passiert ist«, sagte Richard und schüttelte düster den Kopf. »Ich habe das Schwert benutzt, um mich der Soldaten zu erwehren, also konnte ich es gar nicht gleichzeitig zur Abwehr Dutzender von Pfeilen benutzen. Das habe ich mit meiner Gabe getan.«
Mittlerweile hatte Nicci eine kerzengerade Haltung eingenommen. »Du hast von deiner Gabe Gebrauch gemacht? Wie hast du sie auf den Plan gerufen?«
Verlegen zuckte Richard mit den Schultern. Er hätte sich gerne genauer erinnert, was er getan hatte. »Über das Verlangen, glaube ich. Ich wusste ja nicht, dass ich am Ende schuld daran sein würde ...«
Sie berührte ihn sachte am Arm. »Sei nicht albern, du musst dir keine Vorwürfe machen. Woher hättest du das wissen sollen? Hättest du dich nicht so verhalten, wie du es getan hast, wärst du getötet worden. Du musstest handeln, um dein Leben zu retten. Von der Bestie konntest du ja schließlich nichts wissen. Außerdem bist du womöglich gar nicht alleine für ihr Auftauchen verantwortlich.«
Richard sah sie fragend an. »Was soll das denn nun schon wieder heißen?«
Nicci ließ sich nach hinten gegen die Felswand sinken. »Ich fürchte, möglicherweise habe ich selbst dazu beigetragen, dass diese Bestie uns finden kann.«
»Ihr? Wie denn das?«
»Ich habe, wie schon berichtet, subtraktive Magie benutzt, um das Blut aus deinem Körper zu entfernen und dich heilen zu können. Die Schwester hat es damals zwar nicht ausdrücklich erwähnt, trotzdem habe ich das unbehagliche Gefühl, dass diese Kreatur irgendwie mit der Unterwelt in Verbindung steht. Wenn dem so ist, könnte ich ihr, als ich mithilfe subtraktiver Magie dein Blut entfernte, sozusagen unabsichtlich eine Kostprobe deines Blutes gegeben haben.«
»Ihr habt genau richtig gehandelt«, warf Cara ein. »Ihr habt das einzig Mögliche getan. Hättet Ihr Lord Rahl stattdessen sterben lassen, hättet Ihr Jagang nur in die Hände gespielt.«
Nicci dankte ihr mit einem kurzen Nicken für ihre Unterstützung. Richard, der die Luft angehalten hatte, atmete erleichtert aus. »Und was könnt Ihr mir sonst noch über dieses Wesen erzählen?«
»Nichts allzu Aufschlussreiches, fürchte ich. Besagte Schwester erzählte mir, die Schwestern, die mit der Erschaffung von Waffen aus Menschen herumexperimentierten, hätten diesen Nicholas nur erschaffen, um im Vorfeld, vor dem Beginn ihrer eigentlichen Arbeit, einige Details zu klären. Trotzdem sind bei den Arbeiten zur Erschaffung des Schleifers einige von ihnen ums Leben gekommen sodass Jagang angesichts der großen bereits früher entstandenen Verluste jetzt allmählich an den Punkt gelangt, wo ihm die Schwestern ausgehen. Die Erschaffung dieser Bestie war offenbar weitaus komplizierter und schwieriger als die Erschaffung eines Schleifers, aber angeblich hat der Erfolg die Mühe gelohnt. Ich vermute, dass er irgendwann im Verlauf der Arbeiten Order gegeben hat, das Verfahren abzukürzen, wodurch wiederum die Unterwelt ins Spiel gebracht wurde. Wenn wir dieses Wesen bekämpfen wollen, müssen wir so viel wie möglich über diese Kreatur in Erfahrung bringen – und zwar, bevor sie unser habhaft wird. Und in Anbetracht dessen, was den Männern widerfahren ist, glaube ich nicht, dass uns dafür sehr viel Zeit bleibt.«
Was sie eigentlich meinte, aber nicht gesagt hatte, war, dass er seine in ihren Augen sinnlosen Fantasien über diese Kahlan aufgeben und sich stattdessen mit seiner ganzen Kraft und Konzentration dieser gefährlichen Schöpfung Jagangs widmen sollte.
Stattdessen antwortete er, in einem ruhigen Ton, der seine Überzeugung und Entschlossenheit ausdrücken sollte:
»Ich muss Kahlan finden.«
»Wenn du erst tot bist, kannst du gar nichts mehr tun«, entgegnete Nicci trocken. Richard streifte den Waffengurt ab und lehnte die polierte Scheide mit dem Schwert der Wahrheit an den Felsen. »Aber wir wissen doch nicht einmal, ob es sich bei dem, was die Männer dort hinten getötet hat, tatsächlich um diese Bestie gehandelt hat, von der Ihr sprecht.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Nicci.
»Nun ja, wenn sie mich finden kann, sobald ich meine Gabe benutze, wieso hat sie dann die Männer angegriffen? Freilich, an genau derselben Stelle hatte ich von meinen magischen Talenten Gebrauch gemacht, aber der Überfall erfolgte erst drei Tage später. Wenn sie mich angeblich am Gebrauch meiner Kraft erkennen kann, wieso ist sie dann über die Männer hergefallen?«
»Vielleicht hat sie einfach gedacht, Ihr wärt bei ihnen«, schlug Cara vor. Nicci nickte. »Cara könnte Recht haben.«
»Vielleicht. Aber wenn sie mich am Gebrauch meiner Gabe erkannt hatte – und Ihr diesem Wesen darüber hinaus noch eine Kostprobe meines Blutes gegeben hattet –, wieso wusste es dann nicht, dass ich nicht bei den Männern war?«
Nicci zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Es ist durchaus denkbar, dass du es durch den Gebrauch deiner Gabe nur in das ungefähre Gebiet gelockt hattest, es danach aber gewissermaßen blind für dich war. Möglicherweise war es so wütend darüber, dich knapp verfehlt zu haben, dass es in Raserei verfiel und jeden umbrachte, der sich vor Ort befand. In diesem Fall würde ich vermuten, dass die Bestie auf den erneuten Gebrauch deiner Gabe angewiesen ist, um dich endgültig zu erwischen.«
»Aber diese Schwester damals sagte doch, die Bestie würde mich erkennen, sobald ich Gebrauch von meiner Gabe mache. Das klingt für mich nicht so, als müsste ich sie noch einmal benutzen, damit die Bestie mich findet.«
»Möglicherweise hat sie dich zwar bereits geortet«, wandte Nicci ein, »aber noch nicht gefunden. Jetzt, da sie dich erkannt hat, braucht sie womöglich nur noch abzuwarten, bis du erneut Gebrauch von deiner Gabe machst, um zuzuschlagen.«
Der Gedanke hatte etwas beängstigend Einleuchtendes. »Dann ist es vermutlich wohl nur gut, dass ich nicht auf meine Gabe angewiesen bin.«
»Vor allem solltet Ihr Euch von uns beschützen lassen«, warf Cara ein. »Es wäre meiner Meinung nach gar keine gute Idee, irgendetwas zu tun, dass Euch, und sei es nur versehentlich, dazu verleiten könnte, Eure Magie zu benutzen.«
»Ich fürchte, da muss ich Cara Recht geben«, sagte Nicci. »Ich bin mir nicht sicher, was die Kostprobe deines Blutes anbetrifft, aber eins wissen wir mit Bestimmtheit, und das hat mir auch die Schwester bestätigt: Diese Bestie wird dich finden, sobald du deine Gabe benutzt.«
Richard fügte sich mit einem Nicken in das Unvermeidliche, dabei wusste er nicht einmal, ob es überhaupt durchführbar war, zumal er die genauen Umstände, die sein Talent auslösten, gar nicht kannte – es passierte einfach. So schlüssig ihre Theorie über den Verzicht auf seine Gabe klingen mochte, er war nicht sicher, ob er sie tatsächlich so weit beherrschen konnte, um zu verhindern, dass sie unversehens durch irgendwelche äußeren Umstände ausgelöst wurde.
Nicci, die ihn im schwachen Licht beobachtete, sah ihn über die düsteren Aussichten nachgrübeln und streckte die Hand vor, um seine Stirn zu fühlen. »Also«, unternahm Nicci dann den durchschaubaren Versuch, die gedrückte Stimmung in ihrem Unterschlupf zu heben, nachdem Richard erneut von Kahlan zu reden begonnen hatte, »wo hast du deine Traumfrau überhaupt kennen gelernt?«
Richard war unschlüssig, ob sie der Frage mit ein wenig Humor die Schärfe zu nehmen versuchte oder ob sie sarkastisch war. Wenn er es nicht besser wusste, hätte er gemeint, einen leichten Unterton von Eifersucht herauszuhören.
Er richtete den Blick nach oben in das Dunkel und versuchte, sich den Tag in Erinnerung zu rufen. »Ich war unterwegs im Wald und suchte nach Hinweisen auf den Mörder meines Vaters – des Mannes, den ich während meiner Kindheit stets für meinen Vater gehalten hatte, des Mannes, der mich großgezogen hatte, George Cypher. Da sah ich plötzlich Kahlan am Ufer des Trunt-Sees einen alten Händlerpfad entlanglaufen. Vier Männer waren hinter ihr her: Meuchelmörder, geschickt von Darken Rahl, um sie zu beseitigen. Alle anderen Konfessorinnen hatte er bereits umgebracht. Sie war die letzte.«
»Dann habt Ihr sie also gerettet?«, wollte Cara wissen.
»Ich habe ihr geholfen. Gemeinsam gelang es uns, die Meuchelmörder zu erledigen. Sie war nach Westland gekommen, um einen lange verschollenen Zauberer zu suchen. Wie sich herausstellte, war Zedd dieser große Zauberer, den zu finden sie ausgesandt worden war. Zedd, der damals noch das Amt des Obersten Zauberers bekleidete, obwohl er sich längst aus den Midlands zurückgezogen hatte und noch vor meiner Geburt nach Westland geflohen war. All die Jahre meiner Kindheit und Jugend ist mir gar nicht bewusst gewesen, dass Zedd ein Zauberer und sogar mein Großvater war – für mich war er immer nur mein allerbester Freund.«
Er konnte spüren, dass Nicci ihn ansah, er fühlte ihren warmen, sanften Atem auf seiner Wange. »Und weshalb wollte sie diesen großen Zauberer aufsuchen?«
»Darken Rahl hatte die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht – ein für alle unfassbar schlimmer Albtraum.«
Richard erinnerte sich noch deutlich an seinen Schrecken, als er davon erfuhr. »Ihm musste unbedingt Einhalt geboten werden, ehe er das richtige Kästchen öffnete. Kahlan war ausgesandt worden, diesen lange verschollenen Zauberer zu bitten, einen Sucher zu ernennen. Nach jenem Tag am Trunt-See, wo ich ihr zum ersten Mal begegnete, war nichts in meinem Leben mehr so wie zuvor.«
In die Stille hinein fragte Cara: »Dann war es also Liebe auf den ersten Blick?«
Richard unterließ es, den Arm zu heben und die Träne fortzuwischen, die ihm über die Wange rann, das tat mit einer zärtlichen Geste Nicci für ihn. Für einen winzigen Augenblick streifte ihre Hand sacht sein Gesicht. »Ich denke, wir sollten jetzt besser ein wenig zu schlafen versuchen«, sagte er. Nicci zog ihre Hand zurück und schmiegte ihren Kopf an seinen Arm. Es war, als könnte er sich nicht überwinden, im Dunkeln seine brennenden Augen zu schließen. Kurz darauf vernahm er Caras gleichmäßigen Atem. »Nicci?«, flüsterte er. »Ja?«
»Was sind das für Foltermethoden, die Jagang bei seinen Gefangenen anwendet?«
Er hörte Nicci tief Luft holen und diese langsam wieder ausstoßen. »Ich werde mich hüten, dir diese Frage zu beantworten, Richard. Aber dir dürfte jenseits allen Zweifels klar sein, dass Jagang ein Mann ist, der das Töten braucht.«
Richard hatte diese Frage stellen müssen. Zu seiner Erleichterung besaß Nicci genug Taktgefühl, ihm keine Antwort darauf zu geben.
»Ich kann dir gar nicht sagen«, fuhr Nicci fort, »wie oft ich mir schon gewünscht habe, ich hätte ihn getötet, als ich die Gelegenheit dazu hatte, auch wenn du Recht hast, dass der Krieg damit noch nicht beendet wäre. Ich wünschte, ich könnte aufhören, mir die vielen verpassten Gelegenheiten vorzuwerfen und über all die Dinge nachzudenken, die ich hätte tun sollen.«
Richard legte den Arm um sie und hielt ihre bebenden Schultern. Nach einer Weile fühlte er die Anspannung aus ihren Muskeln weichen. Schließlich wurde ihr Atem ruhiger, und sie schlief allmählich ein.
Wenn er Kahlan wieder finden wollte, musste er dafür sorgen, dass auch er den dringend benötigten Schlaf bekam. Er hatte kaum die Augen geschlossen, da quoll eine weitere Träne hervor. Er vermisste seine geliebte Gemahlin so sehr.
Seine Gedanken wanderten noch einmal zu dem Tag zurück, an dem er Kahlan zum ersten Mal gesehen hatte, in ihrem weißen, fließenden Seidenkleid, das sie, wie er erst viel später herausfinden sollte, als Mutter Konfessor auswies. Er erinnerte sich, wie er in ihre wunderschönen grünen Augen geschaut hatte, aus denen ihm ihre leuchtende Intelligenz entgegenblickte, und dass es ihm vom allerersten Augenblick, von diesem allerersten Blickkontakt an so vorgekommen war, als hätte er sie schon immer gekannt. Er erklärte ihr, dass sie von vier Männern verfolgt wurde, worauf sie schlicht fragte: »Möchtest du mir helfen?«
Und noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte er sich die Frage bejahen. Niemals, nicht einen einzigen Moment lang, hatte er diese Entscheidung bereut. Jetzt brauchte sie wieder seine Hilfe!
Seine letzten Gedanken, ehe er in einen unruhigen Schlaf hinüberglitt, galten Kahlan.