Als Werner Zadorowski blinzelnd die Augen öffnete, sah er, daß sich jemand an Bindigs Gepäck zu schaffen machte. Es war noch nicht hell, und er konnte die Gestalt, die da herumhantierte, nur undeutlich erkennen. Er richtete sich langsam auf und zog die Kaie an. Dabei merkte er, daß Paniczek neben ihm noch rasselnd schnarchte. Er hatte sich erst vor ein paar Tagen hier einquartiert. Auch der Obergefreite in der Ecke schlief noch. Er hatte am Abend eine Flasche Genever, zur Hälfte gemischt mit Rotwein, den sie zur Verpflegung erhalten hatten, ausgetrunken.
Zado setzte sich mit einem Ruck auf und sagte halblaut: »He, was suchst du da?«
In diesem Augenblick erkannte er Bindig. Er erhob sich schnell und reckte ein paarmal die verschlafenen Glieder.
»Nanu, Kleiner!« sagte er dann. Das ist aber eine Überraschung! Ich denke, du kannst noch keinen Finger bewegen.
Bindig begrüßte ihn und setzte sich auf den Strohsack. Er sah noch blaß aus im Licht der Stearinkerze, die Zado anzündete, und sein Gesicht war ziemlich schmal. Aber Zado verspürte ein Gefühl der Erleichterung darüber, daß Bindig überhaupt wieder da war. »Bleibst du«, fragte er, »oder bist du bloß gekommen, um was zu holen?«
Bindig schüttelte den Kopf. Er hockte auf dem Strohsack und kramte in den Taschen nach Zigaretten. Als er welche gefunden hatte, hielt er Zado eine hin und brannte sich selbst eine an. Dann sagte er: »Ich bleibe. Ich fühle mich wieder ganz gesund.«
Zado zog an der Zigarette und betrachtete Bindig. Sie saßen einander gegenüber in dem gespenstischen Licht, das die am Boden stehende Kerze von unten her auf ihre Gesichter warf.
Es hat ihn verdammt mitgenommen, dachte Zado. Wie war das bloß möglich? Man weiß nicht einmal richtig, was ihm gefehlt hat. Nervenfieber? Jedenfalls war es keine Erkältung oder so etwas. Es hat ihn um ein paar Jahre älter gemacht. Man könnte glauben, jetzt einen richtigen Mann vor sich zu haben. Dabei ist er doch noch nicht viel mehr als ein bedauernswerter großer Junge, der sich in eine eigenartige Frau verliebt hat. Scheinbar nicht ohne auf Gegenliebe zu stoßen. Ob sie ihn nun wirklich liebt oder ob das so ein Verhältnis ist, das sich zwischen Bett und Waschbecken abspielt? Wer lehrt einen die Weiber kennen? Vielleicht hat sie doch nichts mit dem taubstummen Halbidioten, und es ist ihr ganz gelegen gekommen, daß Bindig sich in sie verliebt hat.
Die Weiber sind heute nicht viel mehr wert als irgendein Ausrüstungsstück, das man bekommt. Bloß, daß sie nicht ins Soldbuch eingetragen werden. Wer weiß, ob sie jemals mehr wert gewesen sind. Es ist vielleicht alles nur Einbildung, und sie sind genau wie wir, und dann braucht man kein Wort mehr darüber zu verlieren.
»Hat sie dich gepflegt?« erkundigte er sich.
Bindig lächelte. Dann sagte er knapp: »Sehr gut.«
»Kann ich mir denken«, sagte Zado und nickte. »Und jetzt?«
»Was jetzt?«
»Wie ich dich kenne, wirst du sie heiraten. Würde mich gar nicht überraschen. Ich war genauso. Das hat sich erst später gegeben.«
Bindig fragte nachdenklich: »Was hältst du davon, wenn ich sie heirate?«
Zado kniff die Augenlider zu einem schmalen Schlitz zusammen. Er zog an der Zigarette und sah Bindig dabei aufmerksam an. Er dachte, daß sie ihn doch jetzt schon eine ganze Zeit in der Mache hatten, aber er hat trotzdem Vorstellungen von der Welt, wie sie ein Kind hat.
»Die Geschichte hat zwei Seiten«, sagte er langsam. Er polkte mit dem abgebrannten Streichholz an der Kerze herum. »Die eine Seite ist die, daß Alf deine Habseligkeiten nicht per Feldpost an sie zu schicken braucht, wenn du hops gehst. Er kann die paar Schritte zu Fuß gehen und ihr das Zeug persönlich überreichen. Die andere Seite ist die, daß sie sich in Zukunft ein bißchen wird vorsehen müssen, wenn sie einen anderen Mann zu sich nimmt. Kann sein, du kommst plötzlich und unerwartet vom Einsatz zurück und hast gerade noch eine schön lockere Hand.«
Bindig schüttelte den Kopf. Er sagte unwillig: »Mit dir kann man über solche Dinge nicht sprechen. Wenn es sich um Frauen handelt, bist du ein Schwein.«
»Das ehrt mich«, sagte Zado. »Würdest du einen Schnaps mit mir trinken?«
Bindig sagte nichts. Er wußte, daß man mit Zado nicht über Frauen sprechen konnte. Er wußte auch, warum das so war. Es kränkte ihn nicht, daß Zado Anna mit den gleichen Augen betrachtete wie die Huren, mit denen er sich abgegeben hatte. Aber er bedauerte es, daß er überhaupt mit niemandem über das sprechen konnte, was zwischen ihm und Anna war. Er sah, wie Zado aus seinem Gepäck eine Flasche hervorzog und Schnaps in zwei Trinkbecher einschenkte.
»Wo hast du den französischen Kognak her?« fragte er. »Habt ihr welchen bekommen?«
Zado hielt ihm einen der Becher hin und grinste. »Mein lieber Junge, im letzten Stadium dieses grandiosen Krieges, ganz kurz vor dem Endsieg, wird an einfache Soldaten kein Kognak mehr ausgegeben. Das müßtest du wissen. Das würde den Sieg verzögern. Um diese Zeit gibt es echten germanischen Zuteilungsschnaps und ein Produkt, das man fälschlicherweise als Rotwein bezeichnet, das aber viel besser als Rotwein ist, weil man es nämlich nicht trinken kann und sich deshalb die Füße damit wäscht. Das härtet die Füße ab, und dieser Umstand erhöht die Marschleistung einer Truppe ganz beträchtlich. Prost!«
Sie tranken. Dann sagte Bindig: »Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
Zado nickte. Er hatte den Becher zur Hälfte ausgetrunken und fühlte, wie der Kognak im Magen brannte. »Ich freue mich, daß dir das auffällt«, sagte er. »Ich bin überhaupt froh, daß du wieder da bist. Ich war regelrecht einsam.« Während sie tranken, rührte sich Paniczek. Er wälzte sich auf die andere Seite und murmelte ein paar leise Worte im Schlaf.
»Wie ist das überhaupt passiert?« wollte Zado wissen. Er war nur zweimal bei Bindig gewesen. Einmal hatte er im Fieber dagelegen, und beim zweitenmal war er noch zu schwach gewesen, um viel zu sprechen.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Bindig nachdenklich, »mit einemmal war es eben zu Ende. Ich denke, es wird sich nicht so schnell wiederholen.«
Zado musterte ihn eine Weile. Dann fragte er: »Was war los mit dieser Harmonika? Du hast im Fieber fortwährend von einer Harmonika phantasiert.«
»Habe ich das? Wer hat es dir erzählt?«
»Wer schon! Anna.«
Sie hatte ihm selbst nichts davon gesagt. Nicht einmal, daß er überhaupt phantasiert hatte. Er wurde unsicher, aber er faßte sich schnell. Zado war nicht Timm.
»Du kannst das nicht wissen«, sagte er langsam. »Ich hatte keine Gelegenheit, es dir überhaupt zu erzählen. Wir haben eine Mine gelegt und einen Wagen hochgehen lassen.«
»Das weiß ich. Das hat mir Timm erzählt. Er ist sehr stolz darauf. Er hat gesagt, du hättest sehr geistesgegenwärtig gehandelt.«
»Hat er noch etwas erzählt?«
»Nein. Nur das. Er bekam gestern die goldene Nahkampfspange. Ich wette, er ist jetzt noch blau. Deine bronzene ist auch da. Vielleicht verleihen sie sie dir heute.«
»Das mit der Harmonika war so«, begann Bindig, »in dem Lastwagen saß eine Frau. Die spielte Harmonika, als die Mine den Wagen zerriß.«
»Habt ihr sie gefunden?«
»Ja. Nachher fanden wir sie.«
»Tot?«
Bindig schüttelte den Kopf. Er konnte jetzt wieder darüber sprechen. Es war vorbei. Es schien überwunden zu sein.
»Nein, nicht tot«, sagte er. Zado kratzte sich am Kopf. Er begann zu begreifen, was geschehen war.
»Und?« erkundigte er sich vorsichtig.
»Sie war schwer verletzt«, sagte Bindig.
Zado nickte. Er fragte, ohne Bindig anzusehen: »Wer hat sie erschossen? Timm oder du?«
»Sie bekam ihre Pistole in die Hand«, sagte Bindig, »und sie wollte auf Timm schießen.«
»Ich verstehe«, nickte Zado, »jetzt ist mir das klar.«
»Nicht ganz.« Bindig blickte in den Trinkbecher, in dem noch ein Rest Kognak war. Er sagte: »Timm sah das genauso wie ich. Aber er ließ die Hände in den Hosentaschen und fragte nur, ob ich zusehen wolle, wie sie meinen Unteroffizier abknalle. So war das.«
Er trank den Rest Kognak und brannte sich eine neue Zigarette an.
Zado blickte düster auf die schmutzigen Dielen. Dann nickte er und sagte: »So ungefähr habe ich es mir auch vorgestellt. Jetzt ist mir klar, was dir gefehlt hat, als du zurückkamst.«
Er goß neuen Kognak in die Becher. Dann sagte er angeekelt: »Klaus Timm – dafür bekam er die goldene Spange. Er hat sie sich ehrlich verdient.«
Bindig fügte hinzu: »Und ich werde die bronzene dafür bekommen. Jedesmal, wenn ich sie ansehe, werde ich mich daran erinnern müssen.«
»Junge«, sagte Zado bedächtig, »du bist zu weich. Du bist nicht für diesen Krieg gemacht. Du bist zwar ein leidlicher Soldat, aber du wirst trotzdem daran kaputtgehen. Ich kenne dich gut, du bist nicht der Mann dafür.«
»Möglich«, gab Bindig leise zurück, »und du?«
»Ich«, sagte Zado, »ich glaube, ich habe das hinter mir, was dich drückt. Bei mir ist es anders. Ich kann es auswischen. Einfach wie einen Satz, den der Lehrer in der Schule an die Tafel geschrieben hat. Es fällt mir nicht mehr schwer. Ich bin darüber hinweg. Aber du wirst es nicht schaffen.«
»Vielleicht geht es mir einmal ebenso«, meinte Bindig zögernd. »Manchmal glaube ich, daß ich auch eines Tages über gar nichts mehr werde nachdenken müssen.«
Aber Zado schüttelte den Kopf. »Du nicht. Du bist dafür nicht verdorben genug. Du bist einer von denen, die ihr Gefühl nicht ausschalten können. Ich weiß nicht, ob ich dich dazu beglückwünschen oder ob ich dich bedauern soll. Ich glaube, ich sollte dich beglückwünschen.
Sie haben wieder eine Gruppe drüben«, sagte er dann schnell. »Irgendetwas geht vor sich. Sie wollen unbedingt einen Gefangenen aus einem Stab im Hinterland haben. Mir kommt es so vor, als wollten sie fünf Minuten vor Toresschluß schon ganz genau die Leute kennenlernen, die von hier aus nach Berlin marschieren.«
»Und uns?« fragte Bindig. »Ob sie uns wieder einsetzen?«
Zado bewegte leicht die Schultern. »Sie werden erst wieder was unternehmen, wenn diese Gruppe zurück ist. Aber ich habe das Gefühl, als hätten sie einen Plan für eine ganz verrückte Sache. Timm weiß noch nichts, sonst hätte ich vielleicht ein paar Bemerkungen darüber aufgeschnappt. Aber jedenfalls haben sie etwas vor. Du wirst es sehen.«
Bindig sah nach der Uhr am Handgelenk. Der Tag war angebrochen.
Er fragte Zado: »Was gibt es für Dienst?«
»Leichte Sachen«, gab Zado zurück, »das sicherste Zeichen dafür, daß sie uns für ein verrücktes Ding brauchen.«
Bindig atmete tief. »Wie viele solche Dinge wird es noch geben?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Zado leise, »aber die Russen wissen es. Ich wette, sie wissen heute schon den Termin, zu dem sie Berlin einnehmen werden.«
Paniczek walzte sich wieder auf die andere Seite. Er hatte die Decke bis zum Hals gezogen. Die Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Der Mund war offen, und ein dünner Speichelfaden lief auf den Strohsack. Dann, als er sich herumgewälzt hatte, murmelte er halblaut: »Barbara… und wird schon… ich… habe Barbara… komm schon her…«
»Halt die Fresse, du Trottel!« rief Zado ihn an. Als Paniczek sich regte, sagte er: »Du bist doch der größte Idiot in diesem ganzen Laden!«
»Ich…« Paniczek richtete sich verschlafen auf und blinzelte in das Licht der Kerze. »Das war so…«
»Ach«, sagte Zado, und Bindig wußte nicht, ob er wütend war oder scherzte, »das war deine Barbara! Hör auf damit. Sie schläft um diese Zeit gerade mit einem Leutnant von der Heimatflak oder mit einem uk. gestellten Parteibonzen. Sie kriegt bloß den Schluckauf, wenn du dauernd an sie denkst. Das ist in solchen Situationen verflucht peinlich, du solltest das wissen I«
Aus dem Nebenhaus kam das Geräusch einer zuschlagenden Tür. Dann knirschten Schritte über den Schnee, und der Posten, der die Tür aufriß, raunzte heiser: »Los! Auf, ihr Brüder! Hoch die Ärsche!«
Alf verlieh Bindig die Nahkampfspange persönlich. Er sagte ein paar Worte über seinen Mut, und dann heftete er ihm die Auszeichnung an die Uniform und drückte ihm die Hand.
Die Kompanie war angetreten, und die Soldaten froren, weil sie während der ganzen Zeit stillstehen mußten. Alf zog schnell die Handschuhe wieder über. Ein wenig leiser, so daß es die angetretenen Soldaten nicht hörten, erkundigte er sich, ob Bindig wieder völlig gesund sei.
Bindig hob ein wenig den Kopf und antwortete: »Jawohl, Herr Leutnant. Ich fühle mich gesund.«
»Eine Art Fieber, was Sie da hatten. Haben Sie das öfter?«
»Ich hatte es zum erstenmal, Herr Leutnant.«
»Keine Nachwirkungen?«
»Ich denke nicht.«
»Ich will es hoffen. Sie werden gebraucht. Wir haben große Pläne.«
Am Nachmittag zog Timm mit seinem Zug ein paar hundert Meter hinter das Dorf zu einer Übung. Es hatte noch einige Nächte hindurch geschneit, und der Schnee war jetzt tief und weich. Er deckte die Felder völlig zu, so daß es nirgendwo mehr einen Fleck kahler Erde in dem weißen Einerlei der Landschaft gab. Darunter war der Boden steinhart gefroren.
Einmal hatte es getaut, aber nur einen halben Tag lang, und dann war der Frost wiedergekommen. Er hatte die letzte Feuchtigkeit aus den Ästen der Bäume gepreßt und sie mit einer dicken Schicht Reif überzogen. Die Krähenschwärme krächzten heiser über den verschneiten Feldern, und die Tiere hockten zuweilen in dichten Scharen am Boden. Mittags, wenn die Sonne den Schnee aufleuchten ließ, daß sein Glanz die Augenschmerzen machte, kamen die Flieger.
Sie waren nahezu unangreifbar, denn es gab kaum Flakgeschütze, nur ein paar verstreut aufgestellte Zweizentimeterkanonen. Aber die hüteten sich, auf die schnellen silbernen Vögel mit dem roten Stern unter den Tragflächen zu schießen, denn die Flieger wußten die Sonne auszunutzen. Hatten sie erst einmal Leben auf der Erde ausgemacht, dann stießen sie, mit der Sonne im Rücken, herab und schossen jede Abwehr zusammen. Niemand war sicher vor ihnen.
Sie griffen die Nachschubkolonnen an und die Postholer, sie ließen Raketen auf Artilleriestellungen und Etappendörfer herabzischen. Sie machten Jagd auf Maschinengewehrnester und selbst auf einzelne Melder, die sie auf der weiß verschneiten Ebene unter sich erkannten. Timm verlangte an diesem Nachmittag nicht viel von seinem Zug. Er ließ ausschwärmen und laufen und die Männer eine Stunde lang das lautlose Kriechen durch den lockeren Schnee üben. Er zog mit ihnen in ein Wäldchen, wo sie auf eiserne Kippscheiben schossen, und war zufrieden, wenn sie mit der Pistole bei drei Schüssen zwei Treffer aufzuweisen hatten. Er hetzte sie nicht und legte mehr Rauchpausen ein als gewöhnlich. Er ließ sogar eine Flasche billigen deutschen Wacholder, der nach Medizin und Kampfer schmeckte, reihum gehen und beendete den Dienst früher, als es im Plan vorgesehen war, den Alf aufgestellt hatte.
Das änderte sich auch in den folgenden Tagen nicht. Manchmal zogen sie nicht erst aus dem Dorf hinaus, sondern bekamen in einer Scheune, deren Dach halb abgerissen war, Unterricht im Minenlegen oder im Anbringen von Sprengkörpern.
Die Tage verflossen, ohne daß es größere Ereignisse gab. Es schien, als sei die Front eingefroren, als bestünde keine Aussicht darauf, daß sie in absehbarer Zeit an dieser Stelle zum Leben erwachen könnte.
Die Infanterie schoß wenig, und die schweren Geschütze brüllten nur selten auf. Am späten Nachmittag tasteten die sowjetischen Granatwerfer die deutschen Stellungen ab. Es waren immer einzelne Schüsse, die sie abgaben, und die Unerfahrenen schenkten ihnen keine Beachtung. Andere allerdings, die nicht das erste Jahr an der Front verbrachten, wußten, was diese vereinzelten Schüsse der Granatwerfer zu bedeuten hatten. Die Rote Armee schoß sich auf die deutschen Stellungen ein. Sie markierte ihre Ziele in der Hauptkampflinie und auf den Verbindungswegen, sie maß die Stellungen der deutschen Geschütze an und die nächsten Etappenorte. Die einzelnen Granaten krepierten wie zufällig in der Nähe von Abstellplätzen oder nicht weit von der Stelle entfernt, wo Panzer parkten.
In der klaren Luft über dem schneebedeckten Land kurvte die U2, jenes langsame Doppeldeckermaschinchen mit dem blubbernden Motor, von dem man glaubte, daß er jeden Augenblick aussetzen müsse. Der Beobachter machte seelenruhig seine Aufnahmen aus dem Flugzeug, und dann und wann schwenkte er das Maschinengewehr auf dem Drehkranz herum und schoß eine Garbe zur Erde. Die Soldaten schossen nicht mehr nach ihm. Es war schwer, die Maschine zu treffen. Sie kam auch nachts, und dann war sie unberechenbar. Sie warf kleine Bomben, die manchmal nicht zündeten, und die Leuchtspur ihres Maschinengewehrs fiel wie eine grünliche Perlenschnur zur Erde. Sie nannten sie UvD. Aber es gab welche, die wußten, was es bedeutete, wenn diese Maschine Tag und Nacht mit dieser Beharrlichkeit über der Front kreiste und wenn zu gleicher Zeit die Granatwerfer sich einschossen und man hinter den russischen Schützenlinien das Gerumpel schwerer Motoren hörte.
In den ersten Löchern der deutschen Linie bekamen die älteren Soldaten besorgte Gesichter. Sie sahen sich nach einem Rückzugs- weg um, und dabei merkten sie, daß die glatte Ebene hinter ihnen keinen Schutz und keine Deckung bot. Es gab vereinzelt Bäume und nur ab und zu ein paar Büsche. Erst weit hinten begann der Wald. Aber bis man dort war, hatten einen die Granatwerfer oder die Stalinorgeln schon erwischt. Die Soldaten in den zugewehten Löchern hatten keinen Zweifel mehr darüber, daß der Angriff von drüben zu jeder Stunde beginnen konnte. Und dieser Angriff bedeutete für sie Rückzug. Aber es waren sehr schlechte Rückzugsmöglichkeiten in dem Gelände zwischen der Front und dem Dörfchen Haselgarten.
Um diese Zeit gab es in der Aufklärungskompanie kaum einen, der nicht wußte, daß es in wenigen Tagen einen Großeinsatz geben würde. Bindig, der sich abends meist bei Anna aufhielt, sagte ihr nichts davon. Aber Georgi kannte die Angriffstaktik seiner Armee. Es war tiefer Winter, und über Nacht konnte es große Schneefälle geben. Dazu kamen die U2-Maschinen, die ununterbrochen das Gebiet überflogen, und es kamen die vereinzelten Einschläge dazu, die Georgi von Haselgarten aus wahrnehmen konnte, weil es still war und nichts weiter an Geräuschen gab als diese einzelnen Detonationen,
Er hockte auf den Stufen zur Haustür, als Bindig kam. Er wollte ihm ausweichen. Aber Bindig hielt ihn zurück.
»Was ist los, Georgi?« fragte er ihn. »Warum sitzen Sie hier draußen?« Der Russe gab nur zögernd Antwort. Er hatte seit dem Zusammentreffen in seiner Kammer nur wenig mit Bindig gesprochen. Er hatte es vermieden, ihm zu begegnen.
Bindig hatte eines Tages noch erfahren, daß er Offizier gewesen war. Es hatte ihn nicht sonderlich überrascht, denn nicht nur der Umstand, daß dieser Russe die deutsche Sprache beherrschte, sprach dafür, daß er eine hohe Bildung besaß.
»Ich habe hier die beste Gelegenheit nachzudenken«, sagte er zu Bindig. »Man denkt über manches nach.«
Bindig zog aus seiner Hosentasche zwei Päckchen Zigaretten. Es waren billige »Möwe«, denn es gab seit einiger Zeit keine guten Zigaretten mehr für die Kompanie. Er hielt Warasin eine der Packungen hin und sagte: »Nehmen Sie. Oder rauchen Sie nicht mehr?«
Der Russe schüttelte den Kopf. Er lächelte ein wenig, als er sagte: »Doch, ich rauche schon.«
Er griff nicht zu, und Bindig legte ihm die Zigaretten einfach auf die Schulter. Da nahm er sie. Sie rauchten gemeinsam, vor dem Haus stehend. Anna hatte noch nicht bemerkt, daß Bindig da war.
»Worüber denken Sie nach?« fragte Bindig. »Über zu Hause?«
»Auch über zu Hause«, sagte Warasin einsilbig.
»Moskau?«
»Sie wissen, daß ich aus Moskau bin?«
»Ich habe es mir gedacht«, sagte Bindig, »zufällig stimmt es. Haben Sie Familie?«
»Ich bin verheiratet.«
Bindig sah ihn an, und Warasin fügte hinzu: »Meine Frau ist auch in der Armee. Ich weiß nicht, an welcher Front.«
Die Harmonika, dachte Bindig, so eine wie diese Frau, die dich mit Augen ansieht, die du mit dir herumschleppst, bis du alt und grau bist oder bis du jung krepierst. Das sind ihre Frauen. Er stäubte nervös die Asche von der Zigarette und wußte nicht, was er sagen sollte. Er wollte mit diesem Russen sprechen, aber immer, wenn er dazu ansetzte, spürte er die unsichtbare Mauer, die sich zwischen ihnen auftürmte.
Da stand Bindig, der zu Anna kam, um für ein paar Stunden Ruhe bei ihr zu suchen, bis er sich wieder von ihr trennen mußte, um das Handwerk weiterzuführen, zu dem sie ihn ausgebildet hatten. Und da stand ihm gegenüber Warasin, der ohne nennenswerte Erregung sagte, daß seine Frau in der Armee diente und er noch nicht einmal genau sagen könnte, an welcher Front. Er versuchte es, Warasin näherzukommen. Er sagte leise: »Es ist nicht gut, daß sie bei Ihnen die Frauen in den Krieg schicken. Es ist…«
Er hatte es ganz anders sagen wollen, aber es gelang ihm nicht, denn in diesem Augenblick sah er so deutlich wie damals in der Nacht die großen schwarzen Augen der Harmonikaspielerin und verstummte.
Warasin bewegte leicht die Schultern. Dabei sagte er: »Sie schicken die Frauen nicht. Die Frauen gehen selbst, Es ist sehr nötig, daß alle gehen, die den Mut haben.«
»Frauen gehören nicht an die Front«, beharrte Bindig eigensinnig, »das ist kein Handwerk für Frauen. Sie kommen um dabei.«
Warasin widersprach ihm nicht. Er sagte nur nach einer Weile, dem Rauch seiner Zigarette nachblickend: »Ich glaube, eine Frau, die bei der Armee steht, hat mehr Aussichten, am Leben zu bleiben, als eine, die in ihrem Heimatort die deutsche Besatzung ertragen muß.«
»Das glauben Sie?«
»Es ist erwiesen«, sagte Warasin. »Es lohnt nicht, darüber zu streiten, denn es gibt Leute genug, die sich in den Gebieten umgesehen haben, die einmal von den Deutschen besetzt waren.«
»Haben Sie es selbst gesehen?«
»Ich bin durch ganz Belorußland gekommen. Sie werden nach dem Krieg Gelegenheit haben, Dokumente darüber zu sehen.«
»Nach dem Krieg?« sagte Bindig. »Für Sie ist das Ende des Krieges bereits beschlossen. Ist das nicht voreilig?«
Warasin bewegte leicht den Kopf. »Es ist sicher, daß dieser Krieg zu Ende geht. Die deutsche Armee wird zusammenbrechen. Das ist das Ende des Krieges und das Ende Hitlers. Ich hoffe, es mitzuerleben. Ich habe hart dafür gekämpft.«
»Sie können es hier abwarten«, sagte Bindig mit einer Nuance Spott, »Sie sind dann sicher, daß Ihnen bis dahin nichts geschieht. Oder stimmt es, daß man in Ihrer Armee diejenigen zum Tode verurteilt, die sich in Gefangenschaft begeben?«
Warasin warf den Zigarettenstummel in den Hof. Er blickte Bindig an. »Ich habe mich nicht ergeben«, sagte er. »Ich kann das, was ich getan habe, zu jeder Zeit vor meiner Heimat verantworten. Und überdies scheinen Ihre Offiziere nicht viel von unserer Armee zu wissen. Sie würden Ihnen sonst nicht solchen Unsinn erzählen.«
Bindig hörte Anna im Flur mit den Stalleimern klappern. Er wartete, bis sie wieder in der Küche war. Dann sagte er: »Es interessiert mich nicht besonders stark. Aber Sie werden sicher bald Gelegenheit haben, Ihre Leute hier zu begrüßen. Oder glauben Sie, daß Ihre Armee sich in den Stellungen, die sie hier angelegt hat, für die Ewigkeit einzurichten gedenkt?«
Zum erstenmal lächelte Warasin. »Ich bin überzeugt, daß sie kommen werden«, sagte er. »Es gibt nichts auf der Welt, was so sicher ist.«
»Alles ist bei Ihnen sicher«, sagte Bindig. »Es gibt nichts, was Sie nicht ganz sicher wissen und voraussagen können. Manchmal kommt mir das eigenartig vor.«
Warasin lehnte sich an die Tür und hob die Schultern. Er sagte: »Es ist gar nicht so eigenartig. Wir haben unser Bild von der Welt. Wir wissen, was wir wollen, und wir wissen auch, woran unsere Gegner zugrunde gehen werden.«
»Sie meinen Deutschland?«
»Ja, Deutschland.« Warasin fügte nach einer Weile hinzu: »Das Deutschland Hitlers.«
»Es wird zugrunde geben?«
»Ich sagte es bereits.«
»Woran?«
Warasin lächelte. »Daran, daß wir es besiegen werden. Wir werden es gründlich tun.«
Er zeigte keine Überraschung, als Bindig sagte: »Möglich. Ich weiß es nicht. Sie haben die stärkeren Waffen, Sie haben mehr Menschen und den längeren Atem.«
»Das ist eine militärische Frage«, sagte Warasin ruhig. »Sie ist sicher eine entscheidende Frage, aber sie ist von einigen Dingen abhängig, die Sie nicht berücksichtigen. Oder vielleicht wollen Sie nichts davon wissen. Sie haben die Menschen nicht hinter sich.«
»Sie meinen, Hitler hat die Menschen nicht hinter sich.«
»Ich stimme Ihnen zu«, antwortete Warasin. »Es scheint, daß Sie sich von Hitler distanzieren wollen.«
»Hören Sie«, sagte Bindig, »Sie sind Russe, und ich bin Deutscher. Wir haben Krieg miteinander. Die Frage nach Hitler kommt erst ein wenig später.«
»Ganz recht, aber Hitler hat den Krieg begonnen.«
»Mag sein, daß Sie auch darin recht haben. Aber wie kommen Sie zu der Überzeugung, daß unsere Menschen nicht hinter Hitler stehen? Unsere Menschen führen schließlich diesen Krieg.«
»Leider. Aber ich bin trotzdem der Meinung, daß die Mehrzahl der Deutschen nicht hinter Hitler steht.«
»Das ist eine gewagte Behauptung«, sagte Bindig. »Bewahren Sie sich vor Illusionen.«
Warasin nickte. Dann fragte er plötzlich sehr leise: »Stehen Sie hinter Hitler?«
Bindig schwieg. Die Frage überraschte ihn nicht. Sie hatte kommen müssen, das Gespräch hatte sich auf sie zu bewegt. Aber er wußte trotzdem nicht, wie er antworten sollte. Schließlich sagte er: »Ich bin Soldat. Ich kämpfe gegen Ihre Armee. Zu wem ich stehe, spielt dabei absolut keine Rolle.« Er sah in das lächelnde Gesicht Warasins, der ihm antwortete: »Ich halte Sie für einen Menschen, der zwar in Hitlers Armee kämpft, aber mit Hitlers Kriegszielen nichts gemein hat. Ich habe erst, seit ich mich hier aufhalte, begriffen, daß es so etwas gibt. Früher habe ich mir das ein wenig anders vorgestellt. Ich habe geglaubt, daß es eine unzerstörbare Einheit zwischen dem System Hitlers und den Leuten gibt, die den Krieg für dieses System ausfechten. Aber ich habe begreifen gelernt, daß diese Einheit eine sehr brüchige Angelegenheit ist. Es gibt so etwas wie eine gewisse Trägheit des Denkens unter Ihnen. Sie hindert solche Menschen wie Sie daran, einfach mit dem System, für das sie kämpfen, zu brechen. Und dann gibt es die Vorstellungen, die man Ihnen über unser Land und unsere Menschen eingehämmert hat. Wenn es die Deutschen fertigbrächten, selbst zu denken und sich von dem, was sie glauben, und von der Richtigkeit dessen, was sie tun, selbst zu überzeugen, dann täten sie sehr gut daran.«
Bindig hörte ihm unbewegt zu. Insgeheim bewunderte er den Russen, denn es gehörte Mut dazu, in seiner Situation derartiges zu sagen. Doch vielleicht war das gar kein Mut, sondern nur die Sicherheit:, die in der Überzeugung ihren Ursprung hatte, daß Bindig ihn nicht verraten konnte, ohne Anna zu gefährden.
»Was wollen Sie?« fragte er. »Wollen Sie mich dazu bewegen, daß ich zur Sowjetarmee, überlaufe?«
Der Russe sagte höflich: »Ich wünschte, ich könnte das.«
»Wenn es nach Ihnen ginge, dann sollte ich den Rest meines Lebens unter der Aufsicht eines Kommissars in Sibirien verbringen?«
»Sibirien hat heiße Sommer und eiskalte Winter«, sagte der Russe, »aber der Rest Ihres Lebens dürfte erheblich länger sein als der Rest von Leben, der dem Hitlersystem verbleibt.«
»Sie geben sich viel Mühe, mir Ihre Ideen zu erklären. Weshalb eigentlich? Ich bin Soldat. In Ihren Augen bin ich sogar ein unmittelbarer Feind. Sie wissen, warum ich Sie nicht ausliefern kann. Aber glauben Sie denn, ich hätte es nicht getan, wenn die Dinge auch nur ein klein wenig anders gelegen hätten?«
»Ich bin überzeugt, daß Sie es getan hätten«, antwortete der Russe. »Aber trotzdem halte ich Sie für einen Menschen, bei dem es sich lohnt, ihm zu erklären, daß er für eine unrechte Sache kämpft. Erinnern Sie sich an den Abend, an dem Sie versuchten, mit Ihrem Messer die Fleischbüchse zu offnen? Sie sind einer von denen, die noch nicht an Hitlers Gift zugrunde gegangen sind. Sie sind ein kluger Mensch. Die Anstrengungen, die Sie für eine schlechte Sache unternehmen, sind einer besseren wert. Sie sollten rechtzeitig aufhören, einer verlorenen Sache zu dienen, und sich einer besseren zuwenden.«
»Und wenn ich das nicht tue?«
»Ich habe versucht, Ihnen einen Rat zu geben.«
Nach einer Weile fügte er hinzu: »Aber über Ihr Leben und Ihre Zukunft entscheiden Sie natürlich selbst.«
Bindig brannte sich eine neue Zigarette an. Er blickte über den Hof und sah die Häuser des Dorfes weit hinten sich in den Schnee ducken. Eine U 2 tuckerte von Osten her auf das Dorf zu. Sie flog nicht hoch. Beim Dorf angelangt, zog sie eine Kurve und schoß eine Trommel aus dem Maschinengewehr leer.
»Jetzt schießen sie schon am hellen Tag in die Häuser«, murmelte Bindig undeutlich.
Der Russe schien es verstanden zu haben, aber er ließ sich nichts anmerken. Nach einer Weile fragte er unvermittelt: »Haben Sie einmal Schiller gelesen?«
»In der Schule. Es ist eine Weile her.«
»Sie sollten ihn jetzt lesen.«
»Ich könnte ihn mir in der Frontbuchhandlung kaufen«, sagte Bindig, »für eine Mark fünfundneunzig. Die Feldpostausgabe von ausgewählten Werken Schillers. Was versprechen Sie sich davon, wenn ich das jetzt lese?«
Der Russe zuckte mit den Schultern und schwieg.
»Hören Sie«, sagte Bindig nachdenklich, »als ich ausgebildet wurde, hatte ich einen Offizier, der Bücher las. Der erfuhr, daß ich mir auch etwas aus Büchern mache. Da empfahl er mir, wenn ich einmal an der Front sein würde, immer zwischen zwei schweren Gefechten in einer ruhigen Stunde Schiller zu lesen. Das würde mir Kraft und Mut geben. Ich habe es unterlassen, das zu tun.«
Der Russe folgte schweigend mit seinem Blick der U2, die hoch über dem Dorf eine Schleife zog und mit den Tragflächen wackelte. Dann sagte er: »In unserer Armee gibt es Leute, die Schiller lesen, um sich von ihm Kraft dafür zu holen, die Deutschen von Hitler und seinem System zu befreien.«
Bindig bewegte leicht die Hand. »Lassen wir das«, sagte er, »es führt zu nichts. Warum haben Sie eigentlich nie den Versuch gemacht, über die Front zu Ihren Truppen zurückzukommen?«
Der Russe schwieg eine Zeitlang. Er war nicht verlegen. Er beobachtete die U 2, die aus der Höhe herabglitt und mit surrendem Motor über dem Dorf kreiste, ab und zu ein paar Schüsse abfeuernd.
»Da…«, sagte er schließlich, auf das Flugzeug deutend. »Unsere Piloten nehmen Maß…«
An einem der nächsten Tage war es, als bei der Kompanie die fünf Russen eintrafen. Sie kamen eines Morgens zu Fuß anmarschiert, die Mantelkragen mit dem Reif ihres Atems bedeckt, müde, aber mit flinken Augen. Kleine, nicht mehr junge Männer mit breiten Gesichtern. Sie meldeten sich bei Alf. Einer von ihnen sprach Deutsch, aber auch die anderen verstanden die Kommandos und eine Anzahl anderer geläufiger Ausdrücke. Der deutsche Gefreite, der sie begleitete, lieferte sie bei Alf ab und entfernte sich wieder. Er schlug den Weg ein, den er mit den Russen gekommen war, und er marschierte durch das Dorf in Richtung auf die Straße, die nach Westen führte. Zado war unterwegs gewesen. Er hatte Kaffee geholt und Brot empfangen. Er stand mit einem Arm voller Brote vor seinem Quartier, als der Gefreite herankam. Zuerst merkte er nicht, daß sich ihm von hinten Timm näherte. Aber dann hörte er die Schritte des Unteroffiziers und drehte sich zu ihm um. Timm hatte die Russen von seinem Quartier aus über die Straße marschieren sehen.
Er hatte sofort gemerkt, daß es Russen waren, obgleich sie deutsche Uniformen trugen. Er rief den Gefreiten an, der unwillig stehenblieb: »He, was bringst du da für Beutegermanen angeschleppt?«
»Fünf Mann«, gab der Gefreite Zurück, »sind bei eurem Chef.«
»Das habe ich gesehen«, brummte Timm ärgerlich, »oder meinst du, ich könnte nicht zählen?«
Der Gefreite grinste. »Zählen können ist heutzutage wichtig. Zum Beispiel die paar Zigaretten, die es zur Verpflegung gibt.«
»Reg mich nicht auf!« fauchte Timm. Aber er griff in die Tasche und warf dem Gefreiten eine Zigarette zu. Es war ein alter Mann, der nicht sehr gerade ging, und sein Gesicht war wie braunes Leder. »Russen«, sagte er, als er die Zigarette angebrannt hatte, »damit euer Haufen endlich mal lernt, wie Krieg geführt wird.«
»Jesus Maria«, knurrte Timm gereizt, »spätestens bei der nächsten solchen Antwort verlierst du ein paar Backenzähne, wenn du noch welche hast! Was sollen die Kerle hier?«
»Schwager«, sagte der Gefreite gemütlich, »ich bin nicht Jesus, und ich weiß nicht alles. Ich hab sie nur hierhergebracht. Was sie hier sollen, weiß euer Chef. Die Zigarette ist gut. Habt ihr mehr davon?«
»Verschwinde!« riet ihm Timm wütend. »Hau ab, ehe dich die Schweine beißen!« Dann schlug er den Weg zu Alf ein, und Zado stieß mit dem Ellenbogen die Tür zur Unterkunft auf. Er ließ die Brote auf den Tisch fallen und stellte das Geschirr mit dem Kaffee daneben. Dann sagte er zu Bindig: »Es geht wieder los, Kleiner. Eben sind fünf Wlassow-Russen angekommen. Das gibt wieder eine Himmelfahrt. Wenn ich bei dem Einsatz krankschieben könnte, wäre mir wohler…«
Eine Stunde später standen sie angetreten, und Timm blätterte in seinem Notizbuch. Er las vor: Zadorowski, Bindig, Paniczek…« Danach las er noch sieben andere Namen.
»Raustreten!« befahl er dann. »An der Schreibstube auf mich warten.«
Sie stapften davon, während er den Rest der Kompanie zum Dienst einteilte.
Vor der Schreibstube spuckte Zado geräuschvoll in den Schnee und schob sich die Mütze ins Genick. Während er sich das verfilzte Haar kratzte, sagte er gleichgültig zu den anderen: »Jungens, seht euch unser Nest noch einmal genau an. Mir scheint, wir unternehmen eine Reise mit wenig Gepäck. Wenn wir nicht zurückkommen und tot sind, dann sind wir in der verkehrten Richtung gefahren.«
Timm kam wenige Augenblicke später. Er rief schon von weitem: »Los, los, steht nicht da herum wie die Kaffern! Antreten ! Oder glaubt ihr, ich will Geburtstag mit euch feiern?«
Die zehn stellten sich auf, und Timm lief an ihnen vorbei in das Haus.
Alf saß in der Schreibstube und sprach mit den fünf Russen. Sie beherrschten alle ein paar Brocken Deutsch und verstanden vor allem die militärischen Kommandos. Einer von ihnen dolmetschte, was die anderen nicht verstanden. Es waren Männer, die im Vergleich zu den Soldaten der Aufklärungskompanie sehr alt zu sein schienen. Timm versuchte, während er sie musterte, zu ergründen, was hinter dem eigenartigen Ausdruck ihrer Gesichter steckte. Es waren keine ängstlichen, auch keine mißtrauischen Gesichter, und doch waren sie beides zugleich.
Timm überlegte insgeheim, was diese Männer zu leisten imstande wären.
Wartet, dachte er, ich werde mir euch genau ansehen! Ich werde euch hetzen, bis ihr die Lunge aus dem Hals verliert, und wenn ihr nicht ohne Lunge weiterrennt, könnt ihr wieder hingehen, wo ihr hergekommen seid, so wahr ich Klaus Timm heiße!
»Fertig?« fragte Alf. Timm legte die Hand vorschriftsmäßig an die Mütze und erwiderte: »Fertig, Herr Leutnant. Die zehn Mann sind draußen angetreten.«
»Danke.« Alf wandte sich wieder an den Russen, der den anderen dolmetschte: »Sie werden nun in eine Gruppe der Kompanie eingegliedert und machen heute Ihren ersten Dienst mit. Auf Abruf werden wir zum Übungsplatz fahren und von dort aus zum Einsatz.« Der Russe übersetzte es den anderen. Sie zeigten keine Bewegung.
»Versuchen Sie«, sagte Alf, »mit den übrigen Soldaten der Gruppe bekannt zu werden, so gut es geht. Sie werden aufeinander angewiesen sein. Es ist gut, wenn einer den anderen kennt. Vereinbaren Sie untereinander einige Worte, mit denen Sie sich in bestimmten Fällen schnell verständigen können. Unteroffizier Timm wird Ihnen dabei Anleitung geben. Die übrigen Soldaten, mit denen zusammen Sie eingesetzt werden, sind erfahrene Leute. Achten Sie immer darauf, was sie tun, sie werden nicht zum ersten Male eingesetzt. Sie kennen sich aus.«
Der Russe übersetzte wieder. Dann fragte Alf: »Haben Sie noch irgendwelche Nachrichten an jemand zurückzulassen, bevor Sie zum Einsatz gehen?«
»Nein«, antwortete der Russe, »wir haben niemand etwas zu bestellen.«
»In Ordnung.« Alf erhob sich. »Dann treten Sie draußen mit den übrigen Soldaten zusammen an.«
Als sie die Stube verlassen hatten, erkundigte sich Timm familiär: »Leutnant, was sind das für Figuren? Sie machen mir den Eindruck, als ob sie entweder große Ganoven sind oder reingefallene Drückeberger.«
Alf lächelte mit einem gelangweilten Ausdruck im Gesicht. Er ging auf Timm zu und blieb vor ihm stehen.
»Ehrlich gesagt, beneide ich Sie nicht um diesen Einsatz.«
»Wo kommen die her?« wollte Timm wissen. Er steckte die Daumen hinter das Koppel und sah Alf fragend an. »Und wozu brauchen wir sie?«
»Sie kommen von diesem Wlassow-Haufen«, gab Alf zurück. »Ich habe nur eine kurze Mitteilung von der Division. Ehemalige Häftlinge, die hei uns Dienst leisten. Sind von uns befreit worden und tun das aus Dankbarkeit oder Haß gegen den Bolschewismus, ich weiß es nicht.«
»Häftlinge?« fragte Timm gedehnt, »Politische?«
Alf zuckte die Schultern. »Man gibt uns darüber keine so genaue Auskunft. Vermutlich weiß die Division das selbst nicht so genau. Es ist wohl kaum noch zu kontrollieren. Kann uns auch gleich sein. Die Tatsache, daß es sich um Leute handelt, die von den Bolschewiken strafrechtlich verfolgt wurden, gibt uns die Sicherheit, daß sie auf Biegen und Brechen zuschlagen werden.«
»Strafrechtlich verfolgt ist gut!« bemerkte Timm grinsend. »Und was sollen ausgerechnet wir mit ihnen anstellen?«
»Abwarten«, riet ihm Alf, »spätestens heute abend ist der Einsatzbefehl zu erwarten. Ich vermute, daß es eine Sache ist, bei der wir Leute brauchen, die Russisch sprechen.«
Wieder grinste Timm. »Das habe ich mir beinahe gedacht. Aber da schickt man sie uns erst einen Tag vorher?«
»Nehmen Sie die Brüder heute noch einmal richtig ’ran«, sagte Alf, »verlangen Sie etwas von ihnen.«
»Darauf können Sie sich verlassen!« grinste Timm gemütlich. »Ich werde ihnen die Knochen weich machen. Die werden noch mit Sehnsucht an ihre Zellen zurückdenken!«
Er trat mit Alf vor die Tür, und die Männer standen still. Timm musterte sie eine Weile, dann fauchte er ganz plötzlich und unerwartet; »Hinlegen!«
Die Russen waren die letzten, die sich zu Boden warfen. Sie hatten das kurze, scharfe Kommando nicht verstanden und erst reagiert, als sie sahen, daß sich die deutschen Soldaten in den Schnee fallen ließen. Timm stemmte beide Arme in die Seiten. Dann sagte er ganz leise: »Auf!«
Als sie standen, ging er dicht an die Reihe der Männer heran und sagte drohend: »Ihr seid lahm geworden. Zu lange gebummelt. Wollt ihr eigentlich zu einem Tanzabend mit Nachrichtenmädchen, oder wollt ihr zum Einsatz, he?«
Es blieb still. Da fuhr Timm blitzschnell herum und schrie den Dolmetscher der Russen an: »Vielleicht machen Sie Ihr Maul auf und erklären den anderen, was ich sage! Oder haben Sie mich auch nicht verstanden?« »Jawohl«, sagte der Russe forsch.
»Jawohl… jawohl…«, äffte Timm ihn nach. »Hat der Mensch Töne? Wie heißt das?« »Jawohl, Herr Unteroffizier.«
»Das üben wir noch!« versprach Timm. »Los, übersetzen Sie schon!« Der Russe sprach zu den anderen. Sie hörten ihm unbewegt zu.
Alf stand ein paar Schritte entfernt und sah mit auf dem Rücken verschränkten Armen zu. Als der Russe mit dem Übersetzen fertig war, wandte sich Alf an Timm und sagte: »Ich komme nachher zu Ihnen. Rücken Sie ab.«
»Jawohl, Herr Leutnant!« erwiderte Timm. »Rechts um, ohne Tritt marsch. Richtung Flußufer.«
Er ließ sie auf der verschneiten Wiese am Fluß halten und blieb selbst zwanzig Schritt entfernt stehen. Dann befahl er Zado zu sich. Der lief heran und baute sich vor ihm auf. Die anderen waren zu weit entfernt, um verstehen zu können, was Timm sagte. Er grinste Zado an und sagte leise: »Um zu vermeiden, daß ihr mich für übergeschnappt haltet: Ich werde heute was mit euch anstellen. Wir haben die Russen dabei, die müssen dressiert werden. Ihr habt Pech, das ihr mitmachen müßt. Aber das gleichen wir später aus. Verstanden?«
»Wie immer!« grinste Zado. »Fliegen die mit?«
»Wenn sie nicht in den nächsten paar Stunden sterben, ja«, sagte Timm. »Und du sagst den anderen Bescheid. Strengt euch an. Verstanden?«
»Verstanden«, antwortete Zado. Timm warf einen Blick auf die Soldaten, die abwartend am Ufer standen. Dann brüllte er Zado plötzlich an: »Hinlegen!«
Zado ließ sich gehorsam in den Schnee fallen. Als Timm ihn aufstehen ließ, war er von oben bis unten weiß.
»Wie heißt das?« brüllte Timm.
»Verstanden, Herr Unteroffizier!« brüllte Zado zurück.
»Eintreten!«
Zado lief zu den anderen zurück, und Timm zog die Trillerpfeife aus der Rocktasche. Er schlenderte langsam auf die Soldaten zu. Als er vor ihnen stand, erklärte er mit seiner hellen Stimme:
»Herrschaften! Ihr seid die Gruppe, die den nächsten Einsatz macht. Es wird ein harter Einsatz, das weiß ich jetzt schon, und es werden harte Männer gebraucht, keine Waschlappen. Ihr habt lange Ruhe gehabt, und die Knochen sind eingerostet. Unterwegs brauchen wir aber anständige Knochen, und die werde ich euch heute noch schnell machen, bevor es abgeht. Harte Knochen und eine starke Lunge. Wenn ihr die nicht habt, werdet ihr drüben liegenbleiben, und keiner kann euch helfen. Ihr werdet mir noch dankbar für das sein, was wir heute machen. Und wenn sich einer über die Behandlung beschweren will, dann soll er das schriftlich tun und bei mir abgeben. Ich leite es an den Kompaniechef weiter. Der früheste Termin, eine Beschwerde abzugeben, ist übermorgen abend. Noch Fragen?«
Der Russe übersetzte gedämpft. Timm wartete, bis er damit fertig war. Dann sagte er ruhig: »Stahlhelm auf. Handschuhe aus. Laufschritt…«
Er ließ sie im Kreis laufen. Nach einer halben Stunde setzte er zum erstenmal das Fernglas an und betrachtete ihre Gesichter. Es war neun Uhr. Er ließ die Gasmasken aufsetzen.
Zado murmelte, während er die Maske umband, zu Bindig, der neben ihm stand: »Bis zum Mittagessen sind wir fertig.«
Timm ließ sie mit aufgesetzten Masken durch den Schnee kriechen. Er achtete darauf, daß sie immer durch frischen, unberührten Schnee krochen, der noch nicht festgetrampelt war. Er erwischte nacheinander drei, die ihre Gasmaskenfilter gelockert hatten. Es waren zwei Russen dabei. Er bestimmte drei andere, unter ihnen auch Bindig, und befahl: »Ihr seid verwundet.« Dann ließ er die Männer, die ihre Filter gelockert hatten, um besser Luft zu bekommen, die drei anderen auf den Rücken nehmen und tragen. Der erste brach nach zwanzig Schritten zusammen, aber er raffte sich wieder auf und schleppte seine Last weiter. Nach weiteren zwanzig Schritten torkelte er gegen einen anderen, und sie stürzten in den Schnee. Der dritte blieb keuchend bei ihnen stehen und setzte seine lebende Last ab.
Timms Stimme war in diesem Augenblick wie die eines keifenden Weibes. Er ließ die anderen eine Pause machen und hetzte die drei mit den Gasmasken hinunter zum Fluß.
Das Wasser war dick gefroren, es hatte darauf geschneit, und es war wieder gefroren. So bestand die Oberfläche aus rauhem, körnigem Eis, dessen Risse und Kanten messerscharf waren. Timm blieb am Ufer stehen, die Trillerpfeife im Mund, die Hände hinter dem Rücken. Er kniff die Augen zusammen, und dann hetzte er die drei Männer über das Eis. Er gab keine Kommandos mehr, er pfiff nur noch, ohne die Hand an die Trillerpfeife zu legen. Pfiff er einmal, so bedeutete das für die Männer, daß sie zu laufen hatten. Pfiff er zweimal, hatten sie sich hinzuwerfen und vorwärts zu kriechen. Timm pfiff in regelmäßigen Abständen von einer halben Minute. Um zehn Uhr waren die Kombinationen der drei Männer an den Knien und an den Ellenbogen zerfetzt. Timm kommandierte: »Achtung!« Er ließ die Männer ein paar Minuten auf dem Eis stehen. Sie schwankten.
»Los!« sagte Timm zu den anderen. »Das Kommando heißt ,Unsichtbar machen‘.« Er wies ihnen ein Stück der ebenen Schneefläche zu, an die sich im Westen der Wald anschloß.
»Einzeln unsichtbar machen. Die Maschinenpistole muß auf meine Gestalt hier am Ufer zielen, der Mann darf nicht zu sehen sein. In einer Viertelstunde nehme ich das Glas. Wer zu sehen ist, tanzt mit auf dem Eis. Ab!«
Er drehte sich um und ging zum Ufer zurück. Die drei Soldaten standen noch auf dem gleichen Fleck.
»Laufen! Ihr Bettpisser!« Er stemmte die Fäuste in die Seiten, und die Trillerpfeife klemmte wieder zwischen den Zähnen. Er pfiff, und die Soldaten liefen oder krochen über das Eis. Er nahm die Pfeife nur aus dem Mund, wenn er ihnen ein Schimpfwort zuschrie. Nach zehn Minuten brach einer der Russen zusammen und blieb auf dem Eis liegen. Er bewegte schwach den Kopf, war aber nicht in der Lage, sich zu erheben. Timm machte einen Satz auf das Eis, und dann stand er vor dem am Boden Liegenden.
»Auf!« schrie er. »Hinlegen!« Er wiederholte es mehrmals, ohne daß der Mann den Befehl befolgte. Timm kniff die Augen zusammen. Er schob das Kinn vor und brüllte den Mann ohne Unterbrechung an. Er hämmerte mit der ganzen grausamen Suggestionskraft seiner Stimme so lange auf ihn ein, bis sich der Mann bewegte. Zuerst machte er nur den schwachen Versuch, die Beine anzuziehen. Sofort schrie Timm: »Auf, marsch!« Der Mann erhob sich mühsam. Aber er stand kaum auf den Beinen, als Timm ihm zu laufen befahl. Der Mann lief. Er torkelte ein Stück, doch dann lief er wieder normal. Timm grinste mit verkniffenem Gesicht hinter ihm her. Als der Mann nach dem ersten Hinlegen verhältnismäßig schnell wieder auf die Beine kam, wußte Timm, daß er gesiegt hatte. »Vorwärts, ihr Drecksäcke!« Er ging ans Ufer zurück und rief ihnen von da aus zu: »Gasmasken ab! Und jetzt will ich Bewegung sehen!«
Sie liefen ihm zu langsam. Sie sparten mit Kraft, er merkte es. Sie wollten sich nicht bis zum Äußersten verausgaben. Aber er sprang zwischen sie, und seine Stimme gellte: »Wenn ihr jetzt nicht bald anfangt zu laufen, lasse ich euch wegen Befehlsverweigerung einsperren!« Dann pfiff er zweimal, und die Männer krochen.
Um halb elf erinnerte er sich an die anderen. Er suchte mit dem Glas oberflächlich das Gelände ab und konnte sie vorerst nicht entdecken. Er erinnerte sich stolz daran, daß das seine Schule war. Aber im gleichen Augenblick dachte er verschlagen: Wartet eine halbe Stunde! Dann wird euch kalt, und dann wird Timm euch ausfindig machen, wenn ihr die Knochen rührt!
Einige Minuten vor elf Uhr krochen die drei Soldaten auf dem Eis mit nackten Ellenbogen und Knien vorwärts. Die Kleidung war von den rauhen Eissplittern zerfetzt, und nun schürfte das Eis ihnen langsam die Haut auf. Timm ließ die Männer ganz dicht am Ufer entlangkriechen, wo stellenweise noch scharfes, dürres Schilf über die gefrorene Oberfläche ragte.
Als er auf dem Eis die ersten Blutspuren bemerkte, sah er nach der Uhr. Es war elf Uhr dreißig. Sofort nahm er das Glas und suchte die übrigen Männer. Aber es war niemand von ihnen zu sehen. Timm wußte nicht, ob er ärgerlich sein sollte oder ob er Grund hatte, sich zu freuen.
Er pfiff sie aus ihren Verstecken herbei. Dann pfiff er den drei Männern auf dem Eis und ließ sie alle zusammen antreten. Er ließ sie die Waffen ablegen, dann sagte er gleichgültig: »Pause. Es kann geraucht werden.«
Zado klaubte seine Zigaretten aus der Tasche. Er hockte neben einem der beiden Russen, die vom Eis zurückgekommen waren, im Schnee. »Setz dich nicht«, riet er ihm, »morgen früh hast du einen wunden Arsch und kannst nicht laufen.« Der Mann folgte wortlos dem Beispiel Zados, nahm den Stahlhelm ab und hockte sich darauf. »Rauch!« sagte Zado. Er hielt dem Russen eine Zigarette hin und gab ihm die Streichhölzer. Der Russe nahm beides, aber seine Hände waren so ungeschickt, daß er drei Hölzchen abbrach, ehe die Zigarette brannte.
»Bißchen müde, was?« erkundigte sich Zado. »Das macht nichts. Das ist bei uns so üblich.« Der Russe zog an der Zigarette und schluckte. »Verstehst du Deutsch?«
»Ich verstehe alles«, antwortete der Mann, »aber nicht gut sprechen.«
»Ich heiße Zadorowski«, sagte Zado feierlich und hielt ihm die Hand hin. Der Russe nahm sie. Er fragte leise: »Pole?«
»Nein. Düsseldorfer.«
Er blinzelte Bindig zu, der nicht weit entfernt auf seinem Helm hockte.
»Na, geht’s wieder?«
»Wenn’s nicht schlimmer kommt!« antwortete Bindig.
»Er war krank«, sagte Zado zu dem Russen, »er macht heute zum erstenmal wieder Dienst.«
Der Russe nickte. »Kann noch schlimmer machen?« fragte er flüsternd. Zado hielt ihm die Uhr hin und sagte gleichgültig: »In einer Stunde ist erst Mittag,«
Alf kam erst zehn Minuten vor dem Ende des Dienstes. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Männer, und als er die roten, verschwitzten Gesichter sah, wandte er sich an Timm, der abwartend neben ihm stand: »Zufrieden, Unteroffizier?«
»Die Leistungen sind zurückgegangen, Herr Leutnant«, erwiderte Timm, »aber das kriegen wir schon hin.«
»Männer«, sagte Alf unvermittelt, »ihr werdet heute nacht noch in Marsch gesetzt. Es wartet eine wichtige Aufgabe auf euch. Es bedeutet für euch alle eine große Auszeichnung, bei dieser Aufgabe eingesetzt zu sein. Nicht jeder ist in der Lage, das zu leisten, was ihr in den nächsten Tagen zu leisten habt. Ihr seid sozusagen die Elite der Kompanie. Von eurem Einsatz hängt eine Menge ab, aber ihr habt auch die besten Möglichkeiten, eure Aufgabe zu erfüllen. Wir haben die bolschewistische Gefahr vorläufig zum Stehen gebracht. Jetzt gilt es, ihr den Todesstoß zu versetzen. Männer wie ihr werden das schaffen. Zum erstenmal sind russische Kameraden unter euch. Gemeinsam mit ihnen werdet ihr kämpfen und siegen. Die Heimat setzt große Erwartungen in euch. Kämpft so, daß ihr euch einmal nicht vor euren Kindern zu schämen braucht.«
Er legte die Hand an die Mütze und wandte sich mit einer feierlichen Geste um. Dabei sagte er zu Timm: »Lassen Sie abrücken. Heute nachmittag ist dienstfrei. Abfahrt bei Einbruch der Dunkelheit.«
»Rechts um«, kommandierte Timm mit ruhiger Stimme, »ohne Tritt, marsch.« Er ging neben dem Leutnant her, ein Stück vor den Soldaten, die müde durch den Schnee schlurften.
»Eure Kinder…«, grunzte Paniczek, »weiß ich gar nicht mehr, wie man welche macht…«
Aber Zado hörte nicht auf das, was er sagte. Er trottete mit gesenktem Kopf zwischen Bindig und Paniczek und sagte mehr zu sich als zu den beiden anderen: »Jetzt ist es endlich ’raus, wer die Erlaubnis bekommt, den Russen den Todesstoß zu versetzen. Himmel, das ist eine Ehre! Eigentlich hätte ich das ganz gern jemand anderem überlassen…«
»Ruhe im Glied!« riet Timm von vorn. »Ein Lied, ihr lahmen Krieger!« Einer stimmte »Fern bei Sedan« an. Aber sie kamen nicht dazu, es zu singen, denn Timm wandte sich um und rief: »Ihr seid wohl zum Heulen aufgelegt, was? Singt bloß was Schmissiges und keine Trauermärsche!«
Nach einer Minute sangen sie einen Schlager, der mit »Oho, Senorita…« anfing und etwas mehr als acht Minuten später mit »…komm zu mir in die kleine Gondola!« aufhörte. Der Gesang war wie das Krähen stimmbrüchiger Kinder. Aber Timm drehte sich nicht mehr um. Der Leutnant fragte ihn: »Wie ist die Stimmung?«
»Leidlich«, antwortete Timm. »Nicht besonders, aber das wird wieder besser.«
»Wenn wir mehr Zeit hätten!« sagte Alf. »Man muß sich mehr mit den Leuten beschäftigen.«
Timm nickte. Dann sagte er: »Denen fehlt was anderes. Es gibt keine Mädchen hier. Das müssen wir ändern. Sie werden uns sonst bockig.«
»Mädchen…«, sagte Alf peinlich berührt, »das ist ein kompliziertes Problem. Man kann da nicht so einfach…«
»Eben«, unterbrach ihn Timm, »und deshalb muß man dafür sorgen, daß sie auf irgendeine Weise wieder mal an Mädchen kommen. Ich kenne das. Es wirkt Wunder. Ich habe meine Erfahrung.«
»Es gibt noch Schnaps heute mittag«, teilte ihm Alf mit.
Timm nickte zustimmend: »Das wirkt auch Wunder.«
Hinten fragte Zado einen der Russen: »Habt ihr wenigstens schon mal ein Messer in der Hand gehabt?«
Der Russe blickte ihn mißtrauisch an und sagte dabei: »Messer, ja. Schon gehabt.«
»Zu Hause? Oder jetzt bei uns?«
»Jetzt. Und zu Hause.«
»Zu Hause?«
»Ja. Zu Hause«, der Russe nickte, »gutes Messer. Hat Miliz abgenommen. War eiserner Griff. So was man in Deutschland sagt Schlagring. Zusammen mit Messer. Kombination. Schade. Sehr gutes Messer.«
»Na also«, brummte Zado. Er spuckte geräuschvoll aus. »Dann seid ihr ja bei uns richtig. Sogar goldrichtig. Unsere Kompanie ist nämlich die Elite der Division. Und unser Haufen hier ist die Elite der Kompanie.«
»Großes Ehre«, sagte der Russe. »Sehr großes Ehre.«
»Eben!« knurrte Zado. »Ich habe mein ganzes Leben von so großes Ehre geträumt. Mein ganzes Lehen…«
Der nächste Morgen war fahl und grau. Es hatte in den frühen Tagesstunden ein wenig geschneit, aber es war nur dünner, körniger Schnee gewesen. Er hatte die Spuren der vergangenen Nacht zugedeckt, und die weiße Decke auf dem Land zwischen den Fronten schien unberührt. Stellenweise lag Stacheldraht, aber es gab große Lücken, denn es schien keinen Stacheldraht mehr in Deutschland zu geben. Der Nachschub konnte keinen auftreiben.
Die Vögel waren noch nicht wach. Sonst hörten die Soldaten sie jeden Morgen, aber heute war es noch zu früh für sie. Es waren Krähen, die sich über Nacht in das Geäst einiger bereifter Bäume hockten und am Morgen unter mißtönendem Gekrächze aufflogen, wohl um Nahrung zu suchen. Es gab Soldaten, die Angst vor diesen Krähen hatten, und manchmal schossen sie nach ihnen. Es hieß, daß sie den Leichen die Augen aushackten und überhaupt das verwesende Fleisch fraßen. Der Posten in dem Flankenloch der Stellung, die sich auf der Höhe des Dörfchens Haselgarten dahinzog, war müde. Er war einer von denen, die vor den Krähen Angst hatten. Er hieß Puhlwitz und war von Anfang an dabei. Fünf Jahre hatten ihn die Krähen nicht gestört, aber nun begann er sie zu fürchten. Er beobachtete in der farblosen Dämmerung einen Baum, der unweit seines Loches stand. Dort hockten ein halbes Dutzend, regungslos, zusammen geduckt und still.
In einer halben Stunde fangen sie an zu lärmen, dachte der Soldat. Aber bei Gott, ich knalle ihnen heute zur Begrüßung eins dazwischen, daß sie diesen Baum den ganzen Tag meiden werden wie die Pest! Schrot müßte man haben. Eine Krähe mit dem Karabiner zu schießen ist lächerlich. Da könnte man ebensogut mit dem Granatwerfer Maulwürfe bekämpfen. Mit einer Handgranate kriegt man sie nicht. Die hören sie kommen, und ehe sie detoniert, sind die aufgeflogen. Das ist nicht so wie bei den Fischen.
Himmel, was haben wir damals in Polen mit Handgranaten Fische gefangen! Aber das ist vorbei! Wer weiß, ob es überhaupt noch einmal so eine ruhige Zeit gibt, in der man Fische fangen kann. Es sieht jedenfalls nicht danach aus.
Er gähnte und schlug die Füße zusammen. Es war kalt. Er griff nach dem Karabiner und fuhr ein paarmal gedankenlos über den kalten Lauf. Sie haben noch nicht einmal für die Flanke ein Maschinengewehr, dachte er. Was soll hier werden, wenn es losgeht? Ich mit meinem Karabiner und den sechs Handgranaten, und dann die Russen! Links liegt hundert Meter niemand, und dann kommt ein Maschinengewehr von der Nachbarkompanie. Wenn die Russen hier loslegen, bleibt kein Auge trocken! Hoffentlich schicken sie dann wenigstens von hinten noch Leute. Wenn nicht, gibt’s bloß eins: Boden gewinnen! Aber die freie Fläche dahinten, bis an den Wald?
Er griff nach einer Zigarette und zündete sie an. Er trug einen Übermantel und den Kopfschützer unter dem Stahlhelm. Sie hatten ihm am Abend zwei Panzerfäuste in das Loch gebracht, und seitdem fühlte er sich darin nicht mehr wohl. Diese Panzerfäuste sind unberechenbar, dachte er: Weiß man, ob sie nicht doch losgehen, wenn man sie aus Versehen zu hart aufsetzt? Oder ob sie schon losgehen, wenn man das Visier hochklappt? Nebenan hat neulich einer eine Handgranate abgezogen, und sie ist ihm in der Hand explodiert. Aber die anderen haben gesagt, er hätte den Zünder selbst eingesetzt, und es war bestimmt einer mit der blauen Kappe für die Verzögerung. Was ist, wenn man einen blauen Zünder einsetzt, und er hat trotzdem keine Verzögerung? Sie haben die Kappe nicht mehr gefunden, da drüben, und den Mann konnten sie auch nicht fragen. Aber sie hatten dieser Tage gar keine gelben Zünder.
So geht man drauf, dachte der Soldat. Entweder so oder wenn die Russen kommen. Wir kommen hier nicht weg. Es ist unmöglich. Er stützte sich auf den Gewehrlauf und beobachtete das Niemandsland. Es rührte sich nichts. Ein Streifen Land, in dem ein paar verlorene Ausrüstungsgegenstände lagen, zerhackt von den Granatwerfern, längst zugeschneit. Dann kam die Linie der Russen. Wenn man genau hinsah, konnte man die Schneeaufwürfe an den Löchern erkennen. Die Russen hatten ihre Stellung direkt vor dem Wald angelegt. Sie können sich das leisten, dachte der Soldat, sie wissen,
daß wir hier keine Artillerie haben. Wo haben wir überhaupt welche? Er spähte zu dem Wald hinüber. Ich wollte, ich wäre so eine dreckige Krähe und könnte mich da umsehen. Was mögen sie alles dahinten stehen haben? Er blies den Rauch der Zigarette nach unten, Das Loch war eng. Wenn er sich umdrehte, stieß er an die Panzerfäuste. Bewegte er die Füße, trat er auf die Handgranaten.
Verdammt, dachte er, ein Glück, daß sie endlich diesen Staubsaugervertreter eingezogen haben, der nebenan wohnt. Die Luise ist zwar nicht gerade das, was man als eine Schönheit bezeichnet, aber weiß man denn, ob dieser Bruder nicht doch anzubändeln versucht? Daß er ein windiger Bursche war, konnte man sehen. Diese Vertreter überhaupt! Und die Luise ist schon auf eine ganze Menge Männer ’reingefallen, bevor ich kam. Weiß man, was so eine Frau anstellt, wenn man jahrelang nicht nach Hause kommt? Es wird verdammt Zeit, daß dieser Scheißkrieg zu Ende geht. Er hat lange genug gedauert, und jetzt ist sowieso nichts mehr zu gewinnen. Jetzt ist bloß noch zu verlieren.
Er legte das Gewehr auf die Brüstung und zielte gelangweilt nach den Krähen. Aber er dachte nicht daran, auf sie zu schießen. Es war Morgen, und morgens war Ruhe an der Front. Ein Schuß würde alles in Aufregung versetzen, und dann würde das Gemecker der Maschinenpistolen von drüben und das Gewehrfeuer und alles das eine halbe Stunde lang nicht abreißen. Lieber Ruhe halten, dachte er. Ruhe ist gut. Man müßte so einen Posten hinten beim Stab haben. Die wissen, was Ruhe ist. Himmel, warum ist man nicht Kraftfahrer geworden. Die Brüder haben ein Leben…
Er horchte auf. Weit hinter der Front der Russen war ein Abschuß zu hören. Er blickte schnell auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Es war zu früh für das bißchen Feuer, das immer gegen Morgen kam. Da hörte er die Granate weit rechts heranjaulen. Er zog instinktiv den Kopf ein, und das letzte, was er wahrnahm, bevor er sich in das Loch duckte, waren die Krähen, die wie auf ein Kommando aufflogen. Die Granate schlug ein paar hundert Meter weiter rechts ins Niemandsland.
Aber noch bevor sie detonierte, begann hinter der Front der Roten Armee ein Grollen von vielen Abschüssen, das nicht abzureißen schien. Puhlwitz lauschte mit weit aufgerissenen Augen. Er hörte die ersten Granaten herankommen. Sie lagen näher. Wenn sie detonierten, gab es einen kreischenden, metallischen Laut, wie wenn zwei Stahlplatten aneinander schlugen. Und die klare, kalte Luft verlieh diesem Laut etwas Dröhnendes. Es war wie bei einem Gewitter, wenn der Blitz mit dem Donner zusammenfällt. Puhlwitz zog den Kopf immer mehr ein. Sein Gesicht bekam einen angstvollen, ratlosen Ausdruck, denn der Soldat Puhlwitz wußte aus Erfahrung, daß diese Art Feuer nur geschossen wurde, wenn man angriff.
Er lebte noch, als die Granatwerfer in das Feuer eingriffen. Zuerst waren es die großkalibrigen, deren Geschosse gurgelnd und zischend fast senkrecht aus großer Höhe herabfielen. Und dann gab es ganz in der Nähe den ersten prasselnden Schlag eines Salvengeschützes. Da hob Puhlwitz blitzschnell den Kopf und sah hinüber zur Gegenseite. Er hatte richtig vermutet.
Auf den Brüstungen der Schützenlöcher erblickte er die Stahlhelme. In jedem Loch mindestens drei. Er zog den Kopf schnell wieder ein, denn neben seinem Loch prasselte die letzte Reihe einer Serie Salvengranaten in den Schnee. Zweiunddreißig Einschläge, dachte er. Oder sind es mehr? Der nebenan ist hin. Der muß schon mehr Glück als Verstand haben, wenn er das überlebt. Diese Granaten haben ziemlich kleine Zwischenräume. Sie fallen dicht wie Regen. Sie explodieren nur wenig über dem Boden und verspritzen eine Unmenge Splitter. Mein Gott, dachte Puhlwitz, die machen uns fertig! Wie komme ich bloß hier ’raus? Nach den Granatwerfern fiel eine Batterie Raketengeschütze ein, die größere Kaliber verschossen. Die Raketen kamen heulend heran, mit einem grausigen, erschreckenden Laut, der etwas Menschliches zu haben schien. Es war, als krepierten sie mit einem Aufschrei. Aber das Heranheulen war schlimmer als der Einschlag. Puhlwitz merkte, wie er zu schwitzen begann, und riß sich den Kopfschützer herunter. Er wagte nicht mehr, den Kopf über die Brüstung zu stecken, denn die Gegend schien unter den Einschlägen zu kochen. Das Gedröhn riß nicht mehr ab, und die Einschläge verschmolzen miteinander. Er verlor das Gefühl dafür, ob eine einzelne Granate unmittelbar auf ihn zukam.
Nach einer halben Stunde begannen die großen Geschütze zu schweigen. Nur die Werfer schossen noch. Und plötzlich hörte Puhlwitz zwischen den Abschüssen der Werfer und den Einschlägen, wie drüben Motoren anliefen. Er konnte es ganz deutlich wahrnehmen, denn es wurden viele Motoren zugleich angeworfen. Panzer! Puhlwitz war lange genug im Osten, um das herauszuhören. Einen T 34 erkennt man von weitem am Klang seines Motors und an seinem Auspuffgeräusch.
Das Feuer schwieg nicht, aber es wurde schwächer, und die schweren Waffen schossen jetzt auf Ziele, die weiter hinten, im Wald oder hinter dem Wald, liegen mußten. Hinter Puhlwitz lief jemand durch den zerwühlten Schnee und schrie langgezogen: »Paaanzer von vooorn!« Es war der Leutnant, der den Abschnitt kommandierte. Er war schmutzig, und im Gesicht hatte er eine blutige Schramme. Er lief von Loch zu Loch und schrie nach Panzerfäusten. Puhlwitz legte die beiden Panzerfäuste, die in seinem Loch waren, mit unsicheren Griffen auf die Deckung. Er warf einen Blick hinüber, und im gleichen Augenblick zog er blitzschnell den Kopf ein. Sie hatten drüben begonnen, mit den Maschinenpistolen zu schießen. Er kam ganz langsam wieder mit dem Kopf hoch, um zu sehen, was geschah. Nur seine Augen waren über der Deckung. Aber das genügte, um den ersten Panzer zu sehen, der aus dem Wald brach. Es war ein weißgestrichener, stählerner Koloß, und er walzte ein paar Bäume nieder, als er ins Freie fuhr. Die Kanone war nach vorn gekurbelt, beinahe waagerecht. Der Panzer machte einen Satz über eine verschneite Bodenwelle und fuhr schaukelnd auf die Schützenlöcher zu. Hinter ihm stiebte der Schnee, den die Ketten hochwarfen. In dem Nebel von aufgewirbeltem Schnee erkannte Puhlwitz die kleinen braunen Gestalten, die hinter dem Turm hockten. Er bekam es fertig, die Visiere der beiden Panzerfäuste ordnungsgemäß hochzuklappen. Als er aufblickte, rollte der Panzer bereits zwischen den sowjetischen Schützenlöchern, und aus dem Wald brachen die anderen hervor. Die Motoren kreischten. In das Geblubber der Auspuffrohre mischte sich das Gewehrfeuer. Dann zuckte aus der Kanone des Führungspanzers der erste lange gelblichblaue Feuerstrahl, und die Granate fauchte heran. So breit, wie sich der Wald drüben dehnte, war die Kette der Panzer. Und aus den Kanonen aller dieser Panzer zuckten im gleichen Augenblick die Mündungsflammen. Die Panzer mochten fünfzig oder sechzig Meter entfernt sein, als Puhlwitz sich aufrichtete und eine Panzerfaust abschoß. Er schoß nur die eine ab, denn als ihr Geschoß neben dem Führungspanzer in den Schnee fiel und sich ein paarmal überschlug, zuckte aus der Kanone dieses Panzers die Granate, die Puhlwitz eine halbe Sekunde später tötete.
Bindig hockte neben dem Telefonisten und hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch, auf dem die drei Apparate standen. Er war so, wie er vom Übungsgelände weggelaufen war, in der durchnäßten Kombination, den Stahlhelm auf dem Kopf und die Maschinenpistole quer über der Brust.
Der Telefonist zündete sich mit Bedacht eine neue Zigarette an. Das Streichholz ausblasend, sagte er zu Bindig: »Schlechte Aussichten. Wenn sich ein Haufen so lange nicht meldet, ist irgendetwas faul. Du mußt dich schon gedulden, bis die Vermittlung wiederkommt…«
Es war Abend. Am Nachmittag hatte Bindig erfahren, daß vor Haselgarten ein massierter Angriff stattgefunden hatte. Kein Mensch konnte ihm sagen, wie die Lage war. Sie hatten ihre Übung abgeschlossen. Diese Nacht war der Abflug vorgesehen. Aber Bindig war mit keinem Gedanken bei dem Einsatz, der ihm bevorstand und der ganz ohne Zweifel ein Himmelfahrtskommando war. Er dachte nur noch an Anna.
»Los!« forderte er den Telefonisten ungeduldig auf, »ruf die Vermittlung noch mal. Die müssen doch wissen, was los ist!«
Der Telefonist war ein langweiliger, unlustiger Gefreiter. Er zog an seiner Zigarette und sagte: »Gleich. Aber nicht so schnell hintereinander. Die schnauzen mich sonst an. Vielleicht ist deine Frau längst evakuiert.«
»Wer soll sie wohl evakuieren!« fuhr Bindig ihn an. »Du hast vermutlich noch keinen russischen Angriff erlebt, Das Dorf liegt einen Katzensprung von der Front entfernt.«
»Lag!« sagte der Gefreite. »Schon blöd von deiner Frau, sich so nahe bei der Front hinzusetzen. Meine sitzt in Bayern. Da wissen sie überhaupt noch nicht, daß Krieg ist.«
Bindig wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick klingelte es in einem der Telefonkästen, und der Telefonist schob die Kopfhörer über die Ohren.
»Schwalbenschwanz«, sagte er in die Muschel, die an einem Riemen auf seiner Brust hing, »wo bleibt Siebenschläfer? Kommt? Ich küsse deine Hand, Liebling!« Er machte eine linkische Verbeugung vor dem Mädchen, das durch den Draht sprach. Dann hielt er die Hand über die Muschel und sagte zu Bindig: »Jetzt ist’s soweit. Habt ihr eigentlich eure Schokolade schon bekommen?«
Aus dem Kopfhörer kam eine ferne Stimme. Dann ein Knacken, und dann war die Stimme lauter. Der Telefonist konnte sie gut verstehen und fragte: »Siebenschläfer? Hier Schwalbenschwanz. Ich bitte Sie um Auskunft über den Angriff von heute morgen.«
Er betätigte schnell einen Knopf an einem der anderen Apparate und deutete auf ein Paar Kopfhörer, die daneben auf dem Tisch lagen. Bindig nahm sie hoch, aber er hatte den Stahlhelm auf, und das merkte er erst jetzt, als er den Bügel der Kopfhörer überstreifen wollte. Mit einer hastigen Bewegung riß er den Helm vom Kopf und warf ihn hinter sich. Dann kam die Stimme so deutlich durch den Draht, als wäre sie nur ein paar Häuser weit entfernt.
»Meine Auskunft ist nicht sehr umfassend, Kamerad. Es ist bisher nur wenig bekannt. Der Angriff begann im Morgengrauen. Eine halbe Stunde Feuer, dann Panzer und Infanterie. Die Panzer sind ziemlich weit durchgebrochen, haben sich aber gegen Mittag bis Haselgarten zurückgezogen. Dort wird noch gekämpft. Soviel bekannt ist, haben wir noch Stützpunkte im Dorf. Noch Fragen?«
»Frag ihn, ob jemand evakuiert wurde!« verlangt Bindig hastig.
Der Telefonist stäubte die Asche von der Zigarette und fragte gleichgültig: »Ist bekannt, ob jemand evakuiert wurde?«
»Evakuiert?« hörte Bindig die Stimme sagen. »Das Dorf war geräumt. Dort lag bis zu dem Angriff eine Kompanie Luftwaffe, die gegen Mittag herausgezogen wurde. Dafür kamen andere Einheiten hin. Panzerjäger und Infanterie.«
Der Telefonist sah Bindig an. Bindig überlegte schnell, aber er stellte keine Frage mehr. Der Telefonist sagte gleichgültig in die Sprechmuschel: »Danke, Siebenschläfer. Das war alles.«
Dann streifte er die Kopfhörer ab und sagte zu Bindig: »Mach dir keine Sorgen. Wenn deine Frau wirklich noch in dem Dorf war, als sie die Luftwaffe abgezogen haben, dann wird sie mitgefahren sein. Du mußt eben warten, bis sie sich meldet. Schick sie nach Bayern. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die in Bayern…«
Bindig erhob sich und nahm seinen Helm auf. Er warf dem Telefonisten ein Päckchen Zigaretten auf den Tisch und ging zur Tür. Der Gefreite verzog anerkennend das Gesicht und rief ihm nach: »Wenn du vielleicht später noch mal versuchen willst…«
»Danke«, sagte Bindig an der Tür, »ich werde keine Gelegenheit mehr dazu haben. Aber wenn du erfahren solltest, ob sie evakuiert wurde, dann sag es mir, wenn ich zurückkomme…«
Der Telefonist nickte. Er steckte die Zigaretten ein und rief über die Schulter zurück: »Meld dich bei mir, wenn du zurück bist!«
Draußen begegnete Bindig auf dem Weg zu der Baracke, in der sie lagen, Timm.
»Was ist los?« fragte der Unteroffizier. »Du schleichst herum wie der erste Mensch.«
»Nichts«, antwortete Bindig, »es ist nichts zu erfahren.« Timm legte den Kopf schief und kniff ein Auge zu. Dabei sagte er: »Es muß verdammt schnell gegangen sein. Möchte wissen, was aus unserem Haufen geworden ist.« »Gegen Mittag hat man die Kompanie abgezogen.« »Abgezogen?« Timm zog die Augenbrauen hoch. »Du sagst abgezogen?«
Bindig nickte. »Mehr war nicht zu erfahren.« »Hoffentlich haben sie wenigstens unser Gepäck mitgenommen«, sagte Timm. »Hau dich noch eine Stunde hin. Nachher werdet ihr eingekleidet.«
Durch den aufgewühlten Schnee der Landstraße, die Hasel-garten durchquerte, schob sich ein kleiner Personenwagen. Es war ein Jeep, aber er war mit einem Aufbau aus Holzgestänge und Zeltplanen versehen. Die Soldaten, die darin saßen, trugen die olivbraunen Uniformen und die Pelzmützen mit dem fünfzackigen roten Stern. Es waren drei Männer: der Fahrer, der fluchend den Granattrichtern auswich, ununterbrochen Sonnenblumenkerne knackend und die Schalen seitlich aus dem Wagenfenster spuckend, und zwei Offiziere, die hinter ihm saßen, sich an den Griffen festhielten, weil das Fahrzeug schaukelte und schwankte. Der eine von beiden hatte ein schmales, helles Gesicht mit hellen Augen. Die Augenbrauen waren blond. Der andere, ein behäbigerer, untersetzter Typ mit kleinen, runden Augen und sehr dunkler, lederfarbener Haut, schüttelte ärgerlich den Kopf. Er sah seinen Begleiter von der Seite an und erkundigte sich nicht besonders interessiert: »Wie fühlen Sie sich, Genosse, nach so langer Zeit wieder in der alten Familie?«
Der Angeredete lächelte. Es gelang ihm trotz der Kapriolen, die der Jeep vollführte. Dann erwiderte er: »Gut. Ich habe lange auf diesen Augenblick warten müssen.«
Der andere verzog das Gesicht, weil er schmerzhaft mit dem Kopf gegen die Verstrebung des Verdecks gestoßen war. Er griff mit der freien Hand an die Schläfe und brummte unwillig: »Man geht unverletzt aus einer Menge von Kämpfen hervor, aber ein einziger solcher Straßenflitzer kann einem alle Knochen brechen!«
Der Fahrer, der zuweilen einen Fluch losgelassen hatte, sagte nun vernehmlich, so daß die beiden hinter ihm es trotz des Lärms, den der Motor des leichten Fahrzeuges verursachte, hören konnten: »Der Satan soll sie holen! Demolieren die Straße, daß man jeden Augenblick denkt die Achsen brechen! Ich habe es schon immer gewußt: Diese Panzerleute nehmen keine Rücksicht auf das, was hinter ihnen kommt.«
»Auf das, was vor ihnen auftaucht, auch nicht«, beruhigte ihn der untersetzte Fahrgast. »Fahr langsamer, wir wollen mit diesem Auto noch bis Berlin kommen I«
Im Dorf hatte sich kaum etwas verändert. Nur die Uniformen der Soldaten waren anders, und neben den vielen Löchern in der Straße gab es neue in den noch stehengebliebenen Wänden der Häuser. Das Gefecht war vorüber. Im Dorf lagen ein paar Versorgungsein- heiten und Stäbe. Wenige Kilometer westlich hatte die Rote Armee neue Stellungen bezogen. Die Panzer sicherten dort noch, aber man brauchte sie kaum. Es gab keine nennenswerte Konzentration deutscher Truppen auf der Gegenseite, die einen überraschenden Angriff hätten wagen können. Und man hatte das Vordringen nicht gestoppt, weil die Abwehr zu stark war, sondern weil man das befohlene Ziel erreicht hatte. Die Rotarmisten hatten sich eingegraben und ihre Stellungen befestigt. Es war schwer gewesen, in dem gefrorenen Boden ein Schützenloch auszuheben, aber sie hatten es tun können, ohne unter Feuer zu liegen, denn die Panzer waren ein Stück weitergefahren und hatten den Stellungsbau abgeschirmt. Nun war Ruhe eingetreten.
Der untersetzte Mann stieß zum zweitenmal mit dem Kopf an das Eisengestänge des Verdecks. Er gab einen Fluch von sich, über den der Kraftfahrer beifällig mit dem Kopf nickte. Dann rieb er sich ächzend die schmerzende Stelle und sagte: »Himmel, was für ein Krieg! Wenn das bis Berlin so weitergeht, werde ich mit verbundenem Kopf dort ankommen. Wie machen Sie das, Warasin, daß Sie nicht anstoßen?«
Der Angeredete lächelte und sagte: »Sie hätten den Stahlhelm aufsetzen sollen, Genosse Politleiter.«
»Stahlhelm!« fauchte der zurück. »Ich werde nicht im tiefsten Hinterland einen Stahlhelm aufsetzen! Was sollten die Soldaten von mir denken?«
Der Fahrer fragte: »Ist es noch weit?«
»Nein«, gab Warasin zurück, »noch ein paar hundert Meter. Das Gehöft, das Sie da vorn sehen.«
»Die Frau ist die einzige, die von den Deutschen hiergeblieben ist?« fragte der Politleiter.
Warasin nickte.
»Hm…«, machte der andere, »es wird guttun, diese Frau zu sehen und sich dabei vorzustellen, daß sie eine Deutsche ist. Kann man ihr auf irgendeine Weise helfen?«
»Ich glaube kaum«, sagte Warasin. »Es ist eine sehr tatkräftige Frau. Sie wird sich zurechtfinden. Man sollte die Truppen im Dorf trotzdem auf sie aufmerksam machen. Außerdem wäre es gut, wenn man ihr ein paar Lebensmittel geben könnte.«
Der Politleiter faßte vorsichtig an die schmerzende Stelle am Kopf. »So dumm«, brummte er, »morgen ist das eine Beule. Es ist eine Schande! Lebensmittel sind so weit vorn nicht gerade üppig, mein Lieber. Aber wir werden etwas tun. Sie können das selbst tun. Sie werden öfter Gelegenheit haben, sie zu besuchen.«
Warasin schwieg einen Augenblick. Er sah am Kopf des Fahrers vorbei auf die Straße. Dann sagte er: »Ich habe gebeten, zu meiner Einheit zurückkehren zu dürfen. Sie liegt in der neuen Stellung, weiter westwärts.«
Der andere lächelte gemütlich. Er versuchte, Warasin freundschaftlich die Hand auf die Schulter zu legen, aber er zog sie schnell zurück, denn der Wagen rutschte in ein Loch, und er mußte sich festhalten. Als der Wagen wieder ruhiger fuhr, sagte er: »Man behält Sie aus gutem Grund hier im Dorf. Der Stab wird Sie brauchen. Nicht jeder hat so lange hinter den deutschen Linien gelebt. Und diese Stellung da vorn… Reden wir nicht davon, sie wird nicht alt werden.
Wir haben jetzt eine sehr gute Ausgangsposition. An dieser Stelle hier haben wir eine kleine Beule in die Front getrieben. So eine Beule, wie ich sie morgen früh an meinem Kopf haben werde. Aber diese Beule in der Front ist entscheidend. Ich wette, die Deutschen haben das noch gar nicht begriffen…«
Warasin blickte unbewegt geradeaus. Dabei sagte er leise: »Ich habe immer an der Front gekämpft. Warum soll ich das nun nicht mehr tun können? Es war meine Hoffnung, es hat mich aufrechterhalten. Oder meinen Sie, es wäre mir leichtgefallen, diese lange Zeit den Taubstummen zu spielen und nichts zu tun?«
»Warten Sie«, war die Antwort. »Sie werden früh genug wieder eine Kompanie führen. Es ist noch Zeit. Wenn wir erst marschieren, dann werden Sie Ihren Wunsch erfüllt bekommen. Im Augenblick braucht man Sie hier. Gedulden Sie sich.«
Während das Fahrzeug langsam weiterschaukelte, erkundigte sich der Politleiter leise, so daß der Fahrer es nicht verstehen konnte: »Ich habe nur eine Frage noch an Sie, Genosse Warasin. Es ist eine Angelegenheit, über die man nicht so fragen kann wie über andere Dinge. Man muß dabei…« Er griff sich ans Kinn und massierte dort einige Zeit die blaurasierte Haut.
Warasin blickte ihn erwartungsvoll an. »Sprechen Sie!« forderte er ihn auf.
Der andere zeigte ein ernstes Gesicht. Er sah angestrengt auf die Knöpfe seines Mantels und fragte dann: »Die… diese Frau, zu der wir fahren… Verstehen Sie mich richtig, haben Sie… sind Ihre Beziehungen in Anbetracht der…«
»Gestatten Sie«, unterbrach ihn Warasin ruhig, »das ist leicht zu beantworten. Die Frau hat mich bei sich untergebracht. Sie hat einen ehrlichen Charakter und ist keine Faschistin. Sie ist auch keine Kommunistin. Aber ich bin Kommunist. Ich habe eine Frau, die ebenfalls an der Front steht. Und ich bin nicht der Mann, der aus unserem Kampf ein galantes Abenteuer macht. Wenn das Ihre Frage beantwortet…«
»Danke«, sagte der andere, »verzeihen Sie. Ich mußte Sie danach fragen. Es ist meine Pflicht.«
»Ich verstehe«, erwiderte Warasin. »Ihre Frage ist mir nicht unangenehm gewesen. Ich habe nichts zu verbergen.«
Während Warasin schwieg, sagte der andere: »Man lernt die Deutschen immer besser kennen. Eine Frau wie diese wird man achten müssen. Warum mag sie das alles getan haben?«
Warasin biß sich auf die Lippen. Er hatte nichts zu verbergen. Aber er hatte doch nicht alles vor dem Genossen ausgebreitet, was sich abgespielt hatte, während er hinter der Front der Deutschen lebte.
Er hatte Bindig verschwiegen, er wußte selbst nicht, weshalb eigentlich. Er hatte nichts zu verbergen. Auch nicht seine Begegnung mit Bindig. Aber er hatte sie verschwiegen, und das begann ihn schon jetzt zu quälen.
Während er auf die Straße blickte, hörte er neben sich den anderen sagen: »Noch einen Monat vielleicht, dann werden wir marschieren. Rollen werden wir. Sie werden eine neue Kompanie führen. Den Rest Ihrer alten Leute hat man aufgeteilt. Und was für ein Deutschland werden wir vorfinden? Was für ein Deutschland wird das sein, nach dem, was wir allein in diesem einzelnen Falle für Erfahrungen machen?«
Als der Wagen mit einem Ruck vor dem Gehöft hielt, erhob sich der Politleiter ächzend. Während er ausstieg, sagte er zu dem Fahrer: »Du hast meine Gesundheit auf dem Gewissen! Nur ein halber Mensch bin ich noch nach dieser Schaukelei. Komm mit und wärm dich ein bißchen auf. Damit du auf dem Rückweg besser den Löchern ausweichen kannst!«
Anna stand vor der Tür. Sie hatte das Fahrzeug kommen hören. Sie kam den Männern einen Schritt entgegen, und als Warasin die Hand an die Pelzmütze legte, sagte sie leise: »Georgi, mein Gott, ich kann das noch gar nicht glauben. Bleibt ihr jetzt, oder müßt ihr wieder zurückgehen?«
»Wir bleiben«, sagte Warasin lächelnd, »wir werden nach Westen marschieren. Zurückgehen werden wir nicht mehr.« Er deutete auf den anderen und sagte: »Ich möchte Ihnen den Politleiter meines Regiments vorstellen, Anna. Er ist das, was man in Deutschland einen Kommissar nennt. Er ist gekommen, um die Frau zu sehen, die der Roten Armee einen Offizier erhalten hat. Es ist der Genosse Balaschow.«
Sie tauschte einen Händedruck mit dem kleinen, untersetzten Mann im braunen Mantel. Dann trat sie beiseite und wies ins Haus. »Kommen Sie«, forderte sie die Soldaten auf, »ich habe etwas warmen Kaffee auf dem Herd, Gerstenkaffee. Ich hoffe, Sie trinken ihn…«
Sie hockten auf Bänken in einem Raum, vor dem ein Posten stand. Sie durften den Raum verlassen, aber sie durften sich nicht auf dem Flugplatz sehen lassen. Kein anderer als sie durfte den Raum betreten. Von hier aus würden sie, wenn die Maschine bereitstand, zum Einstieg marschieren. Es würde dunkel sein, und keiner würde sie sehen. Wahrscheinlich würde nicht einmal der Pilot sie sehen, weil das Schott zwischen der Pilotenkabine und dem Laderaum des Flugzeuges geschlossen sein würde.
Sie waren sechzehn Soldaten, und wenn sie so, wie sie jetzt aussahen, über den Flugplatz gegangen wären, hätte jeder Posten vermutlich ohne Anruf auf sie geschossen. Sie waren in die erdbraunen Uniformen der Roten Armee gekleidet. Es fehlte nichts an diesen Uniformen, weder die breiten Schulterstücke noch der rote Stern.
Die Uniformen waren nicht neu. Es gab eine Menge Flecke auf dem Tuch, Ölflecke, Schmutz und getrocknetes Blut. An mancher Uniform waren die Löcher der Schüsse, die den letzten Träger getötet hatten, noch nicht gestopft.
Die Männer achteten kaum darauf. Es war die stumpfe, spannungsgeladene Stunde vor dem Start. Es war die Zeit, da die Uhren zu stehen schienen. Die fünf Russen, die in einer Ecke beisammen saßen, stierten schweigend auf den Fußboden. Sie hatten, seit sie mit den anderen zusammen in diesem Raum hockten, noch kein Wort gewechselt.
Zado beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Als er aufblickte, merkte er, daß Bindig, der neben ihm saß, ebenfalls zu den Russen hinübersah. Er stieß ihn an.
»Du…«, sagte er leise, »ich möchte wissen, was die jetzt denken.«
Die anderen Fallschirmjäger dösten vor sich hin oder spielten Karten. Sie stritten sich über die Haarfarbe irgendeines Weibes, einer gemeinsamen Bekannten, rauchten nervös oder bissen von der Schokolade ab, die sie mitbekommen hatten. Timm lag ausgestreckt auf der Bank, den Kopf gegen die Wand gestützt, und schien zu schlafen.
»Ob sie überhaupt denken?« fragte Bindig.
Zado bewegte die Schultern. Während er nach einer Zigarette griff, sagte er nachdenklich: »Ich glaube, sie denken. Was denkst du? Anna?«
»Hör auf davon«, antwortete Bindig nach einer Pause, »ich denke darüber nach, was daraus werden soll.«
»Woraus?«
»Daraus!« sagte Bindig und deutete mit einer Handbewegung auf die Uniform. »Daraus und aus dem, was kommt.«
Zado verzog das Gesicht. Es bekam einen weichen Zug, der nicht mehr zu der Schärfe seines Profils paßte. Er legte ganz langsam eine Hand auf Bindigs Knie und sagte: »Junge, hör auf zu denken. Es ist zu spät zum Denken.«
Der Obergefreite, dem die halbe Kiste mit dem Bols gehörte, schlug sich krachend auf die Schenkel. »Hab ich’s doch gewußt, daß ich heute gewinne! Wie immer! Kurz vor dem Abkratzen verspielt ihr Scheiche euer Geld an mich, und wenn ich kassieren will, seid ihr krepiert! Diesmal wird vorher bezahlt!«
Bindig schüttelte den Kopf. Er hatte die Pelzmütze verwegen schief aufgesetzt. Man konnte ihn für einen unternehmungslustigen Rotarmisten halten. Aber sein Gesicht paßte nicht zu diesem Eindruck. »Es gefällt mir nicht«, sagte er, »keiner soll von mir verlangen, daß mir das gefällt.«
»Sie haben keinen gefragt, ob es ihm Spaß macht«, knurrte Zado, »oder kannst du dich an so was erinnern?«
»Zweimal As!« rief der Eigentümer der Bolskiste. »Runter mit den Hosen!«
»Wenn so der Krieg aussieht, dann bin ich nicht mehr dafür zu gebrauchen«, sagte Bindig zu Zado.
Der schnaufte unwillig. »Gib dich zufrieden. Es ist scheißegal, in welcher Uniform man krepiert.«
»Aber ich sage dir, wir sind keine Soldaten mehr«, erklärte Bindig, »wir sind Gauner. Mit dieser Uniform auf dem Leib sind wir nicht mehr Soldaten, sondern Gauner.«
»Und ich sage dir: Hör auf nachzudenken! Du bekommst unsichere Hände davon. Unsereiner stirbt daran.«
»Wir sollten das nicht machen«, sagte Bindig gedämpft, »es ist nicht zu verantworten.«
»Du tust, als ob du es zu verantworten hättest. Wer hat die Idee ausgeknobelt? Wir oder der Stab?«
»Noch eine!« schrie der Obergefreite. »Immer noch eine! Papa holt dich schon heim von der Hochzeit!«
»Es widert mich an«, sagte Bindig, »es hat mich noch nie so angewidert wie jetzt.«
Zado schüttelte den Kopf. Dabei sagte er leise: »Jesus Maria, wenn du doch bloß einsehen würdest, daß sich niemand dafür interessiert. Du hast nur eins zu tun, nämlich das, was Timm befiehlt. Mehr nicht. Du hast weder die Verantwortung für irgendetwas, noch interessiert es jemand, ob du unglücklich bist oder nicht. Wenn du doch das bloß einsehen würdest.«
»Was macht man bei uns mit einem Russen, den man hinter unserer Front in deutscher Uniform aufgreift?« fragte Bindig.
Zado bewegte müde die Hand. »Friß deine Schokolade und denk nicht darüber nach. Oder hast du Angst?«
»Ist das Angst, wenn ich sage, daß ich es für eine Gaunerei halte?«
»Sie würden es dir als Angst auslegen. Und du könntest noch froh sein, wenn sie nur das täten und nicht sagten, es sei Hochverrat.«
»Es ist keine Angst.«
»Nein. Vielleicht Dummheit.«
»Zado«, sagte Bindig, »du kannst mir nicht erzählen, daß es dir nichts ausmacht. Ich weiß, was du denkst. Du brauchst mir nichts zu sagen, ich weiß genau, was du denkst.«
»Auf den Tisch deine lumpigen drei Könige!« brüllte der Obergefreite. »Los, los! Das kostet was!«
»Denken ist für uns ein unerlaubter Luxus«, sagte Zado. Er brannte eine neue Zigarette an und stieß nachdenklich den Rauch aus, den Spiralen nachblickend, die er in der stickigen Luft zog. »Ich dachte immer, du hättest dich ebenso daran gewöhnt wie ich. Was willst du? Ich weiß alles, aber was willst du? Wir stecken drin und müssen weitermachen. Das ist die Chance durchzukommen. Alles andere, was du tust, verhilft dir nur dazu, todsicher zu krepieren. Durch die Feldgendarmerie, bei den Minenlatschern oder sonstwo. Kannst du mir da sagen, wozu man nachdenken soll?«
»Kinder, zieht Karten!« grölte der Obergefreite. »Es sind noch zwei Asse in dem Haufen! Es ist noch alles zu gewinnen!«
»Verstehst du das?« fragte Zado. »Ich bin darüber hinweg. Es gibt keinen Ausweg außer dem, daß du drüben bleibst. Und davor habe ich Angst.«
»Angst?«
»Ja. Angst davor, daß sie mich nach Kriegsrecht erschießen, wegen dieser Uniform. Und ebensoviel Angst davor, daß sie es nicht tun. Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Aber das ist nicht nötig. Nur eins ist nötig: Du mußt begreifen, daß wir eine Generation von Jawohlsagern sind, die sie langsam zu Dünger verarbeiten. Unsere einzige Chance ist, es zu überstehen. Dann werden wir das Maul aufmachen können. Vielleicht. Aber das ist nicht gewiß…«
»Wir sind Feiglinge«, sagte Bindig, »das ist gewiß.«
»Schnauze halten!« brüllte Timm plötzlich. Er richtete sich ein wenig auf und zog die Stirn in Falten. »Macht euren verfluchten Krach sonstwo! Schlaft euch lieber aus!«
Er ließ den Kopf wieder sinken, und die Kartenspieler spielten weiter Siebzehn-und-vier. Sie sprachen etwas gedämpfter dabei. Die Russen zündeten Zigaretten an. Sie hatten etwas Unheilvolles, Ängstliches in ihren Gesichtern.
»Wir Feiglinge«, sagte Zado bitter, »wir großen Feiglinge werden ihnen heute oder morgen nacht wieder ein Ding drehen, genau wie sie es haben wollen.«
»Eben deshalb«, sagte Bindig. »Ich weiß es jetzt. Weil wir zu feige sind, es nicht zu machen, tun wir es. Wir beide. Wir wissen genau, was los ist, aber wir sitzen hier und warten auf Timms Befehle. Das ist es.«
»Was werde ich froh sein, wenn ich diesen lebensgefährlichen Unsinn hinter mir habe«, sagte Zado düster, »was werde ich froh sein! Vom ersten besten Zirkus lasse ich mich anstellen. Als Beleuchter meinetwegen. Oder als Stallreiniger. Ist egal, wenn ich das alles bloß hinter mir habe…«
Ein Posten steckte den Kopf durch die Türöffnung. Er sagte ihnen, daß sie sich fertigmachen sollten, weil in einer halben Stunde die Maschine starten würde.
Aber sie waren fertig, und es gab nichts mehr zu tun für sie. Sie hatten alles empfangen, was zu empfangen war. Waffen, Sprengladungen, Handgranaten, Brandladungen. Sie hatten weißes Zeug an den Koppeln hängen, und sie würden es überziehen, wenn es erforderlich war. Sie brauchten nur ihre Schirme zu nehmen und in einer Reihe zum Flugzeug zu marschieren. Es war das letzte, was sie zu tun hatten.
Timm erhob sich und rückte sein Koppel zurecht. Er sah verwegen aus in der Rotarmistenuniform.
»Auf, Jungens«, rief er, »es wird ernst!«
Er wartete einen Augenblick, bis es still geworden war. Dann sagte er knapp: »Jungens, wir gehen jetzt ’rüber, um ihnen zu zeigen, was wir können. Keiner weiß, wie es ausgeht. Jeder von uns kann fallen. Aber das ist gleichgültig. Wir haben eine schwierige Aufgabe, die viel von uns verlangen wird. Aber wir haben die letzten Tage hart trainiert. Wir haben so hart trainiert, daß einige von euch noch Binden um die Knie tragen. Mit der gleichen Härte werden wir unseren Auftrag erledigen. Jeder, der hart ist, wird zurückkommen, denkt daran. Wir werden ihnen zeigen, daß wir ebensogut schlagen können, wie das Heer laufen kann. Wetzt die Messer, Jungens, heute nacht bleibt keiner am Leben, der uns in die Finger läuft! Heute nacht wird der Schnee blutig! Auf, macht euch fertig!«
Die Kartenspieler steckten ihre Karten weg. Der Obergefreite hielt mißtrauisch den Zettel gegen das Licht, auf dem er seine Gewinne notiert hatte. Die Russen erhoben sich und fingerten an ihrer Ausrüstung herum.
»Das ist es«, sagte Zado leise zu Bindig, »immer, wenn er so anfängt, ist alles vergessen. Dann merke ich, was sie aus mir gemacht haben. Dann ist Klaus Timm mein bester Kamerad, und ich spüre den Luftzug an der Kabinentür und den Ruck, wenn die Leine anzieht, und den, wenn der Schirm sich öffnet. Dann fühle ich, wie die Maschinenpistole in der Hand zuckt, und ich möchte laut schreien. Ich höre alle Kommandos, und ich sehe uns in Kreta durch das Gebirge klettern, mit aufgekrempelten Ärmeln, die Zigarette im Mundwinkel. Ich sehe alle Mädchen, die uns jemals gewinkt haben – ach, was sind wir doch für Jammerlappen !«
Es flog nur eine Maschine. Sie saßen sehr eng darin. Einer war gegen den anderen gepreßt, und jeder von ihnen hatte den Gedanken: Wenn sie uns zurückholen, werden wir nicht so dicht sitzen.