Anns Gesichtsausdruck war unbezahlbar, als sie durch die große Tür trat und Nicci zwischen zwei roten Stützpfeilern hindurch in den Vorraum kommen sah. Nicci hätte lauthals gelacht, wäre ihre Unterredung mit Richard nicht emotional so auszehrend gewesen.
Nicci wusste, dass der Prophet sehr alt war, trotzdem wirkte er alles andere als gebrechlich. Hoch gewachsen und breitschultrig, reichte ihm sein auffälliges weißes Haar bis auf die Schultern. Er sah aus, als könnte er mit bloßen Händen Eisen biegen und müsste dafür nicht einmal von seiner Gabe Gebrauch machen. Aber mehr als alles andere war es der raubtierhafte Blick seiner tiefblauen Augen, der ihm diese gleichzeitig einschüchternde und anziehende Wirkung verlieh. Es waren die typischen Augen eines Rahl. Ann starrte sie mit großen Augen an. »Schwester Nicci...« Die Prälatin sagte nicht etwa »Wie gut, Euch wieder zu sehen«, noch machte sie sonst eine herzliche Bemerkung; einen Augenblick lang schien es ihr die Sprache verschlagen zu haben. Nicci fand es ein wenig erstaunlich, dass ihr diese kleine, gedrungene Person neben dem sie weit überragenden Propheten lange Zeit so groß erschienen war. Immer wieder hatte es im Palast der Propheten lange Phasen gegeben, in denen Novizinnen und Schwestern die Prälatin überhaupt nicht zu Gesicht bekamen. Dieses Sich-unsichtbar-Machen, vermutete Nicci, hatte zweifellos noch zu ihrer legendären Größe beigetragen. »Freut mich, Euch wohlauf zu sehen, Prälatin, insbesondere nach Eurem unglücklichen Ableben und der anschließenden Beerdigung.« Sie warf einen Seitenblick auf Richard, während sie den Gedanken zu Ende führte. »Wie ich höre, hielten alle Euch für tot. Erstaunlich, wie überzeugend eine solche Beerdigung wirken kann, und doch seid Ihr hier, lebendig und bei bester Gesundheit, wie es scheint.«
Das amüsierte Zucken in Richards Gesicht zeigte ihr, dass er ihre Anspielung verstanden hatte. Zedd, der etwas abseits stand, am Rand der drei in den Mittelteil des Brunnenraumes führenden Stufen, musterte Nicci mit gerunzelter Stirn und einem seltsam fragenden Blick. Ihm war ihr Hintersinn ebenfalls nicht entgangen.
»Nun, das ließ sich leider nicht vermeiden, meine Liebe« – Anns Miene verdüsterte sich –, »nachdem die Schwestern der Finsternis unsere Schwestern des Lichts unterwandert hatten.« Ein kurzer Blick hinüber zu Richard, Cara und Zedd, und die Anspannung wich aus ihrem Gesicht. »Aber Eure Gesellschaft scheint mir ein untrügliches Zeichen dafür, dass Ihr in den Schoß der Gemeinde zurückgekehrt seid, Schwester Nicci. Ich vermag gar nicht zu sagen, wie sehr mich das persönlich freut. Ich kann mir nur vorstellen, dass bei der Rettung Eurer Seele der Schöpfer höchstpersönlich seine Hand im Spiel gehabt haben muss.«
Nicci verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Der Schöpfer hatte genau genommen nichts damit zu tun. Er muss anderweitig beschäftigt gewesen sein, als man mich zwang, mein Leben in Diensten derer zu verbringen, die gewillt waren, meine Fertigkeiten bis zum Letzten auszunutzen. Vermutlich wollte er nicht damit behelligt werden, dass fromme Männer mich missbrauchten, indem sie mir einredeten, es sei meine Pflicht, ihnen wie eine Sklavin zu dienen, mich zu erniedrigen und all jene umzubringen, die sich dem Willen des Schöpfers widersetzten. Ich nehme an, ihm ist wohl die Ironie der Situation entgangen, als mich seine Wegbereiter all die unzähligen Male vergewaltigt haben. Aber damit hat es jetzt ein Ende. Richard hat mir den Wert meines Lebens aufgezeigt; und ich bin auch nicht mehr ›Schwester Nicci‹ – weder des Lichts noch der Finsternis. Von nun an bin ich einfach nur noch Nicci, wenn es Euch genehm ist... und übrigens auch, wenn nicht.«
Anns Mienenspiel wechselte zwischen ungläubigem Staunen und Empörung, während ihr Gesicht rot anlief. »Einmal Schwester, immer Schwester. Ihr habt etwas ganz Wunderbares vollbracht und dem Hüter abgeschworen, mithin seid Ihr nun wieder eine Schwester des Lichts. Ihr könnt nicht einfach aus eigenen Stücken beschließen, Euren Pflichten gegenüber den Stellvertretern des Schöpfers zu entsagen ...«
»Falls Er irgendwelche Einwände vorzubringen hat, so soll Er Seine Stimme jetzt erheben!« Das Echo von Niccis aufgebrachten Worten war kaum verklungen, da wurde es bis auf das leise Plätschern des Wassers im Brunnen still im Raum. Sie tat, als sähe sie sich im Raum um, so als verberge sich der Schöpfer womöglich hinter einem Pfeiler, bereit, jeden Moment vorzuspringen und seinen Willen kundzutun. »Nicht?« Sie verschränkte erneut die Hände und setzte abermals ihr trotziges Lächeln auf. »Nun, da er offenbar keinerlei Einwände hat, können wir es wohl bei Nicci belassen, denke ich.«
»Ich werde nicht zulassen ...«
»Es reicht, Ann«, fiel ihr Nathan mit seiner tiefen, gebieterischen Stimme ins Wort. »Es stehen wichtige Dinge an, und das gehört sicher nicht dazu. Wir sind nicht den weiten Weg hierher gekommen, damit eine tote Prälatin einer bekehrten Schwester der Finsternis Vorhaltungen macht.«
Nicci war einigermaßen überrascht, ausgerechnet aus dem Munde des Propheten die Stimme der Vernunft zu hören, und musste gestehen, dass sie dem eitlen Gerede womöglich viel zu viel Bedeutung beigemessen hatte. Resigniert verzog Ann den Mund und schob umständlich eine verirrte Haarsträhne in den lockeren Knoten an ihrem Hinterkopf zurück. »Vermutlich habt Ihr Recht. Ich fürchte, meine Liebe, angesichts des Ärgers allenthalben bin ich ein wenig verstimmt, daher möchte ich Euch bitten, meine übereilte Folgerung zu verzeihen. Wärt Ihr dazu bereit?«
Nicci neigte kurz den Kopf. »Mit Freuden, Prälatin.«
Ein Lächeln ging über Anns Lippen, ein aufrichtigeres als zuvor, wie Nicci fand. »Ich bin für Euch jetzt einfach Ann. Prälatin ist jetzt Verna. Ich bin nämlich verstorben, wie Ihr Euch erinnern werdet.«
Nicci schmunzelte. »Das seid Ihr in der Tat, Ann. Mit Verna habt Ihr eine kluge Entscheidung getroffen. Schwester Cecilia war immer schon der Meinung, dass es völlig aussichtslos ist, sie je zum Hüter bekehren zu wollen.«
»Eines Tages, wenn wir Zeit im Überfluss haben, würde ich gerne mehr über Schwester Cecilia und Richards Ausbilderinnen erfahren.« Die Vorstellung entlockte ihr ein Seufzen. »Ich war nie absolut sicher, ob Ihr und die fünf anderen tatsächlich alle Schwestern der Finsternis wart.«
»Es wäre mir ein Vergnügen, Euch alles zu erzählen, was ich über sie weiß – über die noch Lebenden, jedenfalls. Liliana und Merissa sind tot.«
Als eine kurze Unterbrechung im Gespräch entstand, nutzte Richard diese sofort, um sich bei Tom nach dem Wohlergehen seiner Schwester zu erkundigen. Nicci spürte, er hatte dem Gerede lange genug zugehört und wollte signalisieren, dass er zu wichtigeren Dingen übergehen wollte. »Es geht ihr gut, Lord Rahl«, antwortete der kräftige, blonde junge Mann nahe der Tür. »Gut. Was ist eigentlich los, Nathan?«, erkundigte sich Richard bedrückt und kam sogleich zur Sache. »Welcher Ärger führt dich her?«
»Nun ... unter anderem Ärger mit den Prophezeiungen.«
Richard entspannte sich merklich. »Oh. Nun, das ist etwas, bei dem ich dir nicht helfen kann.«
»Da wäre ich nicht so sicher«, erwiderte Nathan bedeutungsvoll. Zedd trat von dem rotgoldenen Teppich herunter und kam weiter in den Raum herein. »Lass mich raten. Du bist wegen der leeren Seiten in den Büchern der Prophezeiungen hier.«
Nicci musste sich Zedds Bemerkung zweimal durch den Kopf gehen lassen, ehe sie sicher war, sich nicht verhört zu haben.
Nathan bejahte. »Du bist soeben mit beiden Beinen mitten in den Morast getreten.«
»Was soll das heißen, du bist wegen der leeren Stellen in den Büchern der Prophezeiungen hier?« Richards Argwohn war schlagartig geweckt. »Und welche leeren Stellen überhaupt?«
»Weite Teile der Prophezeiungen – das heißt, soweit sie in entsprechenden Büchern festgehalten wurden – sind in verschiedenen von uns untersuchten Schriften einfach von den Seiten verschwunden.« Eine unheilvolle Vorahnung ließ ihn die Stirn runzeln. »Wir haben uns mit Verna beraten, die uns bestätigte, dass das gleiche unerklärliche Phänomen auch die Bücher der Prophezeiungen im Palast des Volkes in D’Hara befallen hat. Und darin liegt der Kernpunkt unserer Befürchtung. Wir sind hergekommen, um zu überprüfen, ob die Werke der Prophezeiungen hier, in der Burg der Zauberer, noch unversehrt sind.«
»Ich fürchte, das sind sie nicht«, sagte Zedd. »Offenbar wurden die hiesigen Bücher auf ganz ähnliche Weise verfälscht.«
Nathan wischte sich mit der Hand über das müde Gesicht. »Wir hatten gehofft, die hiesigen Texte wären noch nicht von diesem seltsamen Phänomen befallen, das diese Zerstörungen der Prophezeiungen verursacht hat.«
»Willst du damit etwa andeuten, es fehlen ganze Passagen in den Prophezeiungen?«, hakte Richard nach. »So ist es«, bestätigte Nathan.
»Weisen die fehlenden Prophezeiungen möglicherweise gewisse Gemeinsamkeiten auf?« Richards Frage zielte auf eine Überlegung ab, die, wie Nicci wusste, letztendlich unweigerlich eine Verbindung zu seiner eigenen Suche herstellen würde. Unter anderen Umständen hätte es sie betrübt, ja geradezu verärgert, dass er an nichts anderes als seine Besessenheit von dieser angeblich verschollenen Frau denken konnte, aber diesmal stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass Richard wieder ganz der Alte zu sein schien. »Ja, eine solche Gemeinsamkeit besteht tatsächlich. Es handelt sich ausnahmslos um Prophezeiungen, die sich mit Ereignissen ungefähr zum Zeitpunkt deiner Geburt befassen.«
Wie vom Donner gerührt starrte Richard ihn an. »Wovon genau handeln diese verschwundenen Prophezeiungen? Was ich sagen will, ist, beziehen sie sich auf spezielle Ereignisse, oder sind sie eher allgemein gehalten und betreffen nur etwa den gleichen Zeitraum?«
Nachdenklich strich sich Nathan übers Kinn. »Das ist ja gerade das Seltsame. Eigentlich sind wir der festen Überzeugung, dass wir uns an viele der verschwundenen Prophezeiungen erinnern müssten, aber an den betreffenden Stellen unseres Erinnerungsvermögens herrscht plötzlich eine ebenso vollständige Leere wie auf den Buchseiten. Wir können uns an kein einziges Wort erinnern, ja, wir wissen nicht einmal mehr, wovon sie gehandelt haben, und da sie aus den Büchern ebenfalls verschwunden sind, kann ich dir nicht einmal sagen, ob sie ereignis- oder zeitbezogen waren – oder womöglich einen ganz anderen Bezug hatten. Wir können nur konstatieren, dass sie verschwunden sind. Das ist mehr oder weniger alles.«
Richards Blick wanderte zu Nicci, so als wollte er fragen, ob sie den Zusammenhang erkannt hatte. Sie fand, dass er das eigentlich deutlich sehen müsse. Trotz seines nach wie vor beiläufigen Tons war ihr sofort klar, wie zielgerichtet die hinter seinen Worten liegende Absicht war.
»Ziemlich merkwürdig, dass etwas, das man zeit seines Lebens sicher wusste, einfach aus dem Gedächtnis verschwinden kann, findest du nicht auch?«
»Das finde ich allerdings«, bestätigte Nathan. »Irgendwelche Vorschläge zu diesem Punkt, Zedd?«
Zedd, der Richard schweigend und aufmerksam beobachtet hatte, meinte nickend: »Nun, ich könnte euch den Grund dafür nennen, falls euch das weiterhilft.« Als er ein unschuldiges Lächeln aufsetzte, bemerkte Nicci, dass Rikka, die etwas weiter hinten in den Schatten jenseits der roten Pfeiler stand, ebenfalls schmunzelte. Nathan, anfangs noch verblüfft, wurde plötzlich ganz aufgeregt vor Neugier. Sachte zupfte Richard an der Schulter von Zedds Gewand. »Du kennst den Grund?«
»Bist du wirklich sicher?« Nathan kam näher und schob Richard aus dem Weg. Ann war sofort an seiner Seite. »Und was ist nun die Ursache? Was geschieht mit den Prophezeiungen? Nun rede doch schon.«
»Ich fürchte, die Ursache ist ein so genannter Prophezeiungswurm.«
Nathan und Ann, die Mienen ein Ausdruck völliger Verständnislosigkeit, blinzelten verwirrt. »Ein was?«, fragte Nathan, der plötzlich misstrauisch geworden war. »Die Ursache für das Verschwinden der Texte ist ein Prophezeiungswurm. Ist die Gabelung einer Prophezeiung einmal von dieser Geißel befallen, bahnt sich diese unbemerkt einen Weg durch den gesamten Zweig und verschlingt ihn dabei. Da sie die Prophezeiung als solche vernichtet, hat dies zur Folge, dass mit der Zeit sämtliche ihrer Manifestationen – also der niedergeschriebene Text der Prophezeiung oder jedwede Erinnerung an sie, ebenfalls ausgelöscht werden. Ein ziemlich bösartiges kleines Kerlchen.« Zedd musterte ihre angespannten Gesichter mit einem höflichen Lächeln. »Wenn ihr wollt, kann ich euch die entsprechenden Textpassagen zeigen.«
»Das will ich wohl meinen«, erwiderte Nathan.
»Wenn die Sache so wichtig ist, Zedd«, warf Richard ein, »wieso hast du dann bislang nichts davon erwähnt?«
Zedd versetzte ihm einen vertraulichen Klaps auf die Schulter und machte Anstalten aufzubrechen. »Nun, mein Junge, als du herkamst, warst du wohl kaum in der Stimmung, dir etwas anderes anzuhören als das, was unmittelbar mit dem Grund für dein Kommen zu tun hatte. Schon vergessen? Du hast mit ziemlichem Nachdruck darauf bestanden, du seist in Schwierigkeiten und müsstest unbedingt mit mir darüber sprechen. Und seitdem warst du nicht gerade offen für Gespräche. Du warst doch ziemlich ... durcheinander.«
»Ja, mag sein.« Richard bekam seinen Großvater am Arm zu fassen und hielt ihn fest, ehe er sich entfernen konnte. »Hör zu, Zedd, ich muss dir etwas erklären, das mit dieser ganzen Geschichte und mit jenem Abend zu tun hat.«
»Und das wäre, mein Junge?«
»Mir ist klar geworden, dass es keinen Widerspruch geben kann.«
»Das hatte ich auch nicht so recht angenommen.«
»Aber an jenem Abend ging es noch um etwas anderes. Das Gesetz, um das es dort unten am Grab im Wesentlichen ging, war nicht dasselbe, welches du gerade zitiert hast. In dem Moment mag es dir vielleicht so vorgekommen sein, aber das Gesetz, gegen das ich verstoßen habe, war ein anderes – nämlich jenes, welches unter anderem besagt, man könne Menschen dazu bringen, eine Lüge zu glauben, weil sie befürchten, sie könnte wahr sein. Genau diesen Fehler habe ich in diesem Moment gemacht. Ich habe nicht etwas geglaubt, das widersprüchlich war, sondern eine Lüge, und zwar weil ich ungeheure Angst hatte, sie könnte wahr sein. Das Gesetz der Nichtexistenz von Widersprüchen wäre eine Möglichkeit gewesen, anhand derer ich meine Vermutungen hätte überprüfen sollen. Dass ich es nicht getan habe, war gewiss ein Fehler. Mir ist klar, wie es in deinen Augen ausgesehen haben muss, schließlich wusstest du ja nicht, was inzwischen alles vorgefallen war. Aber das heißt natürlich nicht, dass ich aus dem verfehlten Bedürfnis heraus, dir eine Freude zu machen, oder weil ich Angst hatte, was du von mir denken könntest, meine Suche nach der Wahrheit hätte einstellen sollen.«
Für einen Augenblick kreuzte sich sein Blick mit Niccis. »Nicci hat mir geholfen, mein fehlerhaftes Verhalten einzusehen.«
Er richtete seinen Blick wieder auf seinen Großvater. »Im Grunde wolltest du mir wahrscheinlich zeigen, dass das von dir angeführte Gesetz noch mehr besagt. Denn es bedeutet auch, dass man keine widersprüchlichen Werte oder Ziele verfolgen kann. So ist es zum Beispiel unsinnig, davon zu sprechen, welch ein wichtiger Wert Ehrlichkeit sei, wenn man im selben Atemzug eine Lüge auftischt. Ebenso sinnlos ist es zu behaupten, man habe Gerechtigkeit im Sinn, wenn man sich gleichzeitig weigert, einen Schuldigen für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen.
Und genau das macht das Herzstück unseres Kampfes aus: Es ist die Tatsache der Nichtexistenz von Widersprüchen, die das Regime der Imperialen Ordnung so mörderisch macht. Diese Leute schreiben sich Selbstlosigkeit als höchstes Ziel auf ihre Fahnen, aber aus ihrer angeblich so selbstlosen Sorge für das Individuum opfern sie ein anderes, und diesen Aderlass übertünchen sie mit der Behauptung, dieses Opfer sei die moralische Pflicht dessen, der geopfert wird. Im Grunde aber ist dies nichts als organisierte Beutemacherei, eine Einstellung, mit der man vielleicht Diebe und Mörder beglücken kann, die sich aber keinen Pfifferling um deren Opfer schert. Das Verfolgen von Zielen, die auf diesem Widerspruch beruhen, führt zwangsläufig zu einer weiten Verbreitung von Elend und Tod. Man gibt vor, sich für das Recht auf Leben einzusetzen, in Wahrheit aber nimmt man dafür den Tod bereitwillig in Kauf.
Das von dir angeführte Gesetz bedeutet, dass ich, anders als die Gefolgsleute Jagangs, nicht einfach behaupten kann, die Wahrheit zu suchen, nur um gleich darauf bereitwillig eine Lüge zu glauben, ohne meine Hypothesen zu überprüfen, und sei es, weil ich Angst davor habe. Insoweit habe ich gegen das von dir zitierte Gesetz verstoßen. Ich hätte den scheinbaren Widerspruch erkennen müssen, dann hätte ich nämlich festgestellt, dass ich die Wahrheit vor mir habe. An diesem Punkt habe ich mir selbst etwas vergeben.«
»Soll das etwa heißen, du glaubst jetzt nicht mehr, dass es tatsächlich Kahlan Amnell war?«, hakte Zedd nach. »Wer sagt denn, dass diese Leiche die Frau sein muss, für die du sie hältst? Nichts dort hat meiner Überzeugung widersprochen, dass sie es nicht ist, das glaubte ich nur, weil ich befürchtete, es könnte sein. Aber so war es nicht.«
Zedd holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. »Du bist im Begriff, dich auf sehr dünnes Eis zu begeben, Richard.«
»Ach, wirklich? Angenommen, ich behauptete, es gebe keine Prophezeiungen, und würde dir zum Beweis, dass dein Glaube an Prophezeiungen falsch sei, die Bücher mit den unbeschriebenen Seiten vorlegen, dann wärst du wohl kaum glücklich über meine logische Erklärung. Die Überzeugung, gewisse Prophezeiungen existierten trotz des Umstandes, dass die angeblichen Bücher der Prophezeiungen unbeschrieben sind, stellt für dich keinen Widerspruch dar, sondern ist lediglich ein verwirrender Tatbestand, über den du zunächst einmal nicht hinreichend informiert bist, um die Fakten zu erklären. Schließlich kann dich niemand zwingen, ohne ausreichende Informationen oder vor Abschluss deiner Ermittlungen zu einer Schlussfolgerung zu gelangen oder eine aus anderen Gründen nicht akzeptable Auffassung zu übernehmen. Was für ein Sucher wäre ich, wenn ich mich so verhielte? Schließlich ist es der Verstand eines Mannes, der ihn zum Sucher macht, und nicht das Schwert. Das Schwert ist nur ein Werkzeug – das hast du mir selbst beigebracht.
In Kahlans Fall sind meiner Meinung nach immer noch zu viele Fragen offen, um mit Bestimmtheit sagen zu können, dass das, was wir in jener verregneten Nacht gesehen haben, die Wahrheit ist. Bis zum endgültigen Beweis werde ich also weiter nach der Wahrheit suchen, denn was hier geschieht, ist in meinen Augen weit gefährlicher, als außer mir irgendjemandem klar zu sein scheint – mal ganz abgesehen davon, dass mir sehr daran gelegen ist, einen geliebten Menschen wieder zu finden, der dringend meine Hilfe braucht.«
Zedd setzte sein großväterliches Lächeln auf. »Dagegen ist nichts einzuwenden, Richard, wahrlich nicht. Trotzdem erwarte ich irgendeinen Beweis von dir, dein Wort allein genügt mir nicht.«
Richard nickte seinem Großvater entschlossen zu. »Zunächst einmal wirst du wohl zugeben müssen, wie verdächtig es ist, dass nur Prophezeiungen rund um Kahlans und mein Leben verschwunden sind. Die Erinnerung an sie wurde gelöscht, und nun sind auch noch jene Prophezeiungen verschwunden, die vermutlich einen Hinweis auf sie enthalten haben. In beiden Fällen wurde die Erinnerung eines jeden an zwei durchaus reale Dinge – die Person selbst sowie die sie betreffenden Prophezeiungen – getilgt. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
Nicci war ungeheuer erleichtert, Richard wieder logisch denken zu sehen. Gleichzeitig beschlich sie der Verdacht, dass das, was er da sagte, auf merkwürdige Weise gar nicht so abwegig klang. »Ja, mein Junge, ich sehe durchaus, worauf du hinaus willst, aber siehst du auch, dass deine Hypothese ein gewisses Problem birgt?«
»Und das wäre?«
»Wir alle erinnern uns an dich, richtig? Und doch sind die dich betreffenden Prophezeiungen verschwunden. Es zeigt sich also, dass das Problem mit den Prophezeiungen in diesem Fall nicht das Geringste mit dem zu tun hat, von dem du dir eine Erklärung oder gar einen Beweis für die Existenz Kahlan Amnells erhoffst.«
»Und wieso nicht?«
Zedd stieg langsam die Stufen hinauf. »Weil es etwas mit der Natur dessen zu tun hat, was ich bei meinen eigenen Nachforschungen zu dem Problem der Bücher der Prophezeiungen herausgefunden habe. Ich bin nämlich auch ziemlich neugierig, musst du wissen.«
»Das weiß ich, Zedd. Aber es könnte doch zusammenhängen«, beharrte Richard, während er neben seinem Großvater herlief.
Als auch Nicci ihm hinterher eilte, waren die Übrigen gezwungen, sich ihnen anzuschließen. »Es mag dir vielleicht so erscheinen, Junge, aber deine Theorie weist gewisse Mängel auf, denn die Fakten decken sich nicht ganz mit deiner Folgerung. Du versuchst dir ein paar Stiefel anzuziehen, die zwar gut aussehen, aber leider etwas klein ausgefallen sind.« Er versetzte ihm einen Klaps auf die Schulter. »Sobald wir in der Bibliothek sind, werde ich dir zeigen, was ich meine.«
»Wer ist eigentlich diese Kahlan?«, fragte Nathan.
»Jemand, der verschwunden ist und den ich noch nicht wieder gefunden habe«, antwortete Richard über seine Schulter. »Aber das werde ich noch.«
Dann blieb er stehen und wandte sich herum zu Ann und Nathan. »Weiß vielleicht von euch jemand, was sich hinter dem Begriff Feuerkette verbirgt?« Die beiden schüttelten den Kopf. »Und was ist mit der vierköpfigen Viper, oder dem Herz der Leere?«
»Ich fürchte, zweimal nein, Richard«, antwortete Ann. »Aber da wir gerade beim Thema sind: Es gibt da noch ein paar andere Dinge, über die wir mit dir sprechen müssen.«
»Sobald wir Zedds sich auf die Prophezeiungen beziehende Textstelle gesehen haben«, entschied Nathan. »Dann kommt«, sagte Zedd, an alle gewandt, raffte mit einer eleganten, schwungvollen Bewegung sein schlichtes Gewand und marschierte los.