Augenblicklich hastete Richard mit Riesenschritten zurück durch den Wald, zurück zu den wartenden Männern und der Stelle, wo die Schreie erklungen waren. Hals über Kopf raste er durch ein verschwimmendes Gewirr aus Bäumen, Ästen, Gestrüpp, Farnen und Schlingpflanzen, sprang über vermodernde Baumstämme und setzte dank eines überlegt platzierten Stiefels über einen Findling hinweg. Er bahnte sich in geduckter Haltung einen Weg durch junge Föhrenhaine sowie ein Gestrüpp blühenden Blumenhartriegels, schlug, ohne sein Tempo zu drosseln, Lärchenzweige zur Seite und tauchte unter Tannenzweigen hindurch – mehr als einmal hätte er sich um ein Haar auf einem toten, speergleich aus einem größeren Stamm herausragenden Ast aufgespießt, ehe er im letzten Augenblick noch ausweichen konnte. In diesem leichtsinnigen Tempo durch dichten Wald zu rennen hatte halt seine Tücken – erst recht bei Regen.
Den ganzen Weg über gellte ihm beim Laufen das entsetzliche Gebrüll in den Ohren, vernahm er die Schreie, das Kreischen und die widerwärtig knackenden Laute. Hinter sich hörte er Cara, Victor und Nicci geräuschvoll durch das Unterholz brechen, aber er hatte nicht die Absicht, zu warten, bis sie ihn eingeholt hätten. Mit jedem seiner ausgreifenden Schritte, mit jedem Satz vergrößerte sich sein Vorsprung noch. Richard rannte, so schnell ihn seine Füße trugen, doch schon nach kurzer Zeit begann er zu keuchen und musste zu seiner Überraschung feststellen, dass ihm vorzeitig die Luft auszugehen drohte. Anfänglich bestürzt, besann er sich Augenblicke später auf den Grund: Nicci hatte ihm erklärt, dass er noch nicht wieder vollständig genesen sei und er sich wegen seines hohen Blutverlusts noch dringend schonen müsse, um wieder zu Kräften zu kommen. Er rannte trotzdem weiter. Dann würde er eben mit den Kräften auskommen müssen, die ihm zur Verfügung standen, es war schließlich nicht mehr weit. Vor allem aber lief er weiter, weil diese Männer Hilfe brauchten.
Manchmal, in Augenblicken wie diesem, wünschte er sich, mehr über das Herbeirufen seiner Gabe zu wissen. Seine Kenntnisse beschränkten sich im Grunde weitgehend auf das, was der Prophet Nathan Rahl ihm erklärt hatte: dass seine Kraft meist durch Zorn sowie eine besondere, ganz bestimmte Art unstillbaren Verlangens ausgelöst wurde, das er bislang weder hatte identifizieren noch isolieren können. Soweit er hatte beobachten können, war in jeder Situation ein dem Wesen nach ganz charakteristisches Verlangen nötig, um seine Kraft auszulösen.
Noch während er so durch das Gehölz hastete, senkte sich unerwartet Stille über den Wald. Nach und nach verstummten die hallenden Schreie, und die dunstige grüne Wildnis war wieder dem gedämpften Flüstern des sanften Regens überlassen, der durch das üppige Blattwerk fiel. Umgeben von einer scheinbar friedlichen und nun auch wieder stillen Welt, kam es ihm fast so vor, als hätte er sich die entsetzlichen Geräusche nur eingebildet.
Trotz seiner Erschöpfung ließ Richard in seinem Tempo nicht nach und lauschte im Laufen auf irgendein Lebenszeichen der Männer, aber sein eigener angestrengter Atem, der Puls in seinen Ohren und seine hastig dahineilenden Tritte überlagerten fast jedes andere Geräusch. Aus irgendeinem Grund erschien ihm die gespenstische Stille beängstigender als zuvor das Geschrei. Was anfangs wie die Raben geklungen hatte – ein heiseres Krächzen, das zu einer Art angsterfülltem Gekreisch anschwoll, wie ein Tier es nur im Augenblick seines gewaltsamen Todes von sich gibt –, war irgendwann in menschliche Laute umgeschlagen, bis schließlich außer der bedrohlichen Stille nichts mehr zu hören war. Richard versuchte, sich einzureden, dass er sich die Verwandlung der Schreie in menschliche Laute nur eingebildet habe. So schauderhaft das Gekreisch auch geklungen haben mochte, die bedrückende, unnatürliche, erst nach seinem Verklingen einsetzende Stille war es, bei der ihn eine prickelnde Gänsehaut überlief und sich ihm die Nackenhaare sträubten.
Unmittelbar vor Erreichen des Randes der Lichtung zog Richard endlich sein Schwert. Das unverwechselbare Geräusch beim Ziehen der Klinge hallte mit schneidendem Klirren durch den Wald und zerriss die Stille. Augenblicklich schoss der Zorn des Schwertes heiß durch jede Faser seines Körpers, um in gleicher Weise von seinem ureigenen Zorn erwidert zu werden. Wieder einmal überließ sich Richard seinen wohl vertrauten magischen Kräften, auf die er voll und ganz vertraute.
Erfüllt von der Kraft des Schwertes, brannte er darauf, endlich die Ursache der Gefahr zu sehen, dürstete es ihn danach, ihr ein Ende zu bereiten.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich aus Angst und Unsicherheit dem hochschießenden, von der uralten, von Zauberern geschaffenen Klinge ausgelösten Gewaltausbruch nur widerstrebend hingegeben, hatte er gezögert, der Aufforderung mit seinem ureigenen Zorn zu entsprechen, doch mittlerweile hatte er gelernt, sich von dem Begeisterungssturm des Zorns mitreißen zu lassen. Diese Kraft war es, die er auf sein Ziel richtete. In der Vergangenheit hatte es immer wieder Personen gegeben, die ein heftiges Verlangen nach der Kraft des Schwertes verspürt hatten, die aber in ihrer blinden Gier nach etwas, das eigentlich anderen gehörte, die geheimnisvolleren, durch den Gebrauch einer solchen Waffe heraufbeschworenen Gefahren nicht erkannt hatten. Statt zum Herrscher über die Magie waren sie zu Sklaven der Klinge geworden, Sklaven ihres eigenen Zorns und ihrer habsüchtigen Gier.
Wieder andere hatten sich der magischen Kraft dieser Waffe zu unheilvollen Zwecken bedient. Die Klinge selbst traf daran keine Schuld. Der Gebrauch des Schwertes, im Guten wie im Schlechten, war stets der bewussten Entscheidung dessen unterworfen, der sie führte, alle Verantwortung lag bei ihm. Am Rand jener Lichtung, wo wenige Tage zuvor bei dem Überfall die Soldaten ums Leben gekommen waren, hielt Richard inne. Das Schwert in der Hand, sog er – trotz des allgegenwärtigen Verwesungsgestanks – die Luft tief in seine Lungen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Als er die Augen über den bizarren Anblick schweifen ließ, der sich ihm bot, hatte er zunächst Schwierigkeiten, überhaupt zu begreifen, was er da sah.
Der Boden war bedeckt mit toten Raben, aber sie waren nicht bloß tot, sie waren in Stücke gerissen. Die Lichtung war mit Flügeln, Köpfen und anderen Kadaverteilen übersät. Tausende Federn hatten sich, gleich einer Decke aus schwarzem Schnee, über die verwesenden Soldatenleichen gelegt. Der Schock lähmte ihn nur kurz. Noch immer außer Atem, erkannte Richard, dass dies nicht der Ort war, den er gesucht hatte. Mit eiligen Schritten stürmte er über den Schauplatz des Kampfes hinweg, hastete durch die Lücken zwischen den Bäumen eine niedrige Böschung hinan und lief über das zertretene Grün bis zu jener Stelle, wo die Männer gewartet hatten.
Noch während er lief, schaukelte sich der Zorn weiter hoch und ließ ihn alle Müdigkeit und Erschöpfung vergessen, ließ ihn vergessen, dass er noch nicht wieder völlig genesen war, und bereitete ihn vor auf den zu erwartenden Kampf. In diesem Moment zählte für ihn nur eins: Er musste sich zu den Männern durchschlagen, oder präziser, er musste sich auf die Gefahr stürzen, welche die Männer bedrohte. Das Erste, was Richard ins Auge stach, als er aus dem kleinen Birkenwäldchen hervorbrach, war der Ahornbaum, unter dem die Männer gewartet hatten. Die unteren Äste waren vollkommen kahl gefegt worden. Es schien, als wäre ein Sturm herab gefahren und durch den Wald getost. Wo vor kurzem noch kleine Bäume gewachsen waren, standen jetzt nur noch zersplitterte Stümpfe. Überall lagen Zweige mit regennassem Laub oder Föhrennadeln. Riesige, bizarr zersplitterte Baumstümpfe ragten aus dem Waldboden wie zerbrochene Speere nach einer Schlacht. Nahezu alles, was zuvor in grünen Farben geleuchtet hatte, ob im matten Hellgrün des Salbeis, in Gelbgrün oder einem satten Smaragdgrün, war jetzt mit roten Spritzern besudelt. Keuchend stand Richard mit pochendem Herzen da und versuchte, seinen Zorn gegen eine Bedrohung zu richten, die er nicht einmal annähernd zu erkennen vermochte. Er suchte die Schatten und das Dunkel weiter hinten zwischen den Bäumen mit den Augen ab, um zu sehen, ob sich dort irgendetwas rührte, bemühte sich, so etwas wie Ordnung in das Chaos zu bringen, das er vor sich auf dem Waldboden erblickte. Cara kam schlitternd an seiner linken Seite zum Stehen, bereit, sich in den Kampf zu stürzen. Einen Augenblick darauf blieb Victor stolpernd rechts von ihm stehen, die Keule fest in seiner geballten Faust. Unmittelbar darauf kam auch Nicci angelaufen – zwar ohne sichtbare Waffe, trotzdem konnte Richard spüren, wie die Luft rings um sie her vor ihrer entfesselungsbereiten Kraft regelrecht knisterte. »Bei den Gütigen Seelen«, stieß der Schmied tonlos hervor und machte Anstalten, die Hand mit seiner sechsschneidigen Keule erhoben, einer tödlichen, von ihm eigenhändig angefertigten Waffe, sich vorsichtig weiter vorzutasten.
Richard hinderte ihn mit seinem erhobenen Schwert daran. Die Klinge vor der Brust, befolgte der Hufschmied widerwillig den stummen Befehl und blieb stehen.
Was auf den ersten Blick einen verwirrenden Anblick geboten hatte, zeichnete sich nun nur allzu deutlich ab. In einem Beet aus Farnen zu Richards Füßen lag, ohne die dazugehörige Hand, aber noch immer von einem braunen Flanellärmel bedeckt, der Unterarm eines Mannes. Unweit davon stand ein schwerer Schnürstiefel, aus dessen Schaft ein zersplitterter, von Sehnen und Muskeln befreiter Schienbeinknochen ragte. Gleich daneben, etwas seitlich versetzt, lag in einem Dickicht aus jungen Hartriegelsträuchern ein Stück eines menschlichen Torsos, derart zerfetzt, dass Teile der Wirbelsäule sowie einige bleiche Rippenknochen zu erkennen waren. Richard kam ein Gedanke. Er sah über seine Schulter zu Nicci. »Vielleicht Schwestern der Finsternis?«
Ohne den Blick von dem Blutbad abzuwenden, schüttelte Nicci langsam den Kopf. »Einige Merkmale scheinen ähnlich, aber wenn man das Gesamtbild berücksichtigt, hat dies mit ihrer Art zu töten nichts gemein.«
Er wusste nicht recht, ob er sich durch diese Aussage nun beruhigt fühlen sollte oder nicht. »Richard«, sagte Nicci leise unmittelbar hinter seinem Rücken. »Ich halte es für das Beste, wenn wir sofort von hier verschwinden.«
Die Warnung ihres direkten, ruhigen Tonfalls hätte nicht eindringlicher sein können, doch Richard war so erfüllt vom Zorn des Schwertes in seiner geballten Faust und seiner leidenschaftlichen Wut über den sich ihm bietenden Anblick, dass er sie gar nicht hörte. Wenn es noch Überlebende gab, musste er sie unbedingt finden. »Es ist niemand mehr am Leben«, murmelte Nicci wie als Antwort auf seine Gedanken. Wenn die Gefahr noch in der Nähe lauerte, musste er es wissen! »Wer könnte so etwas getan haben?«, fragte Victor leise, der merklich kein Interesse verspürte, diesen Ort zu verlassen, ehe er nicht den Schuldigen beim Wickel hatte.
»Sieht nicht so aus, als wären es Menschen gewesen«, erwiderte Cara in stillem Vorwurf. Als Richard schließlich zwischen die menschlichen Überreste trat, lastete die unnatürliche Stille des alles wie ein Leichentuch umhüllenden Waldes wie ein schweres Gewicht auf ihm, keine Vögel riefen, keine Insekten summten, die Eichhörnchen hatten ihr Geschnatter eingestellt. Der dämpfende Effekt des Nieselregens und des düsteren, bedeckten Himmels schien die Totenstille nur noch zu unterstreichen. Blut tropfte von Blättern, von Zweigen und den Spitzen niedergetretener Gräser, Baumstämme waren über und über damit bespritzt. Eine Hand, die erschlafften Finger leicht geöffnet und der Waffe längst beraubt, lag mit der Innenfläche nach oben auf den großen Blättern eines Gebirgsahorns an einer steinigen Böschung. Richard erblickte die Fußspuren, dort, wo sie alle diesen Ort betreten hatten, sowie einige seiner eigenen Fußabdrücke, wo er erst kurze Zeit zuvor zusammen mit Nicci, Cara und Victor aufgebrochen war. Ein Großteil der menschlichen Überreste lag in jungfräulichem Wald, in den keiner von ihnen je seinen Fuß gesetzt hatte. An keiner Stelle des Blutbades waren merkwürdige Fußspuren zu erkennen, aber an einigen unerklärlichen Stellen war der Waldboden tief zerfurcht einige dieser Rillen fraßen sich förmlich durch die mächtigen Wurzeln. Eine Hand in die Schulter seines Hemdes gekrallt, versuchte Cara ihn zurückzuhalten. »Lord Rahl, ich möchte, dass Ihr diesen Ort augenblicklich verlasst.«
Er befreite seine Schulter mit einem Ruck aus ihrem Klammergriff. »Still.«
Konzentriere dich nicht auf das, was du siehst, halte Ausschau nach dem, was dies verursacht hat und was noch kommen könnte. Dies ist der Augenblick der Wachsamkeit.
Es hätte einer solchen Warnung kaum bedurft. Er hielt das mit Silberdraht umwickelte Heft des Schwertes so fest umklammert, dass er die erhabenen Buchstaben des Wortes WAHRHEIT, gebildet aus einem in das Silber eingearbeiteten Golddraht, deutlich spürte. Auf der einen Seite grub sich das güldene Wort in seine Handfläche, auf der anderen in seine Fingerspitzen.
Unmittelbar vor seinen Füßen starrte ihm, aus einem Sumachgestrüpp, ein Männerkopf entgegen, ein stummer Schrei entstellte die erstarrten Gesichtszüge des Mannes. Richard kannte ihn, Nuri war sein Name gewesen. Alles, was dieser junge Bursche je gelernt hatte, all seine Erfahrungen, seine Planungen für die Zukunft, die Welt, die er für sich zu schaffen begonnen hatte, hatte hier sein Ende gefunden – für ihn wie für alle dieser Männer. Das eine Leben, das ihnen vergönnt gewesen war, war für immer dahin. Der quälende Schmerz über diesen Verlust, diese grässliche Endgültigkeit, drohte den Zorn des Schwertes zu überlagern und ihn vor Kummer zu erdrücken. Alle diese Männer hatten die Liebe und Wertschätzung derer erfahren, die ihrer Rückkehr harrten, jeder einzelne von ihnen würde von den Lebenden betrauert werden, mit einem Gram, der diese Menschen unauslöschlich zeichnen würde. Richard zwang sich weiterzugehen. Dies war nicht der Augenblick, um sich der Trauer hinzugeben, dies war der Augenblick, die Schuldigen zu finden, sich an ihnen zu rächen und sie zu bestrafen, ehe sie Gelegenheit hatten, diese Untat an anderen zu wiederholen.
Erst dann würden die Lebenden den Verlust dieser geliebten Seelen betrauern können. Doch sosehr er seine Suche auch ausweitete, Richard fand keinen einzigen Leichnam – keinen Leichnam im Sinne eines vollständigen, identifizierbaren Körpers –, stattdessen war der gesamte Bereich, wo die Männer gewartet hatten, mit ihren zerfetzten Überresten bedeckt. Selbst im umliegenden Wald waren noch Leichenteile zu finden, so als hätten einige von ihnen zu fliehen versucht. Wenn dies stimmte, dann war keiner der Betreffenden weit gekommen. Wohl fand er Spuren der Geflüchteten, aber keine irgendwelcher Verfolger. Als er um den Stamm einer steinalten Föhre trat, sah er sich plötzlich der oberen Hälfte eines männlichen Torsos gegenüber, der verkehrt herum an einem zersplitterten Ast baumelte. Die Überreste hingen ein gutes Stück über Richards Kopf. Was von dem armlosen Torso noch übrig war, hing wie an einem Fleischerhaken aufgespießt am Stumpf eines abgebrochenen Astes. Das Gesicht war in unvorstellbarem Entsetzen erstarrt. Da der Mann verkehrt herum hing, stand das bluttriefende Haar von seinem Schädel ab, als wäre es vor Angst erstarrt. »Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Victor leise. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Das ist Ferran.«
Richard fiel auf, dass sich auf dem Boden rings um die Lache aus Ferrans Blut keinerlei Fußspuren befanden. Auch Kahlans Spuren waren auf mysteriöse Weise verschwunden ... Das qualvolle Grauen, sich die Frage stellen zu müssen, ob Kahlan vielleicht dasselbe zugestoßen sein könnte, hätte um ein Haar seine Knie nachgeben lassen. Vor diesem quälenden Schmerz vermochte ihn nicht einmal der Zorn des Schwertes zu bewahren.
Nicci, die unmittelbar hinter ihm stand, streckte ihren Kopf vor. »Richard«, beschwor sie ihn fast im Flüsterton, »wir müssen sofort von hier verschwinden.«
Neben ihr erschien Cara. »Der Meinung bin ich auch.«
Victor schwang drohend seine Keule. »Erst will ich die Kerle erwischen, die dies getan haben.« Die Knöchel rings um den stählernen Griff traten weiß hervor. »Könnt Ihr sie aufspüren?«, fragte er Richard. »Ich halte das für keine gute Idee«, gab Nicci zu bedenken.
»Gute Idee oder nicht«, erwiderte Richard, »ich sehe keine Spuren.« Er sah in Niccis blaue Augen. »Vielleicht möchtet Ihr mich ja zu überzeugen versuchen, dass ich mir das hier auch nur einbilde?«
Sie wich seinem Blick nicht aus, unterließ es aber auch, seine Frage zu beantworten. Victor starrte hoch zu Ferran. »Ich hatte seiner Mutter versprochen, auf ihn aufzupassen. Was soll ich seiner Familie jetzt erzählen?« Tränen der Wut und des Schmerzes blitzten in seinen Augen, als er mit der Keule hinter sich auf die anderen menschlichen Überreste deutete. »Was soll ich deren Müttern, Frauen und Kindern erzählen?«
»Dass das Böse sie ermordet hat«, erklärte Richard. »Und dass du nicht ruhen wirst, bis du weißt, dass der Gerechtigkeit Genüge getan ist. Und dass sie gerächt werden.«
Victor nickte. Sein Zorn verebbte, und seine Stimme war erfüllt von Elend. »Wir müssen sie begraben.«
»Nein«, entschied Nicci mit grimmiger Miene. »Sosehr ich dein Bedürfnis verstehe, dich um sie zu kümmern, deine Freunde weilen nicht mehr hier unter diesen zerfetzten und zerstörten Körpern, deine Freunde weilen jetzt bei den Gütigen Seelen. Es ist unsere Pflicht, ihnen nicht dorthin zu folgen.«
Sofort kochte Victors Zorn erneut hoch. »Aber wir müssen doch ...«
»Nein«, fiel Nicci ihm ins Wort. »Sieh dich um, dies war ein blutiges Gemetzel. Wir dürfen uns nicht da hineinziehen lassen. Wir können für diese Männer nichts mehr tun. Wir müssen fort von hier.« Nachdrücklich packte sie Richards Arm. »Wir wissen zu wenig über das, womit wir es zu tun haben, aber was immer das hier angerichtet haben mag – ich fürchte, in deinem geschwächten Zustand wird uns dein Schwert nicht davor beschützen können, und im Augenblick kann ich das ebenso wenig. Falls dieses Etwas sich noch immer in diesem Wald befindet, ist jetzt wohl kaum der rechte Augenblick, ihm die Stirn zu bieten. Wir sind die Einzigen, die für Gerechtigkeit und Rache sorgen können, aber um das tun zu können, müssen wir am Leben bleiben.«
Mit dem Handrücken wischte sich Victor die Tränen des Kummers und des Zorns aus dem Gesicht. »Ich gebe es nur ungern zu, aber ich denke, Nicci hat Recht.«
»Was immer hinter Euch her gewesen sein mag, Lord Rahl«, sagte Cara, »ich möchte nicht, dass Ihr hier seid, falls es zufällig noch einmal zurückkommen sollte.«
Immer noch nicht bereit, die Suche nach dem, was diese Männer getötet hatte, aufzugeben, legte Richard die Stirn in Falten und musterte die Mord-Sith mit einem Gefühl wachsender Besorgnis. »Wie kommt Ihr darauf, dass dieses Wesen es auf mich abgesehen hatte?«
»Das hab ich dir doch längst erklärt«, antwortete Nicci an ihrer Stelle mit zusammengebissenen Zähnen. »Dies ist weder der geeignete Zeitpunkt noch der rechte Ort, um darüber zu diskutieren. Wir können nicht mehr hoffen, hier noch irgendetwas auszurichten, diese Männer sind rettungslos verloren.«
Rettungslos. War Kahlan etwa auch rettungslos verloren? Er durfte es niemals so weit kommen lassen, dass er das wirklich glaubte.
Sein Blick wanderte nach Norden. Er wusste nicht einmal, wo er nach ihr suchen sollte. Der Umstand, dass der aus seiner Vertiefung getretene Stein nördlich ihres Lagers gefunden worden war, bedeutete schließlich nicht, dass, wer immer Kahlan verschleppt hatte, in diese Richtung aufgebrochen war. Die Betreffenden waren möglicherweise nach Norden marschiert, um einer Begegnung mit Victor und seinen Leuten sowie den Soldaten, die den Nachschubkonvoi bewachten, aus dem Weg zu gehen, vielleicht aber wollten sie auch einfach nur unbemerkt bleiben, bis sie die unmittelbare Umgebung verlassen hätten. Anschließend konnten sie jede Richtung eingeschlagen haben.
Nur welche?
Richard wusste, dass er Hilfe brauchte, und versuchte zu überlegen, wer ihm bei einer derart vertrackten Angelegenheit würde helfen können. Wer würde ihm glauben? Zedd möglicherweise, auch wenn er nicht annahm, dass sein Großvater ihm genau die Hilfe würde geben können, die er unter diesen Umständen benötigte. Zudem war es ein schrecklich weiter Weg, erst recht, wenn sich am Ende herausstellte, dass Zedds Fähigkeiten diesem Problem nicht gewachsen waren.
Wer würde bereit und willens sein, ihm zu helfen, und besäße das erforderliche Wissen? Unvermittelt wandte er sich herum zu Victor. »Wo kann ich Pferde auftreiben?«
Die Frage erwischte Victor in einem unbedachten Augenblick. Er ließ seine schwere Keule sinken und wischte sich mit der anderen Hand das Regenwasser aus der Stirn, während er nachdachte. Schließlich furchte sich seine Stirn erneut.
»Die nächstbeste Möglichkeit wäre wahrscheinlich in Altur’Rang«, sagte er, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte.
Entschlossen schob Richard sein Schwert zurück in die Scheide. »Dann nichts wie los. Wir müssen uns beeilen.«
Die Müdigkeit vergessen, ließen die vier die rettungslos verlorenen Männer mit eiligen Schritten hinter sich zurück. Sosehr es sie auch betrübte, diesen Ort zu verlassen, war jedem von ihnen doch klar, dass es viel zu gefährlich wäre, hier zu bleiben und die Männer zu beerdigen. Jetzt, da sein Schwert wieder in der Scheide steckte, erlosch auch sein Zorn, und an seine Stelle trat die erdrückende Bürde der Trauer um die Toten. Selbst der Wald schien in ihre Trauer einzustimmen. Weit schlimmer aber war die bange Frage, was mit Kahlan geschehen sein mochte. Wenn sie sich in der Gewalt dieser bösen Macht befand ...
Denk an die Lösung, erteilte sich Richard einen Rüffel. Wenn er sie finden wollte, würde er Hilfe benötigen, und um Hilfe zu holen, brauchte er Pferde – das war jetzt sein unmittelbares Problem. Ihnen blieb noch ein halber Tag Helligkeit, und er war fest entschlossen, nicht eine Minute davon zu vergeuden. Er führte sie in kräftezehrendem Tempo mitten durch den dichten Wald fort, doch niemand beklagte sich.